Michael Zichy & Jonas Lüscher zum Tod von Ágnes Heller
Sie war eine vorbildliche Exponentin einer kulturellen Elite

Ágnes Heller
Ágnes Heller | Foto: Robert Newald; © picture alliance/APA/picturedesk.com

Die ungarische Philosophin und Soziologin Àgnes Heller, Mitglied dieses transnationalen Dialogs, starb am 19. Juli 2019 im Alter von 90 Jahren. Die Moderatoren Jonas Lüscher und Michael Zichy würdigen eine vorbildliche Stimme der Vernunft und eine mutige Verfechterin der Gewissens- und Meinungsfreiheit.

Von Jonas Lüscher und Michael Zichy

„Es gibt keine Demokratie ohne eine kulturelle Elite, die sich essentiell von der politischen und ökonomischen Elite unterscheidet. Damit meine ich Menschen, die respektiert werden und als Vorbild dienen, sowohl aufgrund ihrer geistigen Leistungen als auch ihres sozialen Verantwortungsbewusstseins. […] Nicht durch die Anzahl der Universitätsabschlüsse oder Massenpublikationen wird jemand Teil der kulturellen Elite, sondern durch geistiges Niveau, den Einsatz für die Menschenwürde und Verständnis“, schrieb Ágnes Heller vor wenigen Wochen in einem Beitrag für unseren transnationalen Dialog zum weltweiten Erstarken des Populismus. Ihre Bescheidenheit hätte ihr kaum erlaubt, diese Sätze auf sich zu beziehen, aber nun, da sie von uns gegangen ist, ist es ganz offensichtlich, dass sie selbst, im Leben und Denken, ein leuchtendes Beispiel war für ein Mitglied einer solchen kulturellen Elite, deren Existenz sie für das Bestehen demokratischer Gemeinschaften für vital hielt.

Unermüdlicher Einsatz für den politischen Diskurs

Ihr unbestreitbares geistiges Niveau und ihre bewegende Lebensgeschichte, die sie nicht nur in den Rang einer wichtigen Philosophin, sondern eben auch in den einer Zeitzeugin für die Gräuel und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts erhoben hat, wurde in den letzten Tagen in zahllosen Nachrufen geschildert. Für uns war es aber in der persönlichen Begegnung auch immer wieder erstaunlich, wie unermüdlich sie, bis ins hohe Alter, bereit war, sich für den politischen Diskurs einzusetzen und Einladungen zu Tagungen, zu Dialogen und selbst zu politischen Interventionen bereitwillig annahm.

Als wir im letzten Sommer prominente Erstunterzeichner*innen für einen Aufruf zu einem europäischen Demonstrationstag gegen Nationalismus und für ein solidarisches Europa suchten, war sie eine der Ersten, die unterschrieb. Und es ist bezeichnend, dass es mit einer Unterschrift für sie nicht getan war – persönlich setzte sie sich für das Zustandekommen einer Kundgebung in Budapest ein. Und als wir sie baten, an besagtem Diskurs zum Thema Populismus teilzunehmen, sagte sie ohne Zögern zu, schrieb, mit beinahe jugendlich anmutender Ungeduld den ersten Beitrag und bewies eine unaufhörliche Neugierde auf ihre Gesprächspartner, auf deren Argumente und Erfahrungen. Es war dieser unermüdliche Einsatz für die Menschenrechte – das hieß in ihrem Fall zuallererst den ständigen Kampf um die eigene Freiheit und die der anderen – und der Wille, verstehen zu wollen, also sowohl die Erfahrungen ihrer Gesprächspartner*innen ernst zu nehmen, wie auch eine scharfe, unbestechliche Analyse zu betreiben, die im Diskurs und in der Begegnung mit ihr so beeindruckten.

Ágnes Heller wird uns fehlen, als Mensch, als Denkerin, als Dialogpartnerin, als Kämpferin für politische Rechte, als vorbildliche Exponentin einer kulturellen Elite, ohne die die Demokratie in ihrer Existenz gefährdet ist, denn - lassen wir es Ágnes Heller noch einmal in ihren eigenen Worten sagen: „Eine stabile Demokratie braucht eine kulturelle Elite mehr als das politische Establishment, denn Letzteres neigt häufig dazu, Quantität den Vorrang vor Qualität zu geben. Wenn Ideale und Rollenmodelle jedoch nur anhand der Quantität bemessen werden, degeneriert die Gesellschaft, und Demagogen und Tyrannen übernehmen die Kontrolle.“

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