Südkorea
Lebensaussichten für eine Zeit nach COVID-19

Illustration von Prof. Kwang-Sun Joo
Prof. Kwang-Sun Joo | Illustration (Ausschnitt): © Nik Neves

Welche Rollen kommen Staat und Gesellschaft in einer Post-COVID-19-Ära zu? Kwang Sun Joo über die Bedeutung von Freiheit und Rechten in Südkorea – und warum wir uns Gedanken über eine neue Weltordnung machen sollten.

Von Prof. Kwang-Sun Joo

Um sich in der Prä-COVID-19-Ära zu behaupten, musste man global und im Inland miteinander verbunden sein. Diese Gesellschaft der Nähe ist dem technischen Fortschritt und einer verstärkten Kommunikation zu verdanken. Dies gilt insbesondere auch für Korea und seine exportorientierte Wirtschaft. So wusste die koreanische Regierung zu Beginn des Ausbruchs der Pandemie, dass in Wuhan eine Infektionskrankheit aufgetreten war, konnte aber die Einreisen aus China nicht blockieren. Da sich das Coronavirus jedoch durch Nähe, Ballung und Kontakt ausbreitet, kann dieses Verhaltensmuster der Nähe nicht mehr aufrechterhalten werden. Die massive Corona-Ausbreitung durch die Shincheonji-Sekte Anfang 2020 hat dies bestätigt. Eine Anhängerin der evangelischen Sekte besuchte trotz Symptome mehrere Gottesdienste in der Großstadt Daegu und infizierte zahlreiche Menschen. Den Anführern der Sekte wurde vorgeworfen, nicht ausreichend mit den Gesundheitsbehörden zusammengearbeitet zu haben und mitverantwortlich für den Tod von an COVID-19 Erkrankten zu sein. Sicherheitsvorkehrungen und Prävention sind daher unumgänglich geworden, und die „Untact“-Kultur, also eine Kultur der Kontaktlosigkeit, breitet sich aus. Maßnahmen wie Quarantäne, Social Distancing, mobile Arbeit, Fernunterricht und die stärkere Nutzung von Lieferdiensten gehören nun auch in Korea zum Alltag. Die Gesellschaft in Zeiten von Corona ist eine Gesellschaft der Distanz.

Gegenangriff der Natur

Corona bedroht das Leben vieler Menschen und bringt wirtschaftliche Not, und es ist schwer vorherzusagen, wann sich die Situation verbessern wird. Korea hatte die Corona-Krise bisher relativ gut unter Kontrolle, aber seit dem Sommer 2021 steigt die Zahl der Neuinfektionen. Obwohl schnell ein Impfstoff entwickelt wurde, sind Mutationen des Virus entstanden, die die Wirksamkeit der Vakzine bedrohen.  Ulrich Beck warnte in seinem Buch Risikogesellschaft, dass Industriegesellschaften potenzielle Gefahren wie die Gefährdung der Natur, der Gesundheit, der Ernährung systematisch produzieren und dass diese Gefahren, wenn sie realisiert werden, ein globales Problem ohne Ausnahme werden könnten. Die Industriegesellschaften haben dies vorhergesehen, jedoch ignoriert und nicht die notwendigen Gegenmaßnahmen ergriffen. Eine Gesellschaft wie unsere, in der diese Gefahren tatsächlich real sind, kann daher als Risikogesellschaft bezeichnet werden.

Eine Folge des wirtschaftlichen Wachstums um jeden Preis sind der Klimawandel und die Ausbreitung der Pandemie. Die Modernisierung brachte den Menschen näher an die Natur. Diese Nähe aber war keine Intimität mit der Natur, sondern vielmehr eine Ausbeutung, die die Erschließung jedes Winkels der Erde und die Erschöpfung natürlicher Ressourcen einschloss. In gewissem Sinne kann man dies als Naturentfremdung bezeichnen und auftretende Infektionskrankheiten als Gegenangriff der Natur betrachten. Das ist das Paradoxon von Nähe und Distanz. Die Folgen der Risiken, die zum Erreichen von  wirtschaftlichem Wachstum eingegangen werden, sind für uns nicht einsehbar und führen zu systematischen und irreversiblen Katastrophen. Für ihre Einschätzung verlassen wir uns auf wissenschaftliche Expert*innen, die die Situation als Ganzes nicht vollständig einschätzen können, sodass das Risiko überschätzt oder unterschätzt wird. Zudem werden ihre Risikobeurteilungen nach ihren jeweiligen sozialen Status, wie ihren wirtschaftlichen Interessen oder ihrer politischen Orientierung, konstruiert. Dies führt dazu, dass das Wissen, welches die moderne Gesellschaft lenkt, und das Risiko, vor dem es warnt, politischer Natur sind. Obwohl Folgen des Risikos in Bezug auf den sozialen und wirtschaftlichen Status oder die physische Distanz gleich sind, ist der Schaden, den sie anrichten, ungleich verteilt.

Schwächung der Schwachen

Durch die Entwicklung der Mobil- und Kommunikationstechnologie sind sich die Menschen physisch näher gekommen, aber dies ist keine echte Kommunikation, keine wirkliche Nähe. Aufgrund von wirtschaftlichem Wachstumsstreben monopolisiert der globale Norden die Früchte des wirtschaftlichen Wachstums. Die Katastrophe als Ergebnis des Strebens nach wirtschaftlichem Wachstum führt zu einer ernsthaften Schwächung der Schwachen. In einigen Ländern wird nicht nur einmal oder zweimal geimpft, sondern auch eine dritte Impfung, eine Auffrischungsimpfung, durchgeführt, während es für die Bevölkerung in den meisten Ländern des globalen Südens schwierig ist, auch nur eine einzige Impfdosis zu erhalten.

In Korea hat der Konsumrückgang aufgrund der Infektionsverbreitung schwerwiegende Folgen für die Schutzbedürftigen. Kleinunternehmer*innen, Freiberufler*innen, entsandte Arbeiter*innen oder interne Subunternehmer*innen haben ihren Arbeitsplatz verloren. Darüber hinaus konzentrieren sich Beschäftigungs- und Einkommensrückgänge hauptsächlich auf Haushalte mit niedrigem Einkommen. Außerdem hat die soziale Distanzierung vor allem Frauen Schaden zugefügt. Dies liegt daran, dass Frauen nicht nur einen hohen Anteil an Dienstleistungsjobs haben und atypischen Beschäftigungen nachgehen, sondern auch daran, dass Frauen aufgrund von Schulschließungen hauptsächlich die Herausforderung der Kinderbetreuung tragen. Außerdem trifft die Corona-Krise ausländische Arbeitnehmer*innen und Kleinunternehmer*innen härter. In Korea arbeiten viele ausländische Arbeiter*innen in Fabriken zusammen und schlafen zusammen auf engstem Raum. Daher sind sie leichter Gruppeninfektionen ausgesetzt.

Freiheit als Recht

Die Corona-Pandemie wirft Fragen nach Modernisierungsprozessen in der Wirtschaft und dem Wesen der Risikogesellschaft auf und erfordert eine Revision der Politik, die Risiken ignoriert und nur auf Wirtschaftswachstum abzielt. Außerdem veranlasst uns die Pandemie die Rolle der Gemeinschaft und zur Frage des Verhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft zu reflektieren. Die Moderne ist eine Epoche der Erweiterung von Freiheiten. Korea tendiert seit langer Zeit dazu, die individuelle Freiheit zu betonen, weil das Land in seiner Geschichte staatliche Repressionen unter der Entwicklungsdiktatur unter Präsident Park Chung-hee (1961-1979) und dem nachfolgenden konservativen Regime (1988-1993) erlebt hat. Dies hat die Entwicklung der koreanischen Gesellschaft maßgeblich beeinflusst. Zum Beispiel im Kampf gegen Diktaturen und bei der Absetzung der ehemaligen Präsidentin Park Geun-hye (2013-2017). Sie wurde wegen Korruptionsvorwürfen von ihrem Amt suspendiert. Freiheit ist in Korea ein Recht, ferner ist ebenso die Distanzierung des Einzelnen von der Gemeinschaft ein Recht.

Die Pandemie führte dazu, dass die Bevölkerung eine aktive Rolle der Gemeinden und Regierung erwartet. Die koreanische Zentralregierung und die kommunale Verwaltung versuchten den Alltag der Bürger*innen durch die sogenannte „K-Quarantine“ – so wird die gesamte Strategie im Kampf gegen die die Pandemie genannt, angelehnt an Begriffe aus der Popkultur wie K-Pop und K-Drama – zu unterstützen und so Normalität zu gewährleisten. Zu Beginn der Pandemie initiierte die koreanische Regierung eine gründliche Nachverfolgung und Betreuung von infizierten Personen, eine transparente Offenlegung von Informationen, genaue Diagnosemöglichkeiten, ein öffentliches Gesundheitssystem und Notfallfonds.

Tatsächlich ist das moderne Denken, individuelle Rechte zu betonen, zu einseitig. Zumeist war die Rolle der Gemeinschaft schon immer für das Überleben und den Wohlstand des Einzelnen von entscheidender Bedeutung. Was wir in der Zeit nach der Corona-Krise benötigen, ist eine Dialektik von wirtschaftlichem Wachstum und Risikobereitschaft sowie von Rollen und Rechten der Zivilbevölkerung. In der K-Quarantäne war nicht nur die Rolle der Regierung wichtig, sondern auch die Rolle der Bürger*innen. Die Bürger*innen praktizierten freiwillig soziale Distanzierung, trugen Masken und befolgten die Richtlinien der Regierung.

Es ist nicht notwendig, nur auf die Durchsetzung einer der Bestandteile zu bestehen. Denn wirtschaftlicher Wachstum bringt Wohlstand und Komfort, erhöht aber das Risiko für Umweltverschmutzung und Klimawandel durch Kohlendioxidemissionen, Atomkraftunfälle und durch übermäßigen Einsatz von Chemikalien.

Die Betonung der individuellen Rechte, etwa der Menschenrechte, bringt die Politik voran. Eine Überbetonung der Rechte jedoch kann zu Spaltungen in der Gesellschaft führen. Wenn sie von Rechten sprechen, denken die meisten Menschen zunächst an ihre persönlichen Rechte und sind den Rechten anderer oder der gesamten Gemeinschaft gegenüber schnell gleichgültig. Es ist an der Zeit, das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Risiko sowie zwischen individuellen Rechten und den Rollen von Gemeinschaft und des Individuums kritisch zu hinterfragen. Durch die Corona-Pandemie ist den Menschen bewusst geworden, dass die moderne Gesellschaft eine Risikogesellschaft ist und dass es für ein Zusammenleben zwischen Individuen, zwischen Nationen und zwischen Mensch und Natur unabdingbar ist, Kräfte zu vereinen.

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