Kafka: Leben; Stationen; Gedanken
In Briefen, Notizen und Heften geblättert

Kafkas Tagebuch
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„Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier werde ich mich festhalten...“ hielt Kafka am 16. Dezember 1910 in seinem Tagebuch fest. Zwischen 1910 und 1923 führte er Tagebuch und gewährte der Nachwelt damit Einblicke in sein Leben, seine komplexen Gefühle und seine unerfüllten Träume. Daneben schrieb er zahllose Briefe, in welchen Erinnerungen an ihn bewegende Ereignisse seines Lebens aufscheinen. Was mag Kafka in diesen Momenten empfunden haben, als er seine Gedanken zu Papier brachte? Was hätte er noch potenziell niederschreiben können, um einige Anekdoten aus seinem Leben zu vertiefen? Unser Autor Boris Blahak nimmt auf dem Kafka-Sessel Platz und setzt einige von Kafkas Einträgen fort.

Von Boris Blahak

Sohn des Gesetzes (1896) | Bar-Mizwa; verpflichtet – wem, wozu?

Sohn des Gesetzes (1896) | Bar-Mizwa; verpflichtet – wem, wozu? Foto (detail): Boris Blahak, 2013

„Der 13te Geburtstag ist ein besonderes Fest, ich mußte im Tempel ein mühselig eingelerntes Stück vorbeten, oben beim Altar, dann zuhause eine kleine (auch eingelernte) Rede halten. Ich bekam auch viele Geschenke. Aber ich stelle mir vor, daß ich nicht ganz zufrieden war“.

Zusammennehmen hab ich mich müssen: Bloß keinen Fehler begehen! Sitzt mir die Kippa auch ja auf dem Schopf? Kannst du das Zupfen am Tallit nicht lassen?! Da bohren sich dreißig Paar Augen dem Kind in den Rücken, dem man erklärt: Nun bist du mündig, erwachsen, verpflichtet! Bloß wem? Blicke der Eltern, der Schwestern, Verwandten (die kaum einer kennt) voll Erwartung: der einzige Sohn! Schweiß ist mir kalt auf der Stirne gestanden, wie man mich endlich zum Podium ruft. Aufrecht und feierlich sei deine Haltung! Wie geht das, wenn einem das Herz bis zum Hals hinauf schlägt? „Soll er den Abschnitt der Tora nicht singend verlesen?“, hat der Rabbi die Eltern die Woche davor noch gefragt. Ich hab’s voller Angst durch die Türe gehört. „Ich trau’s ihm nicht zu“, hat der Vater gezischt, „lieber nicht! Lassen wir’s bloß bei dem Segensspruch, den kriegt er hin: So spricht der ewige Gott, der die Himmel erschaffen und ausgespannt hat.“ Jeden Tag dreimal muss ich’s beweisen, dass die hebräischen Worte nun sitzen. Wie in der Schule: Prüfung bestanden; gut, Kafka, setzen! Doch hat man mich nur dressiert, lässt mich nichts fühlen. Und meine Angst, wenn’s drauf ankommt, ein heiliges Wort zu verschlucken … Erleichterung, als ich es hinter mir habe. Doch Eifersucht liegt in den Blicken der Schwestern. Worauf denn? Ein Tor steht nun offen, ein andres ist zu.

Felice Bauer, Berlin (1912) | Entscheidung: sich nicht zu entscheiden

Felice Bauer, Berlin (1912) | Entscheidung: sich nicht zu entscheiden Foto (detail): Marine Tourret, 2012

„Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus[.] Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil.“

Ich spüre noch immer mein Innerstes beben. Ich darf sie nur kühl und spöttisch beschreiben, mit Hochmut und ostentativer Distanz. Indem ich angebliche äußere Makel (die sie nicht hat) erst erfinde, genüsslich seziere und dann überspitze, versuch ich wohl, Herr des Verfahrens zu bleiben und meine Erregung (ja: Angst und Erregung) so in den Griff zu bekommen (sollt ich das Tagebuch an dieser Stelle je wieder öffnen, dann geb ich es zu: sie war wunderschön). Doch Träume sind stark: Sie wird mich nicht lassen und ich auch nicht sie. Wir werden uns täglich – was sag ich: auch mehrmals am Tage in Briefen begegnen (nur dort) – unser Zusammensein in Hypothesen, das es am Ende nicht gibt. Familie? – Schreiben? Da ist die Entscheidung nicht schwer. Oder doch? Wie gut, dass Berlin, wo sie lebt, hinterm Berg liegt: sechs Stunden und sechzehn Minuten per Zug. Da mag sie ruhig sein. Doch im Geiste entwerfe ich schon mal den Brief, der sie an unsre Bekanntschaft erinnert und gleichzeitig warnt, eine Antwort zu senden, die ich mir doch gierig erhoffe. Ich spüre, dass einer die Fäden der Marionetten verknüpft – doch wer zieht den Strang? An wem wird gezogen? Die Fahrt (Palästina), die wir uns so heiter versprochen und ausgemacht haben, soll weiterhin als unsre Chiffre bestehen.

Nächtliche Niederkunft (1912) | einzige Art zu schreiben

Nächtliche Niederkunft (1912) | einzige Art zu schreiben Foto (detail): Boris Blahak, 2013

„Diese Geschichte ,das Urteilʻ habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. […] Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“

Vielleicht war’s der Wein: ein roter aus Mähren. Wir hatten Besuch und man hat mich zu einigen Gläsern gedrängt. Und später, im Zimmer, da wollte ich eigentlich nur etwas kritzeln – kleine Ideen. Da hat’s mich nach wenigen Zeilen gerissen wie nach einem Stoß in den Rücken, und vorwärts und planlos und schmierend bedeck ich die Hefte mit Sprache, so dass mir nach Kurzem das Handgelenk schmerzt – Erfindung und Schrift im Wettlauf verstrickt, die eine die andere wild überholend ins Dunkel hinein; ich falle in Panik: Es wird zu groß, als dass es ein Mensch zu Papier bringen kann – Niederkunft, schreiende Durchbruchserfahrung, die Planung, die Pause nicht duldet. Ich halte die Luft an und schreibe und atme sie erst beim Erreichen des Absatzes aus, und Punkte und Beistrich, die lass ich und klecksend erreich ich das Ende der Zeilen und schreibe schon weiter darüber hinaus. Wie alles dann fertig am Tisch vor mir liegt, wie ich überfliege, was hier in Umnachtung entstanden ist, da ist mir zitternd ein Lächeln entwischt und auch eine Träne – so lange gewartet auf diese Geburt. Doch kriecht mir inzwischen die Angst in die Hände, wenn ich am Abend ein unbeschriebenes Blatt vor mir seh. Wann kommt es wieder? Wann kommt der Ruf? Das ins Finstere tastende Schreiben – ich fürchte, ich habe es nicht in der Hand.

Ja, erkrankt (1917) | Tuberkulose; Todesurteil, zugleich Erlösung

Ja, erkrankt (1917) | Tuberkulose; Todesurteil, zugleich Erlösung Foto (detail): Boris Blahak, 2013

„Vor etwa 3 Wochen habe ich in der Nacht einen Blutsturz aus der Lunge gehabt. Es war etwa 4 Uhr früh, ich wache auf, wundere mich über merkwürdig viel Speichel im Mund, spucke es aus, zünde dann doch an, merkwürdig, es ist ein Patzen Blut.“

Am besten, ich halt es so nüchtern wie möglich, ich nenne bloß knapp das Symptom; Diagnosen vermeid ich. Es ist doch die Schwester, der es begreiflich gemacht werden muss; zu den Eltern kein Wort. Beunruhigung meiden, nur kein Skandal! Mag auch die Hoffnung nun völlig dahin sein. Das Urteil: zum Tode – und schon unterschrieben. Und der Termin? Wird schon noch festgelegt, nur keine Angst! Gehen Sie erst mal nach Hause, erholen sich gut. Die Ärzte, die ich besuche, beschwichtigen (viel) und beschönigen (alles). Erstens: „Verkühlung“ (ein Witz: im August!), zweitens: „Katarr in den Spitzen der Lunge“ (mit Blut?), drittens: ein plötzliches Stottern und Räuspern, bevor man am End das Wahrscheinlichste nennt. Nur nicht das Wort in die Stube gelassen, nicht es beschwören: T wie Tabu, T wie der Tod, Tuberkulose. Mensch, bin ich froh, dass ich es weiß, endlich ist alles entschieden. Jetzt kann der Rest meiner wertvollen Zeit ganz dem Schreiben verfallen. Jetzt kein Spagat mehr zwischen den Dingen, die andere von mir erwarten, und dem, was ich mir ersehne: Meine Büroarbeit – muss ich wohl lassen! Gedankenspiele an eine Frau, Ehe und Kinder sind jetzt wohl passé. Ich werde zwar sterben, doch vorher noch hemmungslos, hemmungslos schreiben. Rücksichten gibt es für mich dann nicht mehr. Vielleicht gelingt mir am Ende, noch kurz vor dem Ende doch noch ein Roman, der den Namen verdient.

Prager Deutsch (1920) | artikulatorische Szene; kakanisch

Prager Deutsch (1920) | artikulatorische Szene; kakanisch Foto (detail): Ulrike Wagener, 2012

„Nach den ersten Worten kam hervor, daß ich aus Prag bin […]. Ein Tscheche? Nein. […] Irgendwer sagt: ,Deutschböhmeʻ, ein anderer: ,Kleinseiteʻ [,] aber der General mit seinem scharfen, im österreichischen Heer philologisch geschulten Ohr ist nicht zufrieden, nach dem Essen fängt er wieder den Klang meines Deutsch zu bezweifeln an“.

Wieder ertappt und erkannt, enttarnt und mit Stigmen gespickt; wie nackt steh ich da in der österreichischen Runde. Fall ich denn überall auf? Die Wirtin hat gestern schon fröhlich verkündet, ich red Prager Deutsch. Ist es mein R, das ihr zu scharf ist? Ist euch mein E am Ende zu offen? (Zweifelt nicht eher das Aug als das Ohr?) Doch kann ich es guten Gewissens nicht leugnen: Dienstbotenslang; Köchinnenschmäh; Lingua franca der tschechischen Buben, die manchmal mit Steinen und Dreck nach mir werfen; jiddisches Hüsteln auf Ottomanen, das grad noch geahnt werden kann, wenn die Tanten likörbeschwipst plauschen. Da helfen der Goethe und Schiller im Lesebuch wenig, trotzdem wir sie gern imitieren. In diesem Moment muss ich an die Vermerke und Streichungen denken, die mir die Lektoren der deutschen Verlage, die sich meiner Prosa erbarmen, retour mit der Druckfahne senden: Fast bellt ihre rötliche Tinte mich an: „Man kann nicht ,an etwasʻ vergessen; achten Sie auf die Artikel: ,paar Worteʻ sind nicht genug; ,bis er es wünscht; nicht früherʻ? – Sie meinen wohl eher ,sobaldʻ! Könnten Sie bitte ,hinaufʻ und ,herauf“ unterscheiden? Und ,zwischen vier Augenʻ – so schreibt das vielleicht die, Bohemiaʻ; in Leipzig, da geht so was nicht.“ Soll ich es mit meinem Judentum klären? Soll ich den Deutschböhmen spielen? Am besten schweige ich still. Max wird schon alles bei Zeiten verbessern.

Improvisiertes Testament (1921) | kleiner Zettel – er(n)st gemein(t)

Improvisiertes Testament (1921) | kleiner Zettel – er(n)st gemein(t) Foto (detail): Boris Blahak, 2023

„[…] meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlaß […] an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben.“

Nun gut, mein Freund: Gedankenspiel (es gäb keinen Besseren dazu als dich)! Verfassen wir jeweils ident auf zwei Blatt unsern letzten, endgültigen Willen (das heißt: Testament) und bestimmen uns feierlich, wenn wir ihn tauschen, einander zu Advokaten: Ein jeder vernichte die Schriften des Freundes nach dessen Tod (Allein der Gedanke daran brennt wie Feuer). Das Schicksal entscheide dann, wer von uns beiden dem andern post mortem die Treue bestätigen muss. Mephistophelischer Pakt. Nur: ich bin im Vorteil – denn du bist gesund und ich sterbenskrank. Du gibst auf mich viel, und ich auf mich wenig. Doch könnte dich morgen die Tram überfahren … Dann wär es an mir (ich mag nicht dran denken). „Die Hand drauf!“ – Du sagst es ein wenig zu schnell, und dein Blick ist gefasst. Mich kitzelt der Zweifel daran, ob ich’s dennoch errate, was du dabei denkst: „Gib ihn nur her, deinen Zettel, das Einzige, was hier zerrissen gehört. Und alles andre ist sicher bei mir! Wenn du es tatsächlich einäschern wolltest, dann hättest du dir einen andern gesucht. Vor dir steht dein Wächter der Zeilen. Das Wort ,Kompromissʻ kennt er nicht – nicht einmal dir gegenüber.“ So stell ich’s mir vor, auch wenn ich es aufgebracht abstreiten müsste und unsicher bleibe. Doch sollte ich mich in dir irren – im Schacht meines ewigen Schlafs gibt es weder Vergebung noch Reue noch Schuld.

Letzte Mitteilung (1924) | jetzt selbst: Fragment

Letzte Mitteilung (1924) | jetzt selbst: Fragment Foto (detail): Boris Blahak, 2023

„[…] also die Besuche, von denen Ihr manchmal schreibt. Ich überlege es jeden Tag, denn ist für mich eine sehr wichtige Sache. So schön wäre es […], aber zu viel spricht dagegen. […]. Sollen wir es nicht also vorläufig bleiben lassen, meine lieben Eltern?“

Hier sollte noch etwas Wichtiges folgen. Doch gleiten mir Hände und Stahlfeder zunehmend ab; die Tinte verschmiert. Ich will dir diktieren; du wartest; doch bin ich zu schwach. O bitte – leg doch das Schreibzeug nicht kopfschüttelnd weg auf den Tisch. Ich fürchte, es läge nun dort meine Seele und drohe als Dohle zu fliehen, wenn niemand die Hand auf sie legt. Ich weiß: Deine Güte hat letztlich verfügt, dass es reicht. Und es stimmt: Hab ich bis heute nicht Tausende Tage (und Nächte) gehabt, um ein Schriftstück (nur eines) zu Ende zu führen? Ich hab’s nicht geschafft. Selbst mein Gedrucktes (das wenige) schreit nach Vollendung. Fragmente nur bleiben, warum dann nicht auch als Fragment dieser Brief … Kann ich den Gruß, vielleicht schon den letzten, nicht doch noch ergänzen? Franz … euer Franz … Fragment … Mein Sichtfeld wird düster: Vom Rande her flimmert das Licht immer körniger grau. Macht niemand Licht? Mein Hals schmerzt, die Worte verebben wie Splitter im Schleim; ich will etwas sagen, doch weiß ich’s inzwischen nicht mehr. – Steht in der Tür nicht die große Gestalt, die ich kenne? Der mächtige Hüter aus meiner Legende? Doch er verwehrt mir das Eintreten nicht (anders als es dem Manne vom Lande durch meine Schuld widerfuhr). Denn feierlich tritt er zur Seite und öffnet, die Arme beschwörend erhoben, den Weg…
 
Primärquellen

Sohn des Gesetzes (1896) | Bar-Mizwa; verpflichtet – wem, wozu?
Quelle: Brief an Milena Pollak (geb. Jesenská), 10.8.1920; Franz Kafka: Briefe 1918-1920. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 301.

Felice Bauer, Berlin (1912) | Entscheidung: sich nicht zu entscheiden
Quelle: Tagebuch, 20.8.1912; Franz Kafka: Tagebücher. Textband. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt a. M.: Fischer 1990, S. 432.

Nächtliche Niederkunft (1912) | einzige Art zu schreiben
Quelle: Tagebuch, 23.9.1912; Franz Kafka: Tagebücher. Textband. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt a. M.: Fischer 1990, S. 460-461.

Ja, erkrankt (1917) | Tuberkulose; Todesurteil, zugleich Erlösung
Quelle: Brief an Ottla Davidová (geb. Kafka), 29.8.1917; Franz Kafka: Briefe April 1914-1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M.: Fischer 2005, S. 308.

Prager Deutsch (1920) | artikulatorische Szene; kakanisch
Quelle: Brief an Max Brod, 10.4.1920; Franz Kafka: Briefe 1918-1920. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 117.

Improvisiertes Testament (1921) | kleiner Zettel – er(n)st gemein(t)
Quelle: Notiz an Max Brod, Herbst/Winter 2021; Max Brod/Franz Kafka: Eine Freundschaft II. Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt a. M.: Fischer 1989, S. 365.

Letzte Mitteilung (1924) | jetzt selbst: Fragment
Quelle: Brief an Hermann und Julie Kafka, 2.6.1924; Franz Kafka: Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922-1924. Hrsg. von Josef Čermák und Martin Svatoš. Frankfurt a. M.: Fischer 1990, S. 80, 82.

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