19.02.2020 | Carol Pires
Jair Bolsonaro und der tropische Protofaschismus


Ihr Lieben,

als Reporterin der Gruppe und aus einem Land, das erst kürzlich einen populistischen Präsidenten gewählt hat, empfinde ich es als meine Aufgabe, euch über den Verlauf dieses ersten Jahres der Regierung Bolsonaro (drei stehen uns noch bevor) zu berichten und zu versuchen, beim Schreiben und während ich eure Fragen dazu lese, zu verstehen, wie der populistische, autoritäre Diskurs des Präsidenten Brasilien umgestaltet.

In diesem letzten Jahr hat Bolsonaro sich mit der Presse angelegt, mit dem Kongress und mit seinen eigenen Ministern.

 
Sogar mit der Führung der Partei PSL hat er gebrochen, für die er zur Wahl angetreten ist, und die er von Anfang an nur als Mäntelchen benutzt hat, um gewählt zu werden. Nun will Bolsonaro, ganz nach dem Muster persönlichkeitsbezogener Populisten, seine eigene Partei gründen, die Allianz für Brasilien, deren Motto „Gott, Vaterland, Familie“ er von der Ação Integralista Brasileira (Brasilianische Integralistische Aktion) übernommen hat, einer 1932 in São Paulo gegründeten faschistischen Organisation italienischer Prägung.
 
Bei der Präsentation dieses neuen Signets stand im Eingangsbereich des Veranstaltungsorts eine Tafel mit einem aus 4000 Patronen gestalteten Parteilogo. Zahlreiche Anhänger ließen sich davor mit der Geste, die als Symbol der Familie Bolsonaro berühmt wurde, fotografieren, den zur Schusswaffe geformten Händen. „Es ist auf der symbolischen Ebene zu stark, um sich darüber nicht Sorgen zu machen“, sang Caetano Veloso vor Jahren in einem Lied über das Gefangenenlager Guantánamo.
 
Zufällig oder nicht tauchte unmittelbar nach Verkündung der neuen Präsidentenpartei auch die integralistische Bewegung wieder in den Schlagzeilen auf. Der krasseste Fall war der Angriff auf das Produktionsbüro der Satiriker „Porta dos Fundos“ mit Molotowcocktails, nachdem diese auf Netflix ein Weihnachtsspecial mit einem homosexuellen Jesus veröffentlicht hatten. Eine integralistische Gruppe bekannte sich zu dem Anschlag, und der Mann, der die Aktion angeführt hatte, Anhänger der Partei des Präsidenten, floh, um der Festnahme zu entgehen, nach Moskau.
 
Seit dem Wahlkampf, aus dem Bolsonaro als Sieger hervorging, bin ich in meinen Kolumnen in der brasilianischen Zeitschrift Época sowie in der New York Times immer wieder auf den gefährlichen Diskurs des Präsidenten eingegangen. Wie ich in meinem ersten Brief an euch schon erzählte, lässt sich deutlich erkennen, wie seine Angriffe auf Rechte der indigenen Bevölkerung und seine Verteidigung der illegalen Goldsuche einer Zunahme an Überfällen auf geschützte Territorien vorangingen.

Insgeheim waren wir überzeugt, dass die Dinge besser werden. (...) Freiheit und Solidarität weiteten sich in kleinen Schritten aus, die Demütigungen und Grausamkeiten wurden weniger.

Aber das ist nur ein Beispiel. Bolsonaro bezeichnet die Presse als Feind, verbietet Journalisten den Mund und verstieg sich auf einer Pressekonferenz dazu, einem Reporter zuzurufen, er habe „die schreckliche Fresse eines Homosexuellen“. Wenn er sich nicht überhaupt weigert, Rechenschaft über seine Regierungsarbeit abzulegen oder auf Korruptionsvorwürfe gegen seinen ältesten Sohn, den Senator Flavio Bolsonaro, einzugehen. Seine politischen Gegner (und jede Person, die nicht vollumfänglich seiner Meinung ist, wie im Fall seiner eigenen Partei) werden als Feinde betrachtet.

enemies
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Er versucht, Transparenz und Opposition als „gegen das Land gerichtet“ anzusehen und pflegt seine Neurose im Stil des Kalten Kriegs, dass Brasilien Gegner im eigenen Land zu bekämpfen habe. In seiner Sehnsucht nach der Militärdiktatur und seinem Lob der Folterer forderte er seine politischen Gegner nicht nur einmal auf, „ganz ans Ende des Strandes“ zu gehen, in Anspielung auf einen bekannten Schauplatz von Exekutionen in Rio de Janeiro während der Militärdiktatur. Sein Todesimpetus ist in vielen seiner Reden zu spüren. Auslöschen, erschießen, zerstören und fertigmachen sind die Verben, die er für seine Gegner hat.
 
Im Angriff auf die Produktionsfirma Porta dos Fundos an Heiligabend kulminierten zwölf Monate einer Regierung, die ihre treueste Anhängerschaft mit Hassrede bei Laune hält. Wie man weiß, führt gewaltsame Rede der Anführer dazu, dass sich in Gesellschaften insgesamt die Definition von akzeptablem Verhalten verschiebt.
 
Das zweite Jahr der Regierung Bolsonaro begann noch besorgniserregender. Am 17. Januar präsentierte der damalige Kulturstaatssekretär Roberto Alvim einen neuen Kulturpreis (Teil seines Projekts einer „Neugründung der Künste“) mit Sätzen aus einer Rede des deutschen Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels. In dem über soziale Netzwerke verbreiteten Video lief im Hintergrund Musik aus Lohengrin, Hitlers liebster Wagner-Oper.
Bolsonaro wollte seinen Staatssekretär dafür nicht entlassen, doch sogar für Gefolgsleute der ersten Stunde hatte Alvim damit eine Grenze überschritten; sie forderten seinen Kopf. Die Botschaften Israels und Deutschlands veröffentlichten harsche Protestnoten, die Präsidenten der Abgeordnetenkammer sowie des Senats verlangten seine Ablösung.
Ausgedient
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Am nächsten Tag wurde Alvim entlassen. Bolsonaro, der sich ausschließlich über soziale Netzwerke äußert, verkündete Alvims Entlassung auf Twitter und bestätigte, der Sekretär sei nicht zu halten gewesen, „obwohl er sich entschuldigt“ habe. Es bleibt der Eindruck, der Nazi-Plagiator sei nicht für das entlassen worden, was er denkt, sondern dafür, dass er es zu offensichtlich gezeigt hat.
 
Ich denke, wir stehen heute vor einer tatsächlicheren Bedrohung und überlege mir, ob der Begriff „Populist“, um den es in der Diskussion hier in der Gruppe geht, für die Regierung Bolsonaro nicht zu eng ist.
 
Bolsonaro ist zweifellos ein rechtsextremer Populist. Seine treueste Anhängerschaft ist eine hinterwäldlerische Kopie der amerikanischen Alt-right, wie man an Claqueuren sieht, die zu offiziellen Anlässen „Deus vult“ anstimmen. Aber Bolsonaro ist mehr als das.
 
Von Teilen der Linken wird der Präsident längst freimütig Faschist genannt, aber ich erinnere mich, dass zu anderen Zeiten die Linke auch neoliberale Gouverneure der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) wegen repressiver Maßnahmen der militärischen Polizei als Faschisten bezeichnete. Daher wirkt dieser Begriff heute, auf Bolsonaro gemünzt, beinahe schwach und vielleicht voreilig.
 
Zweifellos ist sein politisches Projekt die Verbindung einer reaktionären Massenbewegung mit religiösen, militaristischen und auf Ausgrenzung gerichteten Aspekten. Ich finde es zutreffend, wenn man sagt, dass alles sehr nach tropischem Protofaschismus klingt.
 
Doch trotz aller Einschränkungen und Angriffe sind Kongress, Presse und Justiz weiter funktionstüchtig. Eine Diktatur - die es bräuchte, um wirklich von einer faschistischen Regierung zu sprechen - droht bislang nur in der Rede des Parlamentsabgeordneten Eduardo Bolsonaro, ein weiterer Sohn des Präsidenten. In einem Interview sagte er „wenn sich die Linke radikalisiert“, könne die Regierung durchaus mit einem AI-5 reagieren. Dieses Verfassungsdekret Nr. 5 verfügte 1968 unter anderen Unterdrückungsmaßnahmen die Schließung des Kongresses und Pressezensur und kennzeichnet den Beginn der härtesten Jahre der Militärdiktatur. Darauf angesprochen, behauptete Bolsonaros Sohn Nummer zwei, er sei falsch verstanden worden, und ließ es dabei bewenden.
 
Zum Abschluss meines Berichts an die Gruppe habe ich lange über die zweite und die dritte Frage von Michael nachgedacht: Was ist dem Populismus entgegenzuhalten? Und welche Rolle kommt dabei uns als kultureller Elite zu? Die Wahrheit ist, dass ich noch keine Antwort habe, die mich zufriedenstellt. Ich komme mir beim Betrachten des Aufstiegs des Populismus in Brasilien noch etwas kurzsichtig vor. Vielleicht bin ich zeitlich und räumlich zu nahe dran, um zum jetzigen Zeitpunkt einen Ausweg zu sehen.
 
Susan Benesch, Professorin der American University, die den Begriff „Dangerous Speech“ prägte, schlägt vor, Führungspersönlichkeiten, die sich der Demokratie verpflichtet fühlen, sollten diesem Gewalt schürenden Diskurs mit einem nüchternen und didaktischen Gegendiskurs über die Gefährlichkeit dieser Botschaft begegnen. Es ist also an uns als Gruppe, die Reichweite unserer Worte zu nutzen, um unseren Lesern gegenüber die Wichtigkeit einer inklusiven Demokratie herauszustellen, die auf nachhaltige Entwicklung, Pressefreiheit, Menschenrechte und jede Form von Diversität zielt. Es klingt einfach und sogar naiv, aber in Zeiten, die derart verwirrend und unterdrückend sind, kann es schon genug sein, nicht aufzugeben. 
 

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