„Take Me to the River“
Ein lebendiges Archiv
In der Online-Ausstellung „Take Me to the River“ von Goethe-Institut und Prince Claus Fund beschäftigen sich Künstler*innen mit den Folgen des Klimawandels für die indigene Bevölkerung. Die Kuratorin Maya El Khalil und ihre Assistentin Danielle Makhoul sprechen im Interview über die Schnittstelle von Kunst und Nachhaltigkeit und die Bedeutung indigener Perspektiven in der Kunst.
Von Natascha Holstein
Frau Khalil und Frau Makhoul, welche Rolle übernimmt für Sie die Kunst in der Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte?
Maya El Khalil: Kunst verfügt über vielfältige Funktionen. Es eröffnet sich ein zusätzlicher Raum, der das gängige Narrativ ergänzt. In herausfordernden Zeiten wie diesen geht die Rolle der Kunst über die Sensibilisierung hinaus. Es geht um Unterbrechung, Verwicklung, aber auch um Fantasie und Hoffnung. Kunst erhält ein Gefühl der Verbundenheit trotz der Fragmentierung unserer modernen Welt. Für mich ist Kunst kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.
Danielle Makhoul: Kunst hat in einer solchen Debatte die Fähigkeit, durch künstlerische Ausdrucksformen und eine empathische Annäherung neue Perspektiven zu eröffnen. Die Naturportraits der einzelnen Projekte für die Ausstellung „Take Me to the River“ sind in vielen Fällen von einer beeindruckenden und traurigen Schönheit. Doch Kunst hat auch die Fähigkeit, Emotionen wie Angst hervorzurufen. Angst vor der Tatsache, dass uns die Natur tatsächlich auf die Anklagebank bringt und angesichts unseres langanhaltenden Missbrauchs zum Gegenschlag ansetzt.
Marta Andreu, die Gründerin von Residencias Walden, einem Residenzprogramm für Dokumentarfilmer*innen in Lateinamerika, sagte in einem unserer Gespräche etwas, das Maya und mir danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist: „Wenn du verstehst, dass ein Baum ein Lebewesen ist und kein Objekt, das dir nach Belieben zur Verfügung steht, dann begreifst du auch, dass du es nicht missbrauchen, sondern achten solltest.“ Darum geht es in diesem Projekt: Die Betrachter*innen sollen über die Gefühlsebene dazu bewegt werden, eine Landschaft als Subjekt und nicht als Objekt wahrzunehmen. Und genau das vermag die Kunst.
Maya El Khalil: Wir haben versucht, neue Konzepte zusammenzubringen, neue Wege, die Klimakrise zu quantifizieren und zum Handeln zu inspirieren. Die Projekte der Ausstellung sind nicht nur gemeinschaftlich konzipiert, sie schaffen Weltanschauungen, die über den starren Individualismus hinausgehen. Jedes Projekt zeigt eine neue Perspektive, von der aus wir unsere Beziehung zum Klimanotstand neu formulieren müssen. Jedes Projekt stützt sich auf die Perspektiven von Gemeinschaften, die stark vom Klimawandel betroffen sind. Diese Gemeinschaften leiden, aber sie besitzen auch ein intimes und unersetzliches Wissen über ihre Umwelt.
Ich würde sagen, diese Ausstellung ist eine Übung im Zuhören: auf andere Stimmen, auf die Vielfältigkeit, auf den Planeten. Die Online-Präsentation erlaubt uns, weltweit ein größeres Publikum zu erreichen, außerdem besteht sie länger als eine physische Ausstellung.
Danielle Makhoul: Der Übergang von einer physischen zu einer digitalen Ausstellung ist uns zunächst ganz sicher nicht leichtgefallen. Als wir uns jedoch näher mit den Arbeiten auseinandersetzten, wurde uns klar, dass es in vielen dieser Projekte um Gemeinschaften geht, die extrem zurückgezogen leben. Und mit der anhaltenden Pandemie hat sich die Entfernung zu ihnen sogar noch zusätzlich vergrößert und ihre Gebiete sind noch schwerer als bisher zu erreichen. Trotzdem sind wir heute – digital – besser denn je miteinander vernetzt. Und wie Maya sagte, eine Online-Ausstellung wie „Take Me to the River“ funktioniert wie ein lebendiges Archiv, auf das weitaus mehr Menschen zugreifen können, die sogar noch weiter voneinander entfernt sind.
Wie kann die Debatte von indigenen Perspektiven profitieren und warum eignet sich Kunst so hervorragend dazu, diese Perspektiven zum Ausdruck zu bringen?
Maya El Khalil: Wir können viel von den indigenen Gemeinschaften lernen, insbesondere eines: Die Natur hat Rechte. Das wurde inzwischen auch in einigen Gerichtsurteilen anerkannt: Flüsse haben das Recht zu fließen, Wälder haben das Recht zu atmen. Das Volk der Kichwa beispielsweise, das Misha Vallejo in seinem Projekt portraitierte, glaubt an einen „lebendigen Wald“: einen lebendigen Wald, der auf alles reagiert. Der Wald ist ein Lebewesen mit Bewusstsein, er ist ein Speicher von Wissen, das durch die Älteren an die neuen Generationen weitergeben wird. Wenn diese Kette unterbrochen wird, geht das Wissen verloren. Das natürliche Gleichgewicht des Universums, die Harmonie des Lebens, die Existenz der Lebewesen hängen von diesem Wissen ab, von einer Beziehung des Respekts und des Gleichgewichts zwischen allen Wesen. Der Glaube an eine solche Symbiose ist meine wichtigste Lernerfahrung. Die Kunst hat einen „Raum“ geschaffen, in dem alternative Weltanschauungen zusammengebracht werden, um die Klimakatastrophe zu begreifen – Räume jenseits der Grenzen von Wissenschaft und Politik.