Vom 17.06.-5.07.2024 fand die Workshop- und Veranstaltungsreihe des Goethe-Instituts Athen in Zusammenarbeit mit dem Institut Français de Gréce „Engaged Scenography“ zum Feld zeitgenössischer Szenografie mit neuen Ansätzen und Fragen zur Nachhaltigkeit im Bereich Bühnenbild statt. Acht internationale Theatermacher*innen boten Studierenden und jungen Künstler*innen aus den Bereichen Tanz und Theater sowie Architektur und Bühnenbild die Möglichkeit zur gemeinsamen Erforschung neuer Formate im urbanen Raum.
Die Theaterjournalistin Eva Behrendt, Redakteurin des Fachmagazins Theater Heute, war vor Ort und schildert ihre Eindrücke.
Auf einer Probebühne des sommerlich verwaisten Athener Nationaltheaters sitzen ein Dutzend junger Frauen und ein Mann auf dem Boden, jede*r in einer Insel aus alten Familienfotos und ausgeschnittenen Bildern. Nach zwei fast therapeutischen Tagen autobiografischer Arbeit mit dem jungen albanischen Regisseur Mario Banushi und seinem Bühnenbildner Sotiris Melanos haben sich die Workshop-Teilnehmer:innen in den Auftrag vertieft, jeweils auf einem Bogen Papier ihre persönliche Erinnerungsbühne zu gestalten. Nach mehreren Stunden in konzentrierter Atmosphäre zeigen alle ihre Werke und erläutern sie knapp. Eine hat sogar ein kleines Papierkino gebaut – die Erinnerung an einen Sommertag in Berlin zieht sie langsam als Fotostreifen durch ein weißes Fenster.
„Engaged Scenography“ heißt die Workshop- und Veranstaltungsreihe, die das Goethe-Institut Athen und das Institut Français de Grèce gemeinsam auf die Beine gestellt haben.
Die griechische Metropole ist eine so traditionsreiche wie lebendige Theaterstadt, parallel zu „Engaged Scenography“ findet gerade das sich über mehrere Wochen erstreckende internationale „Athens Epidauros Festival“ statt, nun schon zum zweiten Mal in Verbindung mit dem griechischen Showcase „Grape“, in dem junge Regisseure wie Mario Banushi ihre Arbeiten zeigen. Der 24-jährige Shooting-Star der griechischen Theaterszene ist mit seiner autobiografischen Trilogie „Ragada“, „Goodbye, Lindita“ und „Taverna Miresia: Mario, Bella, Anastasia“ bereits um die halbe Welt getourt; in seinen profanen, aber mystisch aufgeladenen Erinnerungsräumen – ein Badezimmer, die Taverne seines Vaters – findet Familiengeschichte als magisches Ritual und Bildertheater statt, in dem plötzlich ein Weizenfeld vor der Waschmaschine wogt.
In der Regel jedoch, hat Goethe-Kulturprogrammleiterin Stefanie Peter beobachtet, steht Szenografie im griechischen Theater eher selten im Fokus: Oft lassen die vergleichsweise knappen Budgets wenig Raum für die Umsetzung ambitionierter Ideen. Deshalb, aber auch vor dem Hintergrund neuer Nachhaltigkeits-Debatten, waren junge Tanz- und Theaterschaffende sowie Studierende vor allem von Architektur und Bühnenbild eingeladen, sich in die Workshops von acht Theatermacher*innen einzuschreiben. Dabei machte bereits die Auswahl der eingeladenen Künstler:innen Stefanie Peter und Institut-Français-Kulturattaché Anouk Rigéade klar, dass Szenografie hier nicht als räumliche Illustration eines Plots oder Textes verstanden wird, sondern als eigenständige Kunst, die der Dramaturgie einer Aufführung, vor allem aber den Körpern der Performenden entscheidende Impulse verleihen kann –und umgekehrt.
So etwa in den Arbeiten der Bühnenbildnerin und Bildenden Künstlerin Doris Dziersk, in denen Objekte und Elemente zu Protagonisten ganzer Performances werden können. Dziersk arbeitet etwa –auch in ihrem Athener Workshop –mit Luft als zentralem Agenten; sie konstruiert Objekte, die schweben können, und arbeitet mit den spezifischen Eigenschaften von Luft in Raum und Zeit.
Stadt als Bühne
Umgekehrt kann das Interesse an bestimmten Körperpraktiken aber auch szenografische Weichen stellen. So luden die Wiener Regisseurin Florentina Holzinger und ihr Bühnenbildner Nikola Knezevic zu einem Workshop im Athener Skate Café «Latraac» ein, ein lauschiger Garten mitten in der Innenstadt, dominiert von einer hölzernen Halfpipe. Eine solche hat auch in Holzinger/Knezevics jüngster Opern-Inszenierung «Sancta» eine wichtige Rolle gespielt –abgeleitet vom Interesse der Choreografin für akrobatische Körper- und Stunttechniken. Für Holzingers Erforschung grenzgängerischer Praktiken wie Apnoe-Tauchen oder Body Suspension findet Knezevic bühnentaugliche Lösungen wie Aquarien oder Kletterwände. Mit frei produzierten Arbeiten geht Holzinger aber auch häufig direkt in den Stadtraum, dorthin, wo Jugendliche Sportarten und popkulturelle Lifestyles wie Parcouring oder Skaten entwickeln, und inszeniert auf Parkdecks und an Baukränen.
Auch die griechische Künstlerin Nefeli Papadimouli, die zwischen Athen und Paris, Architektur und Kultur pendelt, nutzt den Stadtraum als Inspirationsquelle für ihre performativen Installationen von eigentümlicher Schönheit. Sie greift formale und farbliche Elemente der architektonischen Umgebung auf, übersetzt sie in textile Entwürfe, die zu Fahnen, Körperhüllen, Stoffräumen werden und mit den Beton- und Steinlandschaften in eigenwilligen Dialog treten –so auch bei der Präsentation ihrer Workshopteilnehmerinnen auf dem Dach des Institut Français zum Sonnenuntergang.
Probleme der Nachhaltigkeit
„Was ist Szenografie heute?“ Zukunftsweisende Antworten auf diese Frage versuchten etwa zur Halbzeit der Reihe Künstler*innen im Institut Français zu geben. Der französische Theatermacher Samuel Valensi bringt gleich als erstes seine Anreise nach Athen per Bahn, Bus und Schiff als Statement ins Spiel: Einerseits dauere das CO2-ärmere Reisen ohne Flugzeug länger, andererseits habe er unterwegs lauter interessante Leute getroffen und neue Bekanntschaften geknüpft. Überhaupt argumentiert Valensi vor allem als Aktivist. Klimafreundliche Entscheidungen würden am ehesten getroffen, wenn Helden der Popkultur oder Protagonist:innen fiktiver Erzählungen in Film und Theater sie vormachen: «Nous sommes des animaux mimétiques» („Wir sind mimetische Tiere“). Darüber hinaus wirbt er für eine ethische Kunst, in der Produktion und Repräsentation kohärent sind, also Nachhaltigkeit nicht nur gepredigt, sondern auch praktiziert wird. Gleich die erst Anmerkung aus dem Publikum galt allerdings dem tragischen Zugunglück 2023 in Griechenland, bei dem 57 Menschen starben.
Der griechische Künstler Adonis Volanakis wiederum hat eine sehr freie Auffassung davon, was Szenografie sein kann:Mit Joseph Beuys könnte man bei ihm von Bühne als sozialer und performativer Plastik sprechen. Volanakis, der sich als „Host Servant“ (Gastdiener) und „performative social weaver“ betrachtet, schafft künstlerische Begegnungen mit Expertinnen des Alltags, in denen traditionelle Kulturtechniken wie Backen, Weben, Kochen als plastische Künste betrachtet und in den Kontext antiker Mythologie gestellt werden. Dazu sucht er vor allem private und semiprivate Räume auf; die Szenografie ergibt sich aus dem Umfeld der Expert*innen, mit denen er kooperiert. Das Framing von Alltagsräumen als Theaterbühne hat eine eigene Tradition, die eng mit Formen des Dokumentartheaters und sitespecific Performances verknüpft ist:Es ermöglicht dem Publikum eine andere Wahrnehmung der Realität.
Ganz praktisch wiederum skizzierte der Bühnenbildner Ralph Zeger viele kleinteilige Bemühungen im Szenografie-Bund und der DTHG (Deutsche Theatertechnische Gesellschaft), um Grundlagen für ein nachhaltigeres Produzieren in der deutschen Theaterlandschaft zu schaffen, vor allem durch Digitalisierung und Netzwerke, die das Recycling von Materialien und Wirtschaften im Kreislauf ermöglichen. Hier wurde deutlich, wie stark die Organisation von Theater Einfluss auf die Kunst nimmt. Das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater ist zwar auf Effektivität getrimmt, gerät aber bei zusätzlichen Anforderungen auch sehr schnell an seine Grenzen, etwa wenn noch mehr Material eingelagert werden soll oder in der Kürze der Probenzeit nachhaltige Alternativen nicht recherchiert oder bezahlt werden können.
Die Rolle des Körpers
In dieser Hinsicht sind Theatermacher*innen außerhalb des Stadt- und Staatstheaters trotz oder wegen oft kleinerer Budgets und Infrastruktur freier und auf mehr Improvisation angewiesen. Dass auch damit eindrucksvolle Kunst entstehen kann, zeigte Nadia Beugrés Tanzperformance «Quartiers libres», die mit nichts als Müllsäcken und Plastikflaschen als Requisiten auskommt. Die im Senegal und bei Mathilde Monnier ausgebildete Choreografin aus Cote d’Ivoire tourt mit dieser ursprünglichen Solo-Produktion seit 2012. Beugré, die auch in mehreren Gintersdorfer-Klaßen-Produktionen performt hat, arbeitet in ihrem Athener Workshop mit fünf jungen und älteren Frauen, Profis und Studierenden zusammen. Im Parko Eleftherias, wo 2017 die documenta 14 eine geschichtsträchtige Villa als Headquarter bezogen hatte, zeigen Beugré und ihre Mitstreiterinnen an einem heißen Sommerabend ihre Version von «Quartiers libres».
Die Performance beginnt draußen auf dem Platz vor der Villa. Die Frauen halten sich große schwarze Müllbeutel wie Tücher um den Kopf oder wie Röcke um die Hüften, schmiegen sich an den Kunststoff, fordern das Publikum gestisch zur Mithilfe auf. Nach einer Weile verlagert sich die das Geschehen in die Villa: ein weißer Galerieraum, in dem Skulpturen aus leeren Plastikflaschen stehen. Die Frauen singen ein griechisches Volkslied, schwingen weiter die Mülltüten, schlagen mit ihnen in die Luft, rhythmisch, immer heftiger, als gelte es, Geister zu vertreiben. Schließlich stopfen sie sich die Tüten in den Mund, würgen fast daran. Jetzt schaltet sich auch Nadia Beugré ein, greift nach einer der Skulpturen aus Plastikflaschen, die sich als rüstungsartige Shirts entpuppen, in die die Tänzerinnen hineinschlüpfen können. Wieder draußen, auf dem Vorplatz, wirft Beugré sich mit voller Wucht auf den Boden –die PET-Flaschen federn ihren Sturz ab, springen aber auch prasselnd in alle Richtungen davon. Später erzählt Nadia Beugré, dass «Quartiers libres» vom Annehmen und Abstreifen einer Plastik-Identität handelt, von Fremdzuschreibungen und Verletzungen, die man sich anzieht, aber auch wieder loswerden kann. Letztlich ist der Körper das szenografische Zentrum, das «Quartier libre», das es zu erobern gilt.
Zur Person
Die Autorin Eva Behrendt ist Redakteurin des Fachmagazins Theater heute und im Beirat Theater/Tanz. Aktuell ist sie Mitglied in der Jury des Berliner Theatertreffens.
Die Theaterjournalistin Eva Behrendt, Redakteurin des Fachmagazins Theater Heute, war vor Ort und schildert ihre Eindrücke.
„Engaged Scenography“ heißt die Workshop- und Veranstaltungsreihe, die das Goethe-Institut Athen und das Institut Français de Grèce gemeinsam auf die Beine gestellt haben.
Die griechische Metropole ist eine so traditionsreiche wie lebendige Theaterstadt, parallel zu „Engaged Scenography“ findet gerade das sich über mehrere Wochen erstreckende internationale „Athens Epidauros Festival“ statt, nun schon zum zweiten Mal in Verbindung mit dem griechischen Showcase „Grape“, in dem junge Regisseure wie Mario Banushi ihre Arbeiten zeigen. Der 24-jährige Shooting-Star der griechischen Theaterszene ist mit seiner autobiografischen Trilogie „Ragada“, „Goodbye, Lindita“ und „Taverna Miresia: Mario, Bella, Anastasia“ bereits um die halbe Welt getourt; in seinen profanen, aber mystisch aufgeladenen Erinnerungsräumen – ein Badezimmer, die Taverne seines Vaters – findet Familiengeschichte als magisches Ritual und Bildertheater statt, in dem plötzlich ein Weizenfeld vor der Waschmaschine wogt.
In der Regel jedoch, hat Goethe-Kulturprogrammleiterin Stefanie Peter beobachtet, steht Szenografie im griechischen Theater eher selten im Fokus: Oft lassen die vergleichsweise knappen Budgets wenig Raum für die Umsetzung ambitionierter Ideen. Deshalb, aber auch vor dem Hintergrund neuer Nachhaltigkeits-Debatten, waren junge Tanz- und Theaterschaffende sowie Studierende vor allem von Architektur und Bühnenbild eingeladen, sich in die Workshops von acht Theatermacher*innen einzuschreiben. Dabei machte bereits die Auswahl der eingeladenen Künstler:innen Stefanie Peter und Institut-Français-Kulturattaché Anouk Rigéade klar, dass Szenografie hier nicht als räumliche Illustration eines Plots oder Textes verstanden wird, sondern als eigenständige Kunst, die der Dramaturgie einer Aufführung, vor allem aber den Körpern der Performenden entscheidende Impulse verleihen kann –und umgekehrt.
So etwa in den Arbeiten der Bühnenbildnerin und Bildenden Künstlerin Doris Dziersk, in denen Objekte und Elemente zu Protagonisten ganzer Performances werden können. Dziersk arbeitet etwa –auch in ihrem Athener Workshop –mit Luft als zentralem Agenten; sie konstruiert Objekte, die schweben können, und arbeitet mit den spezifischen Eigenschaften von Luft in Raum und Zeit.
Stadt als Bühne
Umgekehrt kann das Interesse an bestimmten Körperpraktiken aber auch szenografische Weichen stellen. So luden die Wiener Regisseurin Florentina Holzinger und ihr Bühnenbildner Nikola Knezevic zu einem Workshop im Athener Skate Café «Latraac» ein, ein lauschiger Garten mitten in der Innenstadt, dominiert von einer hölzernen Halfpipe. Eine solche hat auch in Holzinger/Knezevics jüngster Opern-Inszenierung «Sancta» eine wichtige Rolle gespielt –abgeleitet vom Interesse der Choreografin für akrobatische Körper- und Stunttechniken. Für Holzingers Erforschung grenzgängerischer Praktiken wie Apnoe-Tauchen oder Body Suspension findet Knezevic bühnentaugliche Lösungen wie Aquarien oder Kletterwände. Mit frei produzierten Arbeiten geht Holzinger aber auch häufig direkt in den Stadtraum, dorthin, wo Jugendliche Sportarten und popkulturelle Lifestyles wie Parcouring oder Skaten entwickeln, und inszeniert auf Parkdecks und an Baukränen.
Auch die griechische Künstlerin Nefeli Papadimouli, die zwischen Athen und Paris, Architektur und Kultur pendelt, nutzt den Stadtraum als Inspirationsquelle für ihre performativen Installationen von eigentümlicher Schönheit. Sie greift formale und farbliche Elemente der architektonischen Umgebung auf, übersetzt sie in textile Entwürfe, die zu Fahnen, Körperhüllen, Stoffräumen werden und mit den Beton- und Steinlandschaften in eigenwilligen Dialog treten –so auch bei der Präsentation ihrer Workshopteilnehmerinnen auf dem Dach des Institut Français zum Sonnenuntergang.
„Was ist Szenografie heute?“ Zukunftsweisende Antworten auf diese Frage versuchten etwa zur Halbzeit der Reihe Künstler*innen im Institut Français zu geben. Der französische Theatermacher Samuel Valensi bringt gleich als erstes seine Anreise nach Athen per Bahn, Bus und Schiff als Statement ins Spiel: Einerseits dauere das CO2-ärmere Reisen ohne Flugzeug länger, andererseits habe er unterwegs lauter interessante Leute getroffen und neue Bekanntschaften geknüpft. Überhaupt argumentiert Valensi vor allem als Aktivist. Klimafreundliche Entscheidungen würden am ehesten getroffen, wenn Helden der Popkultur oder Protagonist:innen fiktiver Erzählungen in Film und Theater sie vormachen: «Nous sommes des animaux mimétiques» („Wir sind mimetische Tiere“). Darüber hinaus wirbt er für eine ethische Kunst, in der Produktion und Repräsentation kohärent sind, also Nachhaltigkeit nicht nur gepredigt, sondern auch praktiziert wird. Gleich die erst Anmerkung aus dem Publikum galt allerdings dem tragischen Zugunglück 2023 in Griechenland, bei dem 57 Menschen starben.
Der griechische Künstler Adonis Volanakis wiederum hat eine sehr freie Auffassung davon, was Szenografie sein kann:Mit Joseph Beuys könnte man bei ihm von Bühne als sozialer und performativer Plastik sprechen. Volanakis, der sich als „Host Servant“ (Gastdiener) und „performative social weaver“ betrachtet, schafft künstlerische Begegnungen mit Expertinnen des Alltags, in denen traditionelle Kulturtechniken wie Backen, Weben, Kochen als plastische Künste betrachtet und in den Kontext antiker Mythologie gestellt werden. Dazu sucht er vor allem private und semiprivate Räume auf; die Szenografie ergibt sich aus dem Umfeld der Expert*innen, mit denen er kooperiert. Das Framing von Alltagsräumen als Theaterbühne hat eine eigene Tradition, die eng mit Formen des Dokumentartheaters und sitespecific Performances verknüpft ist:Es ermöglicht dem Publikum eine andere Wahrnehmung der Realität.
Ganz praktisch wiederum skizzierte der Bühnenbildner Ralph Zeger viele kleinteilige Bemühungen im Szenografie-Bund und der DTHG (Deutsche Theatertechnische Gesellschaft), um Grundlagen für ein nachhaltigeres Produzieren in der deutschen Theaterlandschaft zu schaffen, vor allem durch Digitalisierung und Netzwerke, die das Recycling von Materialien und Wirtschaften im Kreislauf ermöglichen. Hier wurde deutlich, wie stark die Organisation von Theater Einfluss auf die Kunst nimmt. Das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater ist zwar auf Effektivität getrimmt, gerät aber bei zusätzlichen Anforderungen auch sehr schnell an seine Grenzen, etwa wenn noch mehr Material eingelagert werden soll oder in der Kürze der Probenzeit nachhaltige Alternativen nicht recherchiert oder bezahlt werden können.
In dieser Hinsicht sind Theatermacher*innen außerhalb des Stadt- und Staatstheaters trotz oder wegen oft kleinerer Budgets und Infrastruktur freier und auf mehr Improvisation angewiesen. Dass auch damit eindrucksvolle Kunst entstehen kann, zeigte Nadia Beugrés Tanzperformance «Quartiers libres», die mit nichts als Müllsäcken und Plastikflaschen als Requisiten auskommt. Die im Senegal und bei Mathilde Monnier ausgebildete Choreografin aus Cote d’Ivoire tourt mit dieser ursprünglichen Solo-Produktion seit 2012. Beugré, die auch in mehreren Gintersdorfer-Klaßen-Produktionen performt hat, arbeitet in ihrem Athener Workshop mit fünf jungen und älteren Frauen, Profis und Studierenden zusammen. Im Parko Eleftherias, wo 2017 die documenta 14 eine geschichtsträchtige Villa als Headquarter bezogen hatte, zeigen Beugré und ihre Mitstreiterinnen an einem heißen Sommerabend ihre Version von «Quartiers libres».
Die Performance beginnt draußen auf dem Platz vor der Villa. Die Frauen halten sich große schwarze Müllbeutel wie Tücher um den Kopf oder wie Röcke um die Hüften, schmiegen sich an den Kunststoff, fordern das Publikum gestisch zur Mithilfe auf. Nach einer Weile verlagert sich die das Geschehen in die Villa: ein weißer Galerieraum, in dem Skulpturen aus leeren Plastikflaschen stehen. Die Frauen singen ein griechisches Volkslied, schwingen weiter die Mülltüten, schlagen mit ihnen in die Luft, rhythmisch, immer heftiger, als gelte es, Geister zu vertreiben. Schließlich stopfen sie sich die Tüten in den Mund, würgen fast daran. Jetzt schaltet sich auch Nadia Beugré ein, greift nach einer der Skulpturen aus Plastikflaschen, die sich als rüstungsartige Shirts entpuppen, in die die Tänzerinnen hineinschlüpfen können. Wieder draußen, auf dem Vorplatz, wirft Beugré sich mit voller Wucht auf den Boden –die PET-Flaschen federn ihren Sturz ab, springen aber auch prasselnd in alle Richtungen davon. Später erzählt Nadia Beugré, dass «Quartiers libres» vom Annehmen und Abstreifen einer Plastik-Identität handelt, von Fremdzuschreibungen und Verletzungen, die man sich anzieht, aber auch wieder loswerden kann. Letztlich ist der Körper das szenografische Zentrum, das «Quartier libre», das es zu erobern gilt.
Zur Person
Die Autorin Eva Behrendt ist Redakteurin des Fachmagazins Theater heute und im Beirat Theater/Tanz. Aktuell ist sie Mitglied in der Jury des Berliner Theatertreffens.