18.05.2020 | Youssef Rakkha
Wir, die Populistinnen und Populisten
Meine lieben Leidensgenoss*innen,
es fällt mir nicht leicht, nach so langer Zeit wieder den Einstieg zu finden. Noch schwerer macht es mir das aktuellste Zitat des Präsidenten der Vereinigten Staaten, das letzte in einer Reihe von unvorstellbaren Fauxpas „Die Gesamtzahl der Toten, die Zahlen auf eine Million Einwohner sind bei uns wirklich ganz, ganz großartig. Wir sind sehr stolz auf die Arbeit, die wir geleistet haben.“ Und auch der Anblick eines so unverhohlen unaufrichtigen, inkompetenten, unwissenden, lächerlichen Mannes macht es mir schwer. Dieser Mann hält tatsächlich das Geschick der Welt in seinen Händen, und das nur, weil er rein zufällig in eine reiche Familie geboren wurde. Die entnervte Frage, wie so etwas geschehen konnte, hat keinen Unterhaltungswert mehr. Und es ist inzwischen auch nicht mehr interessant, allen auch nur erdenklichen Gruppen – Konzernen, Regierungen, Aktivist*innen, Klatschreporter*innen – dabei zuzusehen, wie sie die Coronakrise dafür nutzen, ihre eigenen egoistischen Interessen voranzutreiben oder in irgendeiner Weise Profit daraus zu schlagen.
Auch die Erinnerung an den traurigen Beichtton in Jonas‘ letztem Brief macht es mir nicht leichter: „Ist nicht vielleicht […] meine Perspektive – die eines weißen, mitteleuropäischen Mannes, materiell sorgenlos, in einen Akademikerhaushalt hineingeboren, selbst geisteswissenschaftlich gebildet, das heißt, in seinem Denken zutiefst in der europäischen, humanistischen Tradition verwurzelt, unüberwindbar geprägt durch die Denker der Antike, der Aufklärung, des Liberalismus, der Sozialdemokratie – mehr Teil des Problems als der Lösung?“ Das trifft auch auf Michaels Überlegungen zu, in denen er dasselbe Gefühl zum Ausdruck bringt. Er fragt, ob sich die liberale Demokratie nicht sogar in der selbsternannten Heimat dieser Tradition, nämlich in Europa und im Rest der sogenannten westlichen Welt, als eine dünne Oberfläche erweist.
Auch angesichts dieses Ereignisses fehlen mir die Worte. Nicht nur wegen des sinnlosen Blutvergießens, sondern auch wegen des Gefühls, dass es – ganz gleich, was man mit Dschihadisten macht oder wie man ihre Existenz rechtfertigt – keinen Weg gibt, diese Menschen in ihrem Tun zu stoppen. Nahezu sieben Jahre nach dem Sturz der Muslimbruderschaft, der meines Erachtens das Land vor einem bewaffneten Konflikt mit offenem Ende bewahrte, tobt auf dem Sinai noch immer ein „Bürgerkrieg im Kleinformat“, wie ich es nenne.
Wegen der Quarantäne und Ausgangssperre gibt es keine Schulen und Spielplätze, auf die Kinder gehen, Schwimmbäder, in denen Papa sein Kraulschwimmen trainieren, Bäckereien, in denen Mama ihre Freund*innen aus der Nachbarschaft treffen könnte. Und die achtzigjährige Großmutter, die eine fünfminütige Autofahrt von der Wohnung entfernt allein lebt, darf auch nicht besucht werden.
Mittlerweile gehe ich nur noch einmal in der Woche ins Büro. Meine Frau fährt nicht mehr mit der Bahn auf den außerhalb der Stadt gelegenen Campus, auf dem sie unterrichtet. Und angesichts der Omnipräsenz von Ethylalkohol und der Ausbreitung von Gesichtsmasken und OP-Handschuhen auf den so offensichtlich unhygienischen Straßen – sowie angesichts des ständigen, unaufgeforderten, unnötigen Hinweises, „zu Hause zu bleiben“ – scheint es, als hätten wir jegliche Möglichkeit der Einflussnahme verloren. Von einer Möglichkeit des politischen Widerstands in der Form, die wir in unseren Gesprächen ergründen, ganz zu schweigen.
Wenn man keinen Kaffee trinken gehen kann, wenn man der Zensur nicht nur der Behörden, sondern auch der eigenen Mitbürger*innen ausgesetzt ist, nur weil man sich aus ganz persönlichen Gründen auf der Straße befindet, wie soll man dann darüber nachdenken, die Welt zu ändern?
Eine Erkenntnis, die mich plagt, seit ich mehr Zeit mit den sozialen Medien verbringe, ist die Frage, ob sich unser Bereich diesseits des Populismus nicht tatsächlich als genauso „populistisch“ erweisen könnte. Damit meine ich nicht, dass wir Denkweisen und Narrative teilen, die auf patriarchalem Stammesdenken basieren oder atavistisch, rassistisch, sektiererisch, anti-intellektuell oder irrational sind. Und ich denke dabei ganz sicher auch nicht an uns acht, sondern an die größere linksliberale Gemeinschaft, für die wir sprechen.
Ich meine damit, dass es Dinge gibt, die auch „wir“ tun, die uns zur Antithese einer „kulturellen Elite“ machen, wie sie die verstorbene Ágnes beschrieb: „Menschen, die respektiert werden und als Vorbild dienen, sowohl aufgrund ihrer geistigen Leistungen als auch ihres sozialen Verantwortungsbewusstseins.“ Deren Aufgabe nicht im Anhäufen von Reichtum und Erfolg besteht, sondern in einem Einsatz „für die Menschenwürde und Verständnis“.
Wir lehnen es ab, uns ernsthaft mit den Dingen zu befassen, die den „Menschen aus der Seele sprechen“ (wie Michael es formuliert): Unsere Argumentation darf nicht von simplen, herkömmlichen oder konservativen Erwägungen bestimmt oder validiert werden, ganz gleich ob sie in einem bestimmten Zusammenhang wichtig oder aussagekräftig sind. Wir erheben Anspruch auf die moralische Autorität und berufen uns dabei oftmals auf Fehlinformationen oder ungerechtfertigte Annahmen. Wie ziehen rhetorische oder absurde Lösungen vor, um uns nicht mit Problemen des wirklichen Lebens herumplagen zu müssen, die uns nicht persönlich betreffen. Und wir äußern uns voller Überzeugung zu Themen, über die wir gar nichts wissen können.
Aber vor allem führen wir ausufernde Diskurse, um uns aufgeschlossen oder demokratisch zu geben. Dafür nehmen wir uns aller wichtigen Themen an, als ob sie sich auf eine Auswahl von Konsumentscheidungen reduzieren ließen. Obwohl wir gegen den „Spätkapitalismus“ wettern und uns in unseren Biografien in den sozialen Medien selbst voller Stolz und Überzeugung als „Marxist*innen“ und „Abolitionist*innen“ bezeichnen, formulieren wir unsere moralischen Überzeugungen und persönlichen Zugehörigkeiten so, als wären es Lobpreisungen für einen glorifizierten Marktplatz. Wir sprechen über veränderliche wissenschaftliche Fakten als wären es unveränderliche Dogmen und über zweifelhafte begriffliche Konstrukte in den Geisteswissenschaften als wären es wissenschaftliche Fakten. Wir katapultieren uns in den Heldenstand der Bedeutungslosigkeit.
Bei dem Gedanken daran, im welchem Maße wir uns mit unseren zwanghaften Appellen an die Tugendhaftigkeit zu den willfährigen Handlangern multinationaler Konzerne und anderer rücksichtsloser Akteure der Globalisierung gemacht haben, fällt mir auch angesichts von Michaels Frage ein Neueinstieg schwer: „Ist der Populismus eine Folge unserer eigenen blinden Flecken? Kehrt in ihm das kollektiv Verdrängte wieder zurück? Zwingt uns der Populismus mit anderen Worten nicht dazu, dort bei uns selbst hinzusehen, wo es weh tut?“ Damals, im Juli 2019, schrieb ich, dass der in Akademikerkreisen geprägte „Begriff des Liberalismus meines Erachtens dazu beigetragen [hat], dass sich nicht nur die „breite Masse“, sondern auch scharfsinnige und aufgeschlossene Intellektuelle vom liberalen Status quo entfremdet haben und bevormundet fühlen.“ Leider muss ich feststellen, dass diese Entwicklung inzwischen noch deutlicher zutage tritt.
Bevor ich fortfahre, sollte ich jedoch eines anmerken: Meine heutigen Überlegungen, die zweifellos verwirrt und düster, möglicherweise auch streitlustig anmuten, sind meinem Lagerkoller und meiner Ratlosigkeit über die Ausgangssperre geschuldet. Möglicherweise fällt es mir so schwer, das Gespräch wieder aufzugreifen, weil ich fast sechs Wochen nach Einführung der Präventionsmaßnahmen in Kairo noch immer nicht weiß, wie ich das Corona-Phänomen einordnen soll. In den letzten sechs Briefen – von denen nur der letzte von Yvonne aktuell genug ist, um auf die Krise einzugehen – blitzen hier und da einige weit hergeholte optimistische Lichtblicke auf. Naren berichtet darüber, wie populistische Exzesse unter der Modi-Herrschaft dazu beitrugen, die Illusion einer nationalen Identität in Indien zu zerschlagen. Laut Maria deuten die jüngsten Proteste in Moskau trotz der düsteren Stimmung auf den weit verbreiteten Wunsch, den Mythos der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Carol bekräftigt ihren Glauben an die inklusive Demokratie und die nachhaltige Entwicklung. Doch in allen Beiträgen klingt eine böse Vorahnung an.
Noch bevor Begriffe wie „Lockdown“ und „Pandemie“ in unseren täglichen Wortschatz Einzug hielten, beschlich uns alle offensichtlich das Gefühl einer drohenden Gefahr, ganz unabhängig von unserem damaligen Aufenthaltsort. Daraus können wir ableiten, dass all die Gefühle, die Covid-19 bei uns ausgelöst hat, nämlich Angst, Enttäuschung über mangelnde Klarheit und, zumindest was mich betrifft, Wut angesichts der zerstörerischen Mischung aus Einmischung und Hysterie, nur eine konzentrierte Form der Gefühle sind, die wir ohnehin schon verspüren.
Das macht die Krise zu einem beeindruckenden Prisma. Je nach Standort und Umfeld gibt es mindestens genauso viele Mutationen des Populismus wie es Mutationen des SARS-CoV-Virus gibt.
Nun bin ich nicht der Auffassung, dass Populismus in irgendeiner Form heilsam sein könnte. Als ich in meinem letzten Brief von der Wahl einer „älteren und bewährteren Form“ der autoritären Herrschaft schrieb, wollte ich damit keineswegs sagen, dass dies etwas Positives oder Tugendhaftes sein könnte. Eine solche Herrschaft ist lediglich unter realistischen Erwägungen einer Situation vorzuziehen, in der ich sehr wahrscheinlich tot oder im Exil enden würde. Vielleicht können wir die positive Lehre daraus ziehen, dass wir einem Ausweg näherkommen, sobald wir erkennen, dass wir eine Geisteshaltung und keinen Glaubenssatz entwickelt und konserviert haben. Und auch diese Geisteshaltung ist eine Pandemie, durch die wir „näher zusammenrücken“, während wir gleichzeitig die von uns praktizierte soziale Isolation als moralische Entscheidung bezeichnen.
Derzeit greift eine Pandemie der schizoaffektiven Unvernunft um sich, die ein sonderbares Gefühl der Unruhe hinterlässt. Sie scheint sowohl der alternativen rechten Bewegung als auch dem linken Hashtag-Aktivismus zu entstammen, welche sich bei näherer Betrachtung nicht so sehr voneinander unterscheiden, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Natürlich dreht sich das ungeliebte Thema in diesem Zusammenhang um die einfache Tatsache, dass das globale Wirtschaftssystem den materiellen Bedarf der überwältigenden Mehrheit der Menschheit nicht mehr decken kann. (Und Menschen auf YouTube beim „Auspacken“ von Waren zuzuschauen, bevor man sie auf Amazon bestellt, reicht auch nicht aus, um eine Sinnhaftigkeit oder Bedeutsamkeit zu empfinden) In Wahrheit aber kann Unvernunft keine Alternative oder Lösung für einen immer aussichtloseren Status Quo bieten, sondern nur zu einer Verschlechterung der Lage führen.
Der Vergleich des Populismus mit einer grippeähnlichen Infektionskrankheit führt uns erneut die Grenzen unserer eigenen Rolle vor Augen, sei es als potenzielle Opfer oder als Mediziner*innen im Kampf gegen die Seuche. Was bleibt uns da anderes übrig, als dieselben Plattformen wie die Populisten zu nutzen und ihnen entweder voller Entsetzen zuzuschauen oder als leidenschaftliche und entschlossene Mahner aufzutreten?
Können wir dasselbe über den Populismus sagen? Und wenn nicht, welche treibende Kraft könnte hinter diesem infektiösen Bündel an Symptomen stehen? Wie lautet, mit anderen Worten, die Ätiologie der Apokalypse?
Mit diesem Gedanken möchte ich schließen. Doch zuvor möchte ich noch eine Sache sagen. Angesichts der Bedeutungslosigkeit von Covid-19 im Vergleich zu anderen existenziellen Bedrohungen war ich zunächst überrascht von Hashtags wie #coronapocalypse, wiederholten Erklärungen zum Ende der Welt und Aussagen wie „Wir werden alle sterben“. Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr erkenne ich diese eigenwillige Endzeitstimmung, die von Terror auf den Straßen und von einer, wie Experten wie John Ioannidis seitdem bestätigten, überwiegend verfrühten Überreaktion der politischen Entscheidungsträger bestimmt wurden, als Anzeichen für eine viel tieferliegende Erkrankung. Einer Erkrankung, mit deren Diagnose wir bereits begonnen haben, lange bevor wir an uns selbst mögliche Anzeichen einer Infektion beobachten konnten.
Ich habe keine Ahnung, wohin die Reise geht. Eines jedoch weiß ich mit Sicherheit: In nicht allzu ferner Zukunft werden wir alle in größeren wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken, weil wir zu Hause geblieben sind. Und ganz gleich, was wir sagen, wir können nicht behaupten, dass wir an irgendeinem Punkt auf diesem gesamten Weg einen Einfluss darauf hatten, was mit uns geschieht.
Passt auf euch auf, liebe Freundinnen und Freunde. Bleibt bei euch.
Y