Filmkunst, Debattenkultur und eine neue Chefin
Berlinale 2025
Zum 75. Jubiläum der Berlinale setzt Tricia Tuttle auf eine bewährte Mischung aus Arthouse-Kino und internationalen Stars. Doch nicht nur Filme – auch politische Debatten gehören zur Festival-DNA.
Auf der Suche nach Sinn und Normalität
Im Internationalen Wettbewerb konkurrieren 19 Filme aus 26 Ländern um den Goldenen und die Silbernen Bären. Thematisch kursieren viele Produktionen um Alltag und Privates, um Fragen nach Sinn und Zugehörigkeit. Filme wieHot Milkvon Rebecca Lenkiewicz oder die österreichische ProduktionMother’s Babyvon Johanna Moder beleuchten komplexe Mutter-Kind-Beziehungen. Im französischen RoadmovieArischickt Léonor Serraille einen jungen Lehrer auf die Suche nach sich selbst. Zwei Frauen und ein entführtes Mädchen stehen im Zentrum des chinesischen ThrillersGirls on Wirevon Vivian Qu. Einer der wenigen Beiträge, die sich mit einem aktuellen politischen Konflikt befassen, stammt aus der Ukraine:Timestampvon Kateryna Gornostai. Als einziger Dokumentarfilm des Wettbewerbs zeigt er eindringlich den Alltag von Lehrkräften und Schülern im Krieg.

„Strichka chasu“ (Timestamp). Regie Kateryna Gornostai | Foto (Detail): © Oleksandr Roshchyn
Hauptprogramm mit viel Arthouse-Kino
Zwei deutsche Produktionen könnten solides Arthouse-Kino bieten:Yunandes gebürtigen Ukrainers Ameer Fakher Eldin stellt einen lebensmüden arabischen Exilanten in den Mittelpunkt.Was Marielle weiß, der zweite Spielfilm von Frédéric Hambalek, ist eine tragikomische Familiengeschichte mit Julia Jentsch und Felix Kramer in den Hauptrollen.

Georges Khabbaz und Hanna Schygulla in „Yunan“. Regie Ameer Fakher Eldin | Foto (Detail): © 2025 Red Balloon Film, Productions Microclimat, Intramovies
Mehr als 400 Filme wurden für den Wettbewerb eingereicht, doch große Hollywood-Produktionen bleiben aus. Die Festivals in Cannes und Venedig scheinen für die Studios attraktiver zu sein als dasjenige im winterlichen Berlin. Auch deshalb setzt Tuttle auf eine bewährte Strategie: Das Hauptprogramm bietet eine starke Arthouse-Präsenz sowie eine ausgewogene Mischung aus Neuentdeckungen und etablierten Regisseuren. Namen wie der experimentierfreudige Rumäne Radu Jude, der US-Amerikaner Richard Linklater oder der Koreaner Hong Sang-soo (What Does That Nature Say to You) sorgen für internationale Aufmerksamkeit. Jude, der 2021 für seine bissige GesellschaftssatireBad Luck Banging or Loony Pornden Goldenen Bären erhielt, widmet sich inKontinental '25moralischen Konflikten.Blue Moonvon Richard Linklater über den Songwriter Lorenz Hart bringt mit Ethan Hawke und Margaret Qualley zudem Weltstars nach Berlin.

Margaret Qualley und Ethan Hawke in „Blue Moon”. Regie Richard Linklater | Foto (Detail): © Sabrina Lantos / Sony Pictures Classics
Von Tilda Swinton bis Benedict Cumberbatch: Stars zu Besuch in Berlin
Als erfahrene Festivalmacherin weiß Tuttle um die Sogkraft internationaler Stars. Filmfans und Autogrammjäger dürfen sich also freuen: Jessica Chastain reist mit dem mexikanischen WettbewerbsbeitragDreams(Regie: Michel Franco) an. Tilda Swinton wird bereits bei der Eröffnung dabei sein, weil sie für ihr Lebenswerk den Ehrenbären erhält. Timothée Chalamet bringt sein Bob-Dylan-PorträtLike A Complete Unknown(Regie: James Mangold)mit und sorgt für Glamour außerhalb des Wettbewerbs. Auch Robert Pattinson (Mickey 17, Regie: Bong Joon-ho) und Benedict Cumberbatch (The Thing with Feathers, Regie: Dylan Southern) kommen für Gala-Vorführungen nach Berlin.
Neu eingeführt: die SektionPerspectives
Gut 200 Filme laufen auf dem diesjährigen Festival, damit behält Tuttle eine schlanke Programmlinie bei. Mit Spannung erwartet wird der neue Wettbewerb „Perspectives” für Spielfilmdebüts, in dem 14 Produktionen konkurrieren. Den von Carlo Chatrian eingeführten Wettbewerb „Encounters” für innovative Produktionen hat Tuttle gestrichen. Zwar gehört die Nachwuchsförderung zur Aufgabe eines Festivals – doch stellt sich die Frage: Braucht es dafür eine eigene Sektion?

Anton Franke in „Mit der Faust in die Welt schlagen”. Spielfilmdebüt der Regisseurin Constanze Klaue | Foto (Detail): © 3B-Davis-Sutor Kolonko-Arte
Die Berlinale, 1951 als „Fenster zur freien Welt“ gegründet, war von Anfang an mehr als ein Filmfestival – sie war ein politisches Signal inmitten des Kalten Krieges, ein kultureller Brückenbauer. Bis heute versteht sich die Berlinale als Bühne für gesellschaftliche Debatten und als Spiegel globaler Konflikte. Dieser Anspruch bringt immer wieder Herausforderungen mit sich.
In seiner 75-jährigen Geschichte war das Festival oft Schauplatz politischer Auseinandersetzungen – von der Eskalation um Michael Verhoevenso.kim Jahr 1970, die zum ersten und einzigen Abbruch des Festivals führte, bis hin zu den Kontroversen um die jüngste Ausgabe 2024, als Statements zum Israel-Gaza-Krieg eine Antisemitismus-Diskussion auslösten. Diese Spannungen zeigen: Ein Festival zu sein bedeutet auch, eine Balance zu finden zwischen Meinungsfreiheit und einem respektvollen Diskurs.

Marion Cotillard im Wettbewerbsfilm „La Tour de Glace“ (The Ice Tower). Regie Lucile Hadžihalilović | Foto (Detail): © 3B-Davis-Sutor Kolonko-Arte
Tricia Tuttle betonte auf der diesjährigen Programmkonferenz, dass ihr Team viel Energie darauf verwendet habe, die Wogen zu glätten, ohne die Offenheit des Festivals zu gefährden: „Die Berlinale muss ein Ort bleiben, an dem unterschiedliche Perspektiven auf politische Konflikte diskutiert werden können.“ Gleichzeitig mahnt sie, das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren: die Filme. Denn sie sind es, die gesellschaftliche Realitäten einfangen, neue Blickwinkel eröffnen – und die Berlinale zu dem machen, was sie ist. Ob das Festival diesen Balanceakt meistert, wird sich in den kommenden Tagen zeigen: auf der Leinwand, in den Debatten und in der Frage, wie weit Kunst, Meinungsfreiheit und Politik miteinander verhandelt werden können.