Digitale Grundrechte
„Politisch ist die Diskussion notwendig“

Die Gesellschaft hat sich verändert.
Die Gesellschaft hat sich verändert. | Foto (Ausschnitt): © bluraz - Fotolia.com

Schützen unsere Grundrechte den Menschen auch im digitalen Zeitalter? Digitalexperten aus Deutschland haben versucht, darauf eine Antwort zu finden – mit der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union. Ein Gespräch mit Mitinitiator Wolfgang Kleinwächter.

Herr Kleinwächter, warum brauchen wir digitale Grundrechte?

Die Welt, in der wir leben, hat sich geändert. Im digitalen Zeitalter wird vieles, was wir für sicher gehalten haben, in Frage gestellt. Daher muss man sich vergewissern, inwiefern die Grundrechte auch für das digitale Zeitalter gelten und wo es einen erweiterten Interpretationsbedarf gibt.
 
Die Frage ist also: Schützen uns die EU-Grundrechte auch in Zeiten von Big Data, sozialen Netzwerken und Algorithmen vor Bedrohungen wie Überwachung und Zensur? Kritiker der Digitalcharta sagen: Ja, man muss sie nur entsprechend anwenden.

Die bestehenden Grundrechte schützen den Freiraum des Einzelnen vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt. Das ist gut, doch es genügt nicht. Wir merken gerade, dass im Zeitalter einer entgrenzten, technisch gestützten und wirtschaftlich vermarktbaren Kommunikation der Nationalstaat nicht allmächtig ist, um die Freiheiten auch umfassend zu garantieren. Private Unternehmen wie Facebook managen viele Komponenten der Kommunikation. Das hat Auswirkungen auf individuelle Rechte wie Meinungsfreiheit und Datenschutz. Der Digitalcharta-Entwurf geht daher über bestehendes Recht hinaus: Wir wollen auch private Unternehmen in die Pflicht nehmen, wenn es um den Schutz der Grundrechte geht. 

Innehalten und prüfen

Aber Facebook und Co. haben doch längst ihre eigenen Spielregeln geschaffen!

Unsere Gesellschaft ist in Nationalstaaten mit eigener Jurisdiktion organisiert. Der Cyberspace kennt keine Staatsgrenzen. Das macht die Situation kompliziert und erzeugt Spannungen, die nur durch ein enges Zusammenwirken von den Machern von ‚Code‘ und ‚Recht‘ gelöst werden können. In den vergangenen Jahren bestand Konsens darüber, dass das Internet durch strenge Regulierungen nicht ‚stranguliert‘ werden darf. Ein bürokratisches Monster aus Zensur und Regulierungen würgt die Innovation und die Vorteile der Informationsgesellschaft ab. Aber man kann die Entwicklungen eben auch nicht den Unternehmen und den Technikern überlassen.
 
Mittlerweile wird offen über Regeln und Gesetze für das digitale Leben diskutiert. Woher kommt der Sinneswandel?

Die Auswirkungen der Informationsrevolution werden erst jetzt langsam sichtbar. Alles – vom Geschäftsmodell bis zur privaten Kommunikation – kommt auf den Prüfstand. Das trifft auch auf unsere gesellschaftlichen Regeln zu. Das ähnelt sehr den Reaktionen nach der industriellen Revolution. Da gab es zunächst auch keine Sozialgesetzgebung, sondern erst, als die negativen Folgen des Kapitalismus sichtbar wurden. Durch das Internet können wir Dinge machen, die vor 20 Jahren unmöglich waren. Aber jede Freiheit kann auch missbraucht werden. Die Cyberkriminalität ist nur ein Beispiel. Da muss man dann eben innehalten und prüfen, ob die bestehende Rechtslage und ihre Instrumente ausreichend sind oder ob man sie ergänzen oder erweitern muss.
 
Die Digitalcharta befasst sich nicht nur mit aktuellen Fragen, sondern auch mit der Zukunft der Arbeit oder künstlicher Intelligenz. Welche Auswirkungen diese Technologien auf unseren Alltag haben werden, ist noch nicht klar. Versucht die Digitalcharta etwas zu regulieren, das noch gar nicht existiert?

Man darf sich nicht im Nachhinein den Vorwurf einhandeln, offenen Auges in eine Katastrophe hinein marschiert zu sein. Kann es sein, dass sich die künstliche Intelligenz am Schluss gegen die Menschheit richtet? Darauf eine juristische Antwort zu geben, ist zu früh. Aber politisch ist die Diskussion notwendig. Gerade wenn es um das Internet der Dinge oder künstliche Intelligenz geht, ist die Situation mit der Entwicklung der Nuklearenergie vergleichbar. Die Nukleartechnik hat einerseits positive neue Möglichkeiten eröffnet, gleichzeitig hat sie die Bedrohung durch einen Atomkrieg nach sich gezogen. Eine intensive Diskussion ist notwendig, um Grenzlinien zu finden.

Lehren aus der Vergangenheit

Sie erwähnen die industrielle Revolution und die Erfindung der Nuklearenergie – was können wir in dieser Debatte von Umbrüchen der Vergangenheit lernen?

Hab keine Angst, aber sei nicht leichtsinnig. – Wir müssen breite Allianzen schaffen, bei denen alle Betroffenen und Beteiligten eingebunden sind. Nicht nur die Regierung, sondern auch der Privatsektor, die Zivilgesellschaft, die technische und die akademische Gemeinschaft.
 
Die Charta heißt zwar Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union, daran gearbeitet haben aber ausschließlich deutsche, digitale Eliten.

Der Selbstzweifel hat die Mitglieder der Gruppe vom ersten Tag geplagt, doch irgendjemand musste den Stein ins Rollen bringen. Aber richtig ist: Wenn das eine Wirkung haben soll, muss die Diskussion aus dem elitären Zirkel von selbst-engagierten Aktivisten herauskommen.
 
Mit dem Ziel, einen gemeinsamen europäischen Rechtsrahmen zu schaffen?

Eigentlich ist auch das nicht hinreichend. Das Internet ist ein globales Phänomen und man muss zu globalen Lösungen kommen. Aber wenn die Europäer im globalen Konzert ihre Stimme nachhaltig erheben können, dann könnten sie globale Regelungen ganz wesentlich mitprägen. Dieser Prozess wird aber noch einige Jahre dauern, bis es konkrete Ergebnisse gibt.
 
Wie weit ist die Diskussion um digitale Grundrechte in anderen Ländern?

Diese Diskussionen werden spätestens seit dem UNO-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft im Jahr 2003 geführt. Ein Schritt vorwärts war 2014 die Annahmen der Universelle Deklaration zu Grundprinzipien von Internet Governance auf der NetMundial Konferenz in Sao Paulo. Dort sind die Menschenrechte als Grundlage für jede globale Internet-Politik fixiert. Die Initiative aus Deutschland ist ein weiterer Beitrag, wir haben gewissermaßen zusätzliches Wasser in einen beständigen Fluss gegossen. Bislang wurde in Deutschland diese Debatte nicht mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit und auf hoher politischer Ebene geführt. Unsere große Motivation war, diese Diskussion loszutreten. Digitale Grundrechte sind nicht nur für technische Experten. Sie sind für jedermann. Und sie gehören in die große Politik wie Cybersicherheit oder die digitale Wirtschaft.
 

Für mehr digitale Rechte: der Internet-Governance- Experte Prof. Dr. Wolfgang Kleinwächter
Für mehr digitale Rechte: der Internet-Governance- Experte Prof. Dr. Wolfgang Kleinwächter | Foto (Ausschnitt): © Privat
Der deutsche Kommunikationswissenschaftler und Internet-Governance- Experte Wolfgang Kleinwächter gehört zu den Initiatoren der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union. Seit 1998 ist er Professor für Internet Politik und Regulierung an der Universität Aarhus. Er war Vorstandsmitglied bei ICANN und ist jetzt Mitglied der Global Commission on Stability im Cyberspace (GCSC).

Die Digitalcharta (Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union) wurde von prominenten Netzaktivisten, Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten initiiert und am 30. November 2016 veröffentlicht. In bislang 23 Artikeln (Stand Juni 2017) fordert sie auf europäischer Ebene rechtlich verbindliche Grundrechte in der digitalen Welt. Im Dezember 2016 wurde die Digitalcharta dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments präsentiert.

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