Südkoreas Umgang mit der Digitalisierung
Bildung bedeutet Einsamkeit

Illustration: Kwang Sun Joo (rechts) und Jan Paul Heisig (links)
Kwang Sun Joo (rechts) und Jan Paul Heisig (links) | Illustration (Ausschnitt): © Nik Neves

Der südkoreanische Philosophieprofessor Kwang Sun Joo antwortet auf die von der brasilianischen Künstlerin Rosana Paulino gestellte Frage: „Wie reagieren Eltern in Südkorea auf die neue Rolle als digitale Assistent*innen der wirklichen Lehrkräfte? Wie funktioniert die Unterstützung der Schüler*innen durch die Familien in Hinblick auf Bildung mit stark digitalem Anteil?“ Dabei wird deutlich, dass der digitale Unterricht zu Isolation beiträgt und alleinerziehende Eltern vor große Herausforderungen stellt.

Von Kwang Sun Joo

Die Corona-Pandemie brachte die noch nie da gewesene Situation mit sich, dass Unterricht vor Ort in den Schulen unmöglich wurde. Anfang des Jahres 2020 haben die Schulen in Südkorea auf Online-Unterricht umgestellt, woraufhin eine Begegnung in Präsenz ausgeschlossen war. Die erste Generation der Online-Bildung trat auf den Plan. Das war ein Schock für alle. Dazu kam, dass der virtuelle Unterricht die Bildungsunterschiede je nach Haushalt vergrößerte. Das lag daran, dass Schüler*innen große Schwierigkeiten haben, selbstständig zu lernen. Natürlich wurden in Südkorea schon vor der Pandemie Youtube-Lernvideos produziert. Und an Universitäten wurden bereits 2015 von der Regierung angeleitete Onlinekurse, genannt K-MOOC  (Korean Massive Open Online Course), kostenlos zur Verfügung gestellt. Obwohl Studierende dadurch Leistungspunkte erhalten konnten, wurde dieses Angebot wegen der fehlenden Anleitung in Präsenz nur bedingt genutzt.

Wenn es sogar Universitätsstudierenden schwer fällt, selbstständig mit ausschließlich digitalen Inhalten zu lernen, ist es für Kinder und Jugendliche noch schwerer. Ohne Zweifel entwickelt sich die Technologie der Informationsvermittlung in Südkorea immer weiter. Deshalb gibt es im Zeitalter der Corona-Pandemie nicht nur Online-Unterricht für Studierende, sondern auch für Grund-, Mittel- und Oberstufenschüler*innen. Viele von ihnen verfügen über einen eigenen Computer. Aber natürlich löst das allein nicht das Problem. Im Falle von Grundschüler*innen müssen Eltern ihre Kinder einloggen, die Anwesenheit bestätigen und bei den Hausaufgaben helfen, was schwierig ist, wenn beide Eltern arbeiten oder ein Elternteil gar alleinerziehend ist. Aber auch wenn das bei Mittel- und Oberstufenschüler*innen nicht der Fall ist, sind die Eltern sehr besorgt. Es ist nämlich schwer, von Kindern schulische Leistungen durch selbstständiges Lernen zu erwarten, wenn sogar Studierende Schwierigkeiten damit haben. Außerdem konnte man bereits im Jahr 2020 sehen, dass die schulische Leistung je nach Einkommensstufen und familiären Hintergründen sehr weit auseinanderdriftet.

Herausforderungen für Alleinerziehende

Schüler*innen, die zu selbstständigem Lernen fähig sind, können die Schwierigkeiten des virtuellen Unterrichts zwar überwinden, aber nur wenigen gelingt es. Und wie sehr die Eltern dazu in der Lage sind, ihren Kindern bei der Schularbeit zu helfen, hängt von ihren Kenntnissen, dem Bildungsgrad und familiären Hintergründen ab. Zu einem gewissen Grad korrelieren das Bewusstsein für die kindliche Bildung und das Einkommensniveau der Eltern. Auch gibt es eine direkte Verbindung zur privaten Schulbildung. Bereits vor COVID-19 war die Bildung im Privatunterricht – in den sogenannten Hagwons, den privaten Bildungsinstituten in Südkorea – stark präsent, was die Bedeutung der öffentlich zugänglichen Bildung veränderte. Wie gut der Privatunterricht ist, den ein Kind bekommen kann, ist auch damit verbunden, wie viel die Eltern verdienen.

Beim Privatunterricht ist unerheblich, ob beide Eltern arbeiten oder alleinerziehend sind. Bei der Betreuung von Kindern im Heimunterricht stoßen diese Familienkonstellationen allerdings an ihre Grenzen und für Großeltern, die sich allein um ihre Enkel kümmern, sind weder Privatunterricht noch Online-Unterricht machbar. Auch für Schullehrer*innen ist es weder während, noch war es vor der Corona-Pandemie leicht, mit der Bildung im Privatsektor zu konkurrieren und die Rolle der Eltern als Lernbetreuer*innen zu übernehmen. Zwar könnten Lehrer*innen bei Nichterscheinen der Grundschulkinder zum Online-Unterricht deren Eltern einzeln anrufen, es ist jedoch zu schwierig, in dieser Rolle für viele Schüler*innen gleichzeitig zuständig zu sein.

Fehlende Sozialisierung

Digitaler Unterricht und Abstandsregeln haben Kinder von der Außenwelt abgeschottet. Nun sind sie zu Hause täglich über viele Stunden Medien ausgesetzt, was die Zeit, die sie allein und stumpf vor dem Monitor verbringen, deutlich verlängert. Die Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch ein Ort zum Spielen mit Freund*innen und durch das notwendige Sitzen an Tischen wird die Zeit, die sie vor digitalen Medien verbringen, verringert. Daher beeinflusst der digitale Unterricht nicht nur das Lernen der Schüler*innen, sondern auch die Bildung von Kameradschaft und Freundschaft unter einander. Aus diesem Grund leidet auch das Bewusstsein für Sozialisierung und Gemeinschaftsgefühl. Zudem vergrößert sich die Zeit, in der Schüler*innen Medien, inklusive sozialer Netzwerke, ausgesetzt sind. Das bereitet Eltern viele Sorgen.

Die Abschottung von der Außenwelt, die COVID-19 mit sich brachte, bringt Schüler*innen dazu, nicht nur unregelmäßiger zu schlafen, depressiver und einsamer zu sein, sondern auch, sich noch ungesünder zu ernähren. Das liegt daran, dass Schulen auch ein Raum für das gemeinsame Mittagessen waren. Der Nährwert kostenloser Mahlzeiten ist in der Regel nicht sehr hoch, aber Kinder ärmerer gesellschaftlicher Schichten essen nun noch unregelmäßiger. Das heißt, sie ernähren sich entweder qualitativ minderwertig oder lassen Mahlzeiten aus, weil sie vorher an der Schule kostenlos ausgewogeneres Mittagessen bekommen konnten.

Die Corona-Pandemie verlangt von uns, uns mit den Ungleichheiten und Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen, die in der südkoreanischen Gesellschaft in Bezug auf Bildung schon vorher bestanden. Jetzt müssen wir uns nicht nur den Kopf über die Probleme des virtuellen Unterrichts zerbrechen, sondern auch über die Probleme, die bereits vorher existierten.

Von meiner Perspektive als Südkoreaner, der bereits längere Zeit in Deutschland gelebt hat, frage ich mich, ob in Deutschland im Zeitalter des virtuellen Unterrichts die gesellschaftliche Ungleichheit den Einfluss auf die Bildung verstärkt? Wenn dem so ist, inwiefern ist der Einfluss größer geworden? Und was kann man tun, um dieses Problem zu lösen?

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