Travel Sketching
Sieben Sachen und die Entdeckung der Langsamkeit

Eine langsamere, intensivere Art der Erinnerung: Travel Sketchers greifen zu Pinsel und Papier, um ihre Reiseeindrücke festzuhalten.
Eine langsamere, intensivere Art der Erinnerung: Travel Sketchers greifen zu Pinsel und Papier, um ihre Reiseeindrücke festzuhalten. | Foto (Detail): © Jens Hübner

Reiseerinnerungen jenseits der Selfie-Flut: Während die einen von jedem Urlaub unzählige Handyfotos mit nach Hause bringen, greifen Travel Sketchers zu Pinsel und Papier, um ihre Eindrücke festzuhalten.

Sieben Sachen, sagt Jens Hübner, sollte man immer dabei haben: Einen Bleistift, einen Radiergummi, einen Spitzer, ein Skizzenbuch, einen Pinsel, einen kleinen Aquarellkasten und eine Klammer. Mehr brauche es nicht, um bereit zu sein, wenn sich unterwegs eine Gelegenheit biete. Jens Hübner, der sich selbst als Reisezeichner bezeichnet, weiß, dass sich so eine Gelegenheit überall bieten kann. Egal, ob man gerade irgendwo auf den Bus wartet oder mit dem Rad durch den Sudan fährt.

Jens Hübner zeichnet überall – sei es vor dem Hauptportal des Kölner Doms oder auf Reisen in der Wüste.
Jens Hübner zeichnet überall – sei es vor dem Hauptportal des Kölner Doms oder auf Reisen in der Wüste. | Foto: © Jens Hübner

Vor 15 Jahren gab der Diplom-Designer sein Büro in Berlin auf, um mit dem Fahrrad auf Weltreise zu gehen. „Eigentlich hatte ich nicht geplant, diese Reise zum Zeichnen und Malen zu nutzen“, sagt er. Doch nach zwei Jahren kam er mit mehr als 200 Reiseaquarellen zurück nach Deutschland. In Tschechien zückte er sein Skizzenbuch, als ein Wildschwein vor seinem Zelt auftauchte. Und so ging es weiter auf Hübners Reise, die ihn unter anderem nach Afrika und Indien führte, wo er seine Bilder sogar in einer Ausstellung präsentierte. Die Kombination aus Reisen und Malen hat Jens Hübner danach zu seinem Beruf gemacht, wobei es ihm auch darum geht, sein Wissen weiterzugeben. Er bietet auf der ganzen Welt Workshops und Malreisen an, daneben schreibt er Anleitungsbücher.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Dass sich immer mehr Menschen dafür interessieren, mit ihrem Skizzenbuch auf Reisen zu gehen, erklärt sich Jens Hübner damit, dass das Selbermachen in den letzten Jahren zum Trend geworden ist. Für ihn ist das Travel Sketching, wie man auf Englisch sagt, ein Mittel, um die Eindrücke, die er auf seinen Reisen sammelt, zu verarbeiten. Das Zeichnen sieht er als langsamere, intensivere Art der Wahrnehmung: Es ist eine Möglichkeit, der Bilderflut der heutigen Zeit etwas entgegenzusetzen. 
 
Fotos sind vor allem mit dem Handy schnell gemacht, aber sie sind manchmal genauso schnell wieder vergessen. Nicht selten hat man nach einem Urlaub Hunderte Bilder auf dem Smartphone oder der Kamera, aber keine Zeit, sie sich anzusehen. Wer hingegen unterwegs nach Motiven für Skizzen Ausschau hält, wählt mit Bedacht aus. Und wer dann einige Minuten in eine Zeichnung investiert, kann sich später besser an die Situation erinnern. Bei manchen Travel Sketchers wird das Skizzenbuch regelrecht zum Reisetagebuch. Mit kunstvoll gestalteten To-do- und Packlisten kann die Dokumentation bereits vor der Reise beginnen. Auch ein Ort wie ein Flughafen bietet erste Motive. Ergänzende Notizen oder eingeklebte Restaurantrechnungen können aus Reiseskizzen Collagen voller Erinnerungen machen.
 
Im französischen Clermont-Ferrand findet bereits seit mehr als 20 Jahren die Messe „Rendez-vous du Carnet de Voyage“ statt, auf der rund 100 internationale Künstler*innen ihre Reisetagebücher zeigen. Doch die Tradition des Travel Sketching geht noch viel weiter zurück, denn schon Johann Wolfgang von Goethe fertigte auf seinen Reisen Zeichnungen an. Noch länger gibt es die Freilichtmalerei: Leonardo da Vinci malte bereits im 15. Jahrhundert bei natürlichem Licht. Ihren Höhepunkt erlebte die Malerei „en plein air“ im 19. Jahrhundert mit dem französischen Impressionismus.

Der Tiber in Rom: Schon Johann Wolfgang von Goethe fertigte auf seinen Reisen Zeichnungen an.
Der Tiber in Rom: Schon Johann Wolfgang von Goethe fertigte auf seinen Reisen Zeichnungen an. | Foto: © picture-alliance/akg-images

Vom Skizzenblock ins Netz

Unter Hashtags wie #pleinair, #travelsketch oder #urbansketching präsentieren heute Menschen, die unterwegs zeichnen oder malen, ihre Werke. Vor allem für die Bewegung der Urban Sketchers sind soziale Medien wie Instagram oder Facebook wichtig. 2007 wurde die Gruppe von Gabriel Campanario, einem in Seattle lebenden Journalisten und Illustrator, auf der Plattform Flickr gegründet. Seitdem sind die Urban Sketchers, die jährlich internationale Symposien mit bis zu 1000 Teilnehmer*innen veranstalten, stark gewachsen. Auf der ganzen Welt gibt es heute regionale Gruppen. Die deutschsprachige Facebook-Gruppe etwa hat rund 3700 Mitglieder. Für viele von ihnen ist das Zeichnen ein schönes Hobby, aber es sind auch professionelle Künstler*innen dabei. Die meisten kommen laut Omar Jaramillo, einem der Gründer der deutschen Urban Sketchers, aus dem Bereich der Illustration oder sind, wie er, Architekt*innen.
 
„Oft wird Urban Sketching als analoge Tätigkeit gesehen, aber die Wahrheit ist, dass es mit den sozialen Medien stark verbunden ist“, sagt Jaramillo. Dies ist sogar im Manifest der Urban Sketchers verankert, in dem steht, dass die Mitglieder ihre Zeichnungen online veröffentlichen. Mit Skizzenbuch, Bleistift und Aquarellfarben wollen sie die Geschichte eines Ortes erzählen und zeigen, was sie sehen. 
 
Diesen fast schon journalistischen Anspruch gibt es beim Travel Sketching weniger, bei dem es auch erlaubt ist, Fotos als Vorlage zu nutzen oder ein Bild im Hotel fertig zu malen. Dennoch sind die Gemeinsamkeiten zwischen Urban und Travel Sketching sehr groß. Denn Urban Sketchers zeichnen zwar viel in der eigenen Stadt, aber auch auf Reisen. Und gerade in Pandemie-Zeiten merken auch passionierte Travel Sketchers, dass es vor der eigenen Haustüre ebenfalls viel zu entdecken gibt. „Ich zeichne überall“, sagt der Reisezeichner Jens Hübner, der seine schönsten Zeichen-Momente aber in der Wüste hatte. „Wo es nur Licht und Dünen gibt, kann man sich auf sich selbst besinnen.“

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