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Berlin, Berlin
In diesem Jahr gibt es in der Programmauswahl gleich mehrere Filme, in denen Berlin die Hauptrolle spielt. Was erzählen diese Filme über Berlin – oder was erzählt Berlin den Zuschauer*innen?
Gabriele Magro - Italien: Dass Berlin in vielen der Filme eine Hauptrolle spielt, ist ein deutliches Signal dafür, wie stark die Verbindung zwischen dem Festival und der Stadt ist. Zahlreiche andere internationale Festivals rund um den Globus finden in eher kleinen Städten statt und werden nicht von vielen Ortsansässigen besucht. Die Berlinale aber hat eine ganz eigene Identität und scheint die perfekte Balance zwischen „global“ und „Kiez“ gefunden zu haben – Berliner*innen stehen mit Tourist*innen und Fachleuten aus der ganzen Welt Schlange vor den Kinosälen. Das schafft ein starkes Gemeinschaftsgefühl und die besondere Berlinale-Atmosphäre, die wir alle so lieben.
Ieva Šukytė - Litauen: Christian Petzolds Film Undine ist eine Liebeserklärung an die Stadt. Die Figur von Paula Beer arbeitet als Museumsführerin im Berliner Stadtmuseum und erklärt den Besucher*innen die komplexe und lange Geschichte der Stadt. Petzold verlagert den alten Mythos der Undine in die Stadt und erzählt eine Liebesgeschichte – zwischen zwei Menschen und bezogen auf die Stadt Berlin. Berlin, Alexanderplatz dagegen zeigt die andere Seite des heutigen Berlins, in dem Menschen ohne Pass keine legale Arbeit finden, ihr Überleben als Drogendealer sichern müssen und mit der Tatsache konfrontiert werden, dass sie von der Mehrheit der Gesellschaft nicht als gleichwertige Menschen betrachtet werden.
Erick Estrada - Mexiko: Berlin ist eine Stadt im ständigen Wandel, mit vielen Höhen und Tiefen, Farben und Grautönen, Geschichten und Bildern, wie jede große, lebendige und interessante Stadt der Welt. Die Filme erzählen von neuen Zeiten, die in enger Beziehung zu den alten Zeiten stehen. Man könnte an besondere Geister aus der Vergangenheit denken, die noch in einer Stadt leben, welche aber schon auf dem Weg in ihre eigene Zukunft ist. Berlin in so vielen verschiedenen Filmen zu sehen, verschafft eine gute Vorstellung davon, wie viel Inspiration in diesen Straßen zu finden ist.
Sarah Ward - Australien: Eine der großen Freuden Berlins besteht darin, dass es, wie die anderen großen, florierenden und geschäftigen Städte der Welt – Tokio und New York zum Beispiel – für unterschiedliche Menschen stets unterschiedliche Bedeutungen hat. Es ist die natürliche Vielfalt Berlins, die bei den Filmvorführungen auf der Berlinale 2020 hervortritt: sei es als Darstellung eines Lebens, nach dem Nina Hoss' unglückliche Figur sich in dem schön gespielten und gedrehten, aber dramaturgisch klischeehaften Film Schwesterlein zurücksehnt, oder als Spiegel einer Gegenwart, die der Vergangenheit nicht entkommen kann, wie in Christian Petzolds faszinierendem Film Undine (mit deutlich mehr Betonung der städtischen Architekturgeschichte, als man bei einem Filmfestival erwarten würde).
Javier H. Estrada - Spanien: Meiner Meinung nach glänzte die Darstellung der Stadt besonders in Christian Petzolds Undine, einem Film, der die Geschichte und den Aufbau Berlins reflektiert. Die Hauptfigur, eine bei der Stadtplanung angestellte Historikerin, zeigt den ausländischen Besucher*innen, wie die Verantwortlichen den Ort konzeptionell gestaltet haben, um ihm sowohl im westlichen als auch im östlichen Teil eine Identität zu geben. Außerdem bewegt sich der Film bis an den Stadtrand von Berlin und zeigt die große Vielfalt der Landschaften und Farbtöne der Stadt.
Yun-hua Chen - China: Berlin in Berlin, Alexanderplatz ist ein Ort der Verzweiflung und der Hoffnung, der Gewalt und der Liebe, des Kampfes und der Erlösung. Es ist ein Ort, an dem bestimmte Gruppen und Gemeinschaften für die Mainstream-Gesellschaft unsichtbar erscheinen mögen, aber sie alle streben danach, sich ein eigenes Leben aufzubauen und ihre Nische in der Stadt zu finden. Es ist auch ein Ort, an dem alles in einer Techno-Party endet. Du bekommst einen Job in der Gang des Drogenbarons? Zieh durch die Clubs. Du erholst Dich nach einer Amputation? Zieh durch die Clubs. Du hast Dir eine silberne Kanone gekauft, die Bargeld ausspuckt? Zieh durch die Clubs!
Michal Zielinski - Polen: Ich habe auf der Berlinale zwei Erfahrungen gemacht, die mir noch immer im Gedächtnis sind. An einem der Festivaltage traf ich einen halb-deutschen, halb-peruanischen Produzenten, der gerade in Zusammenarbeit mit ungarischen Künstler*innen einen Science-Fiction-Film im japanischen Manga-Stil entwickelt. „Okay, ich bin definitiv in Berlin“, dachte ich. Einer der kosmopolitischsten Städte der Welt. Zwei Tage später sah ich den Film Purple Sea – das Smartphone-Material eines syrischen Flüchtlingsmädchens, gefilmt, während sie auf einem sinkenden Schmugglerboot auf dem Weg nach Europa um ihr Leben kämpfte. Berlin kam ein paar Mal zur Sprache. Als ein Traumland, ein Ort der Liebe und des Glücks. Lasst es uns festhalten: Wir sind die Glücklichen in der glücklichen Stadt.
Anjana Singh - Indien: Berlin steht für Diversität, Offenheit, Freiheit, Multikulturalität und ist zugleich der politische Mittelpunkt des Landes. Gerade in multikulturellen Städten wie Berlin spürt man den ständigen und konfliktbehafteten politischen, gesellschaftlichen und sozialen Wandel. Der Film Berlin, Alexanderplatz hat mich bewegt; er zeigt die Geschichte des 30-jährigen Francis aus Guinea-Bissau. Sein Schicksal führt ihn zeitweise ins Gefängnis. Auch in einer Stadt wie Berlin ist es sehr schwer für Neuankömmlinge, Fuß zu fassen. Historisch steht Berlin für den Wandel zum demokratisch Guten, zeigt aber oft noch die Mauer in den Köpfen der Menschen; es ist noch viel Platz für ein gesellschaftliches Zusammenwachsen.
Egor Moskvitin - Russland: Diese Berlinale ist für mich persönlich anders als die vorherigen, denn seit Kurzem laufe ich täglich. Und da der Festivalplan ziemlich stressig ist, mache ich meine Läufe manchmal nach Mitternacht und manchmal bei Sonnenaufgang. Wie anders kann doch die Stadt wirken, wenn man mitten in der Nacht über den Alexanderplatz läuft, nur wenige Stunden, nachdem man die neue Adaption des Films Berlin, Alexanderplatz gesehen hat! Und da dieser Film die Aktualisierung einer fast 90-jährigen Geschichte ist, muss ich daran denken, wie auf der Berlinale 2019 ein Remake von M – eine Stadt sucht einen Mörder gezeigt wurde. Beide Aktualisierungen klassischen Materials erinnern uns an die Macht der Vergangenheit, die Zukunft zu definieren. Undine setzt sich mit dem gleichen Thema auseinander. Der Film ließ mich daran denken, wie die urbane Erfahrung persönliche und nationale Erfahrungen prägt – und dafür bin ich dankbar.
Hyunjin Park - Korea: Von den drei Filmen, die in Berlin spielen, war die Sichtweise auf die Stadt in Undine beeindruckend. Die Geschichte des Aufbaus Berlins, beschrieben von der weiblichen Hauptfigur, einer promovierten Historikerin, gab uns eine neue Vorstellung von der Interaktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Für mich ist Berlin eine faszinierende Stadt, eine Mischung aus Vergangenheit und einer dynamischen Gegenwart, die man immer im Blick haben sollte.
Andrea D'Addio - Italien: Die zentrale Eigenschaft Berlins besteht darin, dass jeder Mensch dieselbe Stadt anders erleben kann – und das immer auf authentische Weise. Dies zeigen auch die Filme im Festivalwettbewerb. Berlin ist die Hölle für den illegal in der Stadt lebenden Protagonisten von Berlin, Alexanderplatz. Und, wie wir in Undine sehen, ist Berlin immer noch eine Stadt, die zwischen Ost und West hin- und hergerissen ist, auch wenn diese Ambivalenz nun auf die Zukunft projiziert wird. Die Stadt fungiert als eine Open-Air-Kulisse, in der jede*r Regisseur*in und Drehbuchautor*in die Geschichten und Schauplätze finden kann, die sie oder er sucht.
Camila Gonzatto - Brasilien: Berlin ist eine diverse Stadt, und die Filme geben dies wieder. Obwohl in heutiger Zeit angesiedelt, zeigen zum Beispiel Berlin Alexanderplatz oder Undine sehr unterschiedliche Aspekte der Stadt. Während Undine ein fast traditionelles Berlin inszeniert, mit seinen Museen und historischen Gebäuden, bringt Berlin Alexanderplatz etwas vom Underground-Charakter der Stadt zum Vorschein. Was man in beiden Filmen erkennt, sind Baustellen – ein Charakteristikum dieser Stadt, die sich ununterbrochen neu erfindet. In Die letzte Stadt sieht man das Blühen der DDR-Architektur, die noch überall in der Stadt präsent ist. Berlin kann also Bühne der unterschiedlichsten Erzählungen sein, genau wegen der unterschiedlichen historischen Schichten, die nach wie vor in der Stadtlandschaft präsent sind. Die ständigen Veränderungen, die diese Stadt durchläuft, können die Spuren ihrer Vergangenheit nicht völlig auslöschen.
Philipp Bühler - Deutschland: Mit der Neuverfilmung Berlin, Alexanderplatz hat Burhan Qurbani ein starkes Statement gesetzt: Aus Alfred Döblins Franz Biberkopf, einer zentralen Figur der Weimarer Literatur, wird ein afrikanischer Flüchtling des Jahres 2020. Trotz enormer Stilisierung steckte darin viel Wirklichkeit. In Christian Petzolds Undine war es eher umgekehrt, trotz nüchterner Inszenierung und Exkursen in die Berliner Stadtgeschichte behält der romantische Mythos seine Märchenhaftigkeit. Einen Film, der das Bild der Welt von Berlin einmal prägen wird, wie in den Neunzigern Lola rennt, habe ich aber nicht gesehen.
Jutta Brendemühl - Kanada: Man weiß, dass man sich im Herzen Europas befindet, wenn eine Italienerin und eine Niederländerin uns einladen, Berlin auf der Leinwand zu sehen, darunter ein US-Regisseur, welcher der Mauer in The American Sector nachspürt. Die Berlinale 2020 hat uns viele verschiedene „Berline“ gezeigt: Undine, ein wässriges, magisches Berlin (und seine Geschichte); Berlin Alexanderplatz wurde zu Berlin Hasenheide. Hoss und Eidinger umkreisten ihre Schaubühne in Berlin-Charlottenburg. Kein Bedarf an Ersatz-Stadtlandschaften, wie Toronto oder Montreal für New York. Berlin bleibt schließlich Berlin, wie es in dem alten Song heißt.