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Eine lebendige Erinnerungskultur
Jüdische Notenspuren

Werner Schneider
© Sven Winter

Leipzigs Musiktradition erlebbar und hörbar zu machen – das ist das Anliegen der Leipziger Notenspur-Initiative. Auf individuellen Entdeckungsrouten führt sie an authentische Orte Leipziger Musikgeschichte bis in die Gegenwart und macht die Menschen hinter der Musik nahbar. Zum Musikerbe Leipzigs gehört neben berühmten Komponisten auch die Kultur ihrer jüdischen Bewohner, deren Beitrag seit der Shoah nur noch wenig im Gedächtnis der Leipziger*innen präsent ist. Diesem verloren gegangenen Kulturerbe möchte Professor Werner Schneider, Initiator der Leipziger Notenspur, wieder ein „Zuhause“ im Stadtgedächtnis geben. Zum Internationalen Holocaust-Gedenktag haben wir mit ihm über die jüdischen Notenspuren in Leipzig gesprochen.
 

Von Felix Tamsut

Wie ist die Idee der Leipziger Notenspur entstanden?

Das Musikerbe Leipzigs ist außergewöhnlich und durchaus mit Wien zu vergleichen. Hier haben neben Johann Sebastian Bach so viele berühmte Komponisten auf engem Raum in wenigen Jahrhunderten gelebt. Irgendwann ist mir aufgefallen: Wir haben hier die beiden Uraufführungskirchen von Bach, die Thomaskirche und die Nikolaikirche, sie gehören fest zur Musikstadt Leipzig. Aber was ist eigentlich mit den großen Synagogen? Ist da auch Musik gemacht worden? Wie wurde die jüdische Musik in der Stadt wahrgenommen?

Durch die intensive, bösartige Verfolgung durch die Nationalsozialisten ist das jüdische Musikerbe völlig ausgelöscht worden, nicht nur die Menschen und das jüdische Leben, sondern auch die Erinnerung daran, sodass die jüdische Musik im Stadtgedächtnis gar nicht mehr gegenwärtig ist, während das übrige Musikerbe weiterhin sehr präsent ist.

Wir haben uns gefragt: Können wir es schaffen, dieses verlorengegangene Erbe im Gedächtnis der Stadt wiederzuerwecken?


Welche Rolle spielen jüdische Menschen in der Musikgeschichte Leipzigs?

Ich habe mich mit der Musik in den Synagogen beschäftigt, aber nicht nur dort. Auch an dem von Felix Mendelssohn Bartholdy gegründeten Konservatorium in Leipzig gab es jüdische Studierende und Lehrende. Salomon Jadassohn, der die Musik zur Einweihung der großen Gemeindesynagoge 1855 komponiert hat, war Professor im Konservatorium und Ehrendoktor der Leipziger Universität. Es war eine Zeit, in der es keine antisemitische Grundstimmung in der Stadt gab, sondern es war ein Miteinander. Als Beispiel: Der Leipziger Synagogalchor hatte zur Einweihung der Synagoge nicht genug Sängerinnen und Sänger und so haben sie beim Thomanerchor, dem Chor der evangelischen Kirche angefragt, ob sie bei der Einweihung der Synagoge mitsingen würden, und sie haben ja gesagt.

Wenn man sich mit dieser Geschichte beschäftigt, findet man viele positive Beispiele für das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden, an die wir anknüpfen können und wollen, ohne dabei das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte zu vergessen.

Über die Musik können wir die vielen Facetten des jüdischen Lebens darstellen, und Juden und Jüdinnen nicht nur als Opfer der Verfolgung durch uns Deutsche wahrnehmen, sondern auch als Menschen, die mit ihrer Kultur und reichen Tradition viel zu geben hatten und haben.

Das sagt uns auch die jüdische Gemeinde immer wieder: Wir haben etwas zu geben, unser Hauptanliegen ist nicht, euch ein schlechtes Gewissen zu machen, wir wollen miteinander etwas Neues machen.

Es gibt an vielen Stellen die Angst, aus Versehen etwas falsch zu machen, weil man die Kultur nicht kennt. Dabei wollen wir ja gerade Möglichkeiten eines guten Miteinanders beleuchten.



Wie schaffen Sie es, das jüdische Kulturerbe zurück ins Gedächtnis zu bringen?

Wir wollen persönliche Erfahrung mit jüdischer Kultur ermöglichen. Wir machen keinen Bogen um alles Jüdische, weil es vielleicht mit schlechtem Gewissen, Berührungsängsten und dem Versagen unserer Großeltern oder Urgroßeltern verbunden wäre. Es gibt an vielen Stellen die Angst, aus Versehen etwas falsch zu machen, weil man die Kultur nicht kennt. Dabei wollen wir ja gerade Möglichkeiten eines guten Miteinanders beleuchten.

Die Notenspur ist ein Projekt, das die authentischen Orte, an denen die Musik entstanden ist, miteinander auf einer Art Pilgerweg verbindet. Einige der wichtigsten Komponisten haben in Gebäuden gelebt, die trotz des Zweiten Weltkriegs erhalten sind, aber nie als Museum genutzt wurden. So gut wie niemand wusste in der DDR-Zeit davon. Nach der Wende 1989 wurden diese Häuser von Musikvereinen allmählich wieder hergerichtet und öffentlich zugänglich gemacht, als „die Wohnung von Mendelssohn“ oder „das Winterquartier von Grieg“. Seitdem wir diese „Wohnorte“ wieder haben, kommen sie zurück in das Gedächtnis der Stadt, die Musiker werden in der Erinnerung sozusagen wieder zu Leipzigern.

Genauso wollten wir das jüdische Kulturerbe wieder in der Stadt sichtbar machen, über authentische Orte, die mit der Musik verbunden sind. So wird deutlich: Jüdisches Leben ist nicht irgendwas Fremdes, das woanders stattfindet, sondern es ist genau hier ganz nah in unserer Stadt.


Sie nutzen Musik auch, um etwas über die Menschen dahinter zu erfahren, wie muss man sich das vorstellen?

Von vielen jüdischen Menschen gibt es keine Nachlässe mehr, weil sie erst vor Pogromen aus dem Osten geflüchtet waren, dann 1938 wieder in den Osten abgeschoben und von dort in die Vernichtungslager geschickt wurden. Wir kennen teilweise gerade mal ihre Namen aus den Gemeinderegistern. Die Personen dahinter bleiben uns fremd. Da ist die Musik eine wunderbare Sprache, die persönlich und authentisch ist. Musik schafft einen unmittelbaren Zugang zu den Menschen. Ich höre zum Beispiel sofort, ob ein Mensch traurig war. Ich mache das gerne mit Kindern. Wir spielen Synagogenmusik, sie machen die Augen zu und wir fragen sie anschließend, wie sie die Musik fanden. Der eine sagt „komisch“, der andere „feierlich“, die nächste „geheimnisvoll“ und so weiter. Wenn man Musik von Jom Kippur spielt, klingt sie ganz traurig, obwohl es um Versöhnung geht, was ja eigentlich etwas Schönes ist. Dann sprechen wir darüber: Warum brauchen wir Versöhnung? Weil vorher etwas passiert ist, was traurig war, weil etwas schief gelaufen ist.

Das funktioniert mit allen Kindern, egal in welcher Kultur sie groß geworden sind. Wir machen das Projekt auch mit Schulen, die einen großen Migrationsanteil haben, manche bis zu 80 Prozent. Wenn wir dort erzählen, dass jüdische Menschen aus Deutschland flüchten mussten, sagen manchmal Kinder: Wir sind mit unseren Eltern auch geflüchtet. Es gibt strukturellen Antisemitismus im arabischen Raum, und die Kinder kennen das oft nicht anders. Aber allein durch die Tatsache, dass sie auch geflüchtet sind, entsteht eine Nähe zwischen den beiden Kulturen. Und wenn wir uns jüdische orthodoxe Musik anhören, sagen arabische Kinder uns oft: „Das klingt ja wie unsere Musik“. Wenn die Kinder zurück in der Schule sind, werden sie gefragt, was schön war. Eine arabische Schülerin hat mal geschrieben: Jüdische Musik ist schön.

Musik ist wie eine gemeinsame Muttersprache. Und das ist natürlich toll, wenn man diese Fremdheit durch Musik überwinden kann. Und am Ende sagen viele: Wir stehen uns näher und wir verstehen uns besser, als manche uns glauben machen wollen.


Wie reagieren Jüdinnen und Juden auf das Projekt?

Wenn ich jüdischen Freunden über das Erinnerungsprojekt erzähle, bin ich erstmal zurückhaltend, weil ich niemanden vor den Kopf stoßen will, denn viele Erinnerungsprojekte in Deutschland werden ja aus einer nicht-jüdischen Perspektive durchgeführt. Doch die Reaktionen sind positiv und der Grundtenor ist: Alles, was von Herzen kommt, ist richtig.

Besonders froh bin ich, dass wir in diesem Jahr mit der israelischen Cellistin Ayala Sivan Levi zusammenarbeiten konnten, weil damit immer auch die jüdische Perspektive präsent war. Sie war auf einmal in dem Land, in dem alles passiert ist, und sah, wie Menschen in Deutschland mit der Vergangenheit umgehen. Dabei wurde sie selbst Teil der Erinnerung, als sie bei einer Gedenkveranstaltung an einem KZ-Außenlager ein Musikstück vortrug. Gleichzeitig werden dort alle Anwesenden zu Erinnerungsträgern, indem sie zur Musik die Namen der Menschen lesen, derer sie dort gedenken.


Warum ist es wichtig, kulturelle Mittel wie Musik zu nutzen, um diese Brücke zu bauen?

Es gibt nur wenige Deutsche, die persönliche Erfahrungen aus der Begegnung mit jüdischen Menschen und ihrer Kultur haben. Das ist mit viel Unsicherheit verbunden. Es ist uns auch deswegen wichtig, dass schöne Erfahrungen mit der jüdischen Kultur gemacht werden, und das funktioniert eben durch authentische Orte und über die dadurch hergestellte Nähe zur eigenen Lebensrealität. Musik kann helfen, diese Themen wirklich ins Herz zu bringen und sie erlebbar zu machen.

Wir hatten jetzt einen Kompositionswettbewerb für das 100. Weihe-Jubiläum der Ez-Chaim-Synagoge. Dazu konnten junge Studierende der Komposition, unter anderem aus Israel, Musik des ehemaligen Oberkantors der Synagoge, die uns noch erhalten ist, als Inspirationsquelle für ihre eigenen Kompositionen nutzen. So wurden sie selbst zu Entdeckern dieser Musik und Teil der lebendigen Erinnerung dieser musikalischen Tradition.

Wir sind noch lange nicht am Ende des Projekts, aber wir sehen langsam, wie manche Saat aufgeht und das ist sehr erfreulich.
 
Professor Werner Schneider ist Physiker und leitet das Notenspur-Projekt Leipzig mit dem Teilprojekt „Jüdische Notenspuren“ ehrenamtlich. 2020 wurde er für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

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