Deutsch-deutsche Geschichte
Verhandlungen im Schatten

Bild einer Zelle des früheren Frauengefängnisses Schloss Hoheneck.
Foto (Detail): © picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Von Anfang der 60er bis Ende der 80er Jahre wurden tausende DDR-Häftlinge durch die Bundesrepublik freigekauft. Ein Geschäft, von dem beide Seiten profitierten. Doch wie lief die Abwicklung ab? Ein Beitrag über einen einzigartigen Aspekt der deutsch-deutschen Geschichte.
 

In dem Roman Das Jahr ohne Sommer fragt sich ein junges Mädchen: „Wer kauft eingesperrte Menschen?“. In diesem Fall waren die eingesperrten Menschen ihre Eltern, die anderthalb Jahre in diversen DDR-Zuchthäusern inhaftiert waren und dann durch die Bundesrepublik freigekauft wurden. Als Kind konnte sich Constanze Neumann den Freikauf politischer Gefangener nicht erklären. Die erwachsene Constanze Neumann, die heute Schriftstellerin ist, dagegen schon. Sie schrieb darüber einen autobiografischen Roman, der vom Leben zwischen ihrer alten Heimat der DDR und ihrer neuen Heimat der Bundesrepublik handelt. Doch die Haft und der Freikauf ihrer Eltern lassen sie bis heute nicht los.

Ein offenes Geheimnis

Das Schicksal von Neumanns Eltern ist kein Einzelfall. 33.755 DDR-Bürger*innen wurden durch die Bundesrepublik aus dem totalitären Staat freigekauft. „Dieser Handel war ein offenes Geheimnis“, sagt der Historiker Jan-Phillip Wölbern, der über das Thema promovierte. Wölbern, der heute stellvertretender Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine ist, erklärt, dass es mehrere Faktoren gab, weshalb ein Freikauf überhaupt in Ostberlin und Bonn in Betracht gezogen wurde. Sowohl die Bundesrepublik als auch das DDR-Regime waren an dem Geschäft interessiert, wenngleich die Interessen sich stark voneinander unterschieden haben. Die BRD hatte ein humanitäres Interesse, die DDR handelte aus materiellem Interesse heraus.

Eine entscheidende Rolle bei dem Verfahren spielten bestimmte Rechtsanwälte, die als Grenzgänger agierten und im Freikauf als Katalysatoren fungierten. Die findigen Anwälte vermittelten zwischen den Regierungen. Spätestens mit dem Mauerbau wurde der Bundesrepublik klar, dass das DDR-Regime für längere Zeit bestehen bleiben würde. Deshalb war eine politische Neuorientierung notwendig. „Es gab keinen Masterplan“, meint Wölbern. Weder die Bundesrepublik noch die DDR hatten Erfahrungen mit dem Freikauf von politischen Gefangenen. Beide Staaten mussten erst herausfinden unter welchen Bedingungen sie sich auf einen solchen Handel einlassen wollten. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sagt dazu: „Mit Kritik am kapitalistischen Gewinnstreben geizte die DDR nie, sie stellte sich als Gegenbild zur ökonomisierten Bundesrepublik dar.“ Allerdings fügt die Stiftung auch an: „Weniger zimperlich war man im Umgang mit politischen Häftlingen. Ihnen hängte man ein Preisschild um und verkaufte sie an die Bundesrepublik. Zunächst für 40.000, später für 90.000 Mark“. Eine der politischen Häftlinge war die Mutter von Constanze Neumann, Eva-Maria Neumann. Die Zeitzeugin verarbeitete ihre Erlebnisse in ihrem Buch Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit – Die Geschichte einer gescheiterten Republikflucht. Als junge Frau unternahm sie mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter mehrere Fluchtversuche. Der letzte brachte Neumann in Haft. Bei der Verhaftung wurde ihr die Tochter aus den Armen gerissen und für mehrere Tage in einem Kinderheim untergebracht. Danach wurde das Mädchen in die Obhut der Großeltern in der DDR gegeben. Für Eva-Maria Neumann war dies ein traumatisches Erlebnis, über welches sie nach fast 30 Jahren mittlerweile sprechen kann. „Es war das Schlimmste, was mir jemals passiert ist“, konstatiert sie.

Nach ihrer Verurteilung wegen versuchter Republikflucht wurde Neumann in einem Viehwaggon nach Stollberg in Sachsen in das berüchtigtste Gefängnis der DDR, das Frauengefängnis, gebracht. Dort begann für sie eine Zeit voller Angst, Schlafentzug und Krankheit. In der Haft erfuhr sie von der Möglichkeit des Freikaufs durch die Bundesrepublik. Ein Hoffnungsschimmer in aussichtslosen Zeiten. „In Hoheneck gab es eigentlich immer einen Transport, allerdings in unregelmäßigen Abständen“, erinnert sich Eva-Maria Neumann. Ein Lichtstrahl aus einem Gebäude in der Nacht zeigte den Insassinnen, wenn ein Transport aus dem Gefängnis für einen Gefangenenfreikauf vorbereitet wurde.

Liste mit Namen

Der Name auf der richtigen Liste entschied, so Wölbern, wer in die Freiheit gehen durfte. Wer es nicht auf die Liste schaffte, wurde nach der Haft in sein altes Leben im selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaat entlassen. Nur politische Häftlinge, wie zum Beispiel  Republikflüchtlinge, hatten eine Chance freigekauft zu werden. Über Verwandte, Freunde oder Bekannte im Westen wurden Anwälte beauftragt, sich für die Gefangenen einzusetzen. So war das auch bei Eva-Maria Neumann der Fall. Die Anwälte übergaben die Liste mit den Namen an die DDR-Behörden, die entschieden, wer freigekauft werden konnte und wer nicht, erklärt der Experte.

Ein Bild von einer Entlassungsbescheinigung Foto: Eva-Maria Neumann

Die Freikäufe haben die Bundesrepublik insgesamt 3,5 Milliarden DM gekostet. Der Preis pro Freikauf wurde zunächst individuell festgelegt. Nach einiger Zeit wurde ein Pauschalpreis bestimmt. Geld floss jedoch nicht, stattdessen wurde es in Gütern bezahlt. Obst, Maschinen und andere Güter, welche im Osten Mangelware waren, würden als Währung bei den Freikäufen eingesetzt. Die Anwälte wurden in der DDR unter der Hand als „Apfelsinenjungs“ bezeichnet, erzählte Wolfgang Vogel, der bekannte Ost-Unterhändler und Anwalt in einem Interview mit dem Spiegel im Jahr 1990. „Der Freikauf zwischen den beiden Staaten war ein Staatsgeheimnis“, erzählt Wölbern. Doch westliche Medien, wie die Bild-Zeitung oder Die Welt berichteten über die Freikäufe. Anders war es im totalitären Osten. „Dort gab es keine Öffentlichkeit und keine freie Presse“, erklärt der Historiker. Nur DDR-Bürger*innen mit dem damals verbotenen Westfernsehen hatten die Chance über den Freikauf etwas zu erfahren.

Für die freigekauften Frauen und Männer war die Befreiung ein Wendepunkt in ihrem Leben. Doch bei vielen hat die Vergangenheit Spuren hinterlassen – so auch bei Eva-Maria Neumann und ihrer Tochter Constanze. Was geschehen ist, beschäftigt die Neumanns bis heute. Der Verlust der Heimat, die Haft, der Freikauf und das neue Leben in Freiheit – für jede der beiden Frauen eine Herausforderung, die verarbeitet werden musste. Eva-Maria Neumann schrieb ihre Erlebnisse unmittelbar nach dem Freikauf auf. „Ich wollte das Geschehene für die Familie festhalten“, sagt sie. „Es hat mir wirklich geholfen darüber zu schreiben“. Auch die Tochter entschied sich für eine literarische Auseinandersetzung. Sowohl der Zeitzeugenbericht von Eva-Maria Neumann als auch der Roman von Constanze Neumann sind im renommierten ostdeutschen Aufbau Verlag erschienen. Beide Frauen haben über ein Thema geschrieben, welches wenig öffentliche Beachtung findet.

Kulturbetrieb

Es gibt einige Filme, Serien oder Dokumentarfilme über die DDR, wie den oscarprämierten Film Das Leben der Anderen (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck, der das Leben in der SED-Diktatur aus gegensätzlichen Blickwinkeln betrachtet. Selbst Hollywood beschäftigte sich mit der DDR. Steven Spielberg verfilmte mit dem Kinofilm Bridge of Spies (2017), den ersten und geschichtsträchtigsten Agentenaustausch des Kalten Krieges: der Tausch des sowjetischen Spions Oberst Rudolf Abel gegen den US-Piloten Gary Powers. Der Film spielt in Ost-Berlin und zeigt einen grauen, brutalen und totalitären Staat. Eine andere Perspektive zeigen Filme, die oftmals mit dem Phänomen der „Ostalgie“ kokettieren. „Ostalgie“ ist eine Wortneuschöpfung aus den Begriffen Nostalgie und Osten. Go Trabi Go: Die Sachsen kommen (1991) von Peter Timm war einer der ersten Filme, die sich komödiantisch mit dem Osten befassten. Der Ostalgie-Trend hielt in Deutschland bis Mitte der 2000er Jahre an. Einer der bekanntesten Filme dabei ist Good bye, Lenin! (2003) von Wolfgang Becker. Auch Filme wie Sonnenallee (1999) oder NVA (2004) (Die Nationale Volksarmee der DDR) von Leander Haußmann, zeigten das Leben in der DDR aus einer humoristischen Perspektive. Nicht ohne sich die Kritik einzufangen, dass sie das Leben im SED-Regime verharmlosen.

Der Freikauf der DDR-Häftlinge durch die Bundesrepublik wurde dagegen im Kulturbetrieb bisher nur spärlich thematisiert. Der Fernsehfilm Die Frau vom Checkpoint Charlie von Miguel Alexandre aus dem Jahr 2007 beschäftigt sich zumindest am Rande mit dem Handel. „Der Freikauf war kein Massenphänomen“, sagt Wölbern. Gemessen an der Einwohnerzahl der DDR von Anfang der 60er bis Ende der 80er Jahre mit ca. 17 Millionen Menschen waren die 33.755 freigekauften Menschen eine geringe Zahl. Dies mag ein Grund dafür sein, dass der Freikauf im Kulturbetrieb bisher nur am Rande thematisiert wurde. „Genug Stoff liefert der Freikauf allerdings schon“, meint der Historiker und wundert sich, warum dieser einzigartige Aspekt deutsch-deutscher Geschichte bisher nicht die ganz große Bühne bekommen hat.
 

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