Vorstellungen verändern
Die Bedeutung des Lernens neu denken

Illustration von Rosana Paulino (links), Paromita Vohra (Mitte), Jan Paul Heisig (rechts) und Kwang Sun Joo (ganz rechts)
Illustration von Rosana Paulino (links), Paromita Vohra (Mitte), Jan Paul Heisig (rechts) und Kwang Sun Joo (ganz rechts) | Illustration (Ausschnitt): © Nik Neves

Paromita Vohra beendet den Briefwechsel mit Beantwortung der abschließenden Frage des deutschen Soziologieprofessors Jan Paul Heisig: „Können Sie irgendeinen Hinweise darauf finden, dass die Erfahrungen der letzten Monate in Indien nicht trotz allem am Ende noch etwas Gutes bewirkt haben?“ Der ungleiche Zugang zu digitalen Medien hat zur „Narbenbildung” im Bildungsbereich geführt. Dennoch hat uns die Pandemie auch gelehrt, das Bildungssystem einmal unabhängig von seinen starren Strukturen zu betrachten.

Von Paromita Vohra

Wie Sie richtigerweise festgestellt haben, Herr Heisig, hat die Pandemie die Ungleichheiten in der Gesellschaft noch verschärft, und das hat besonders die Kinder hart getroffen. Die langen Schulschließungen und der vorranging online geführte Unterricht hat die Schere zwischen armen und wohlhabenderen Kindern noch weiter auseinandergehen lassen. Mehr als 25 Prozent der Kinder in Haushalten mit einem Smartphone hatten keinen Zugang zu einem solchen Gerät. Vor allem für sehr kleine Kinder, die noch keinen Einstieg in die Bildungsangebote geschafft haben, bedeutet dies eine enorme Aufholschwierigkeit – eine Verringerung der Bildungschancen –, die teilweise als „Bildungsnarben“ bezeichnet werden.

Dennoch ist es notwendig, auch in diesen Zeiten ein Licht im Dunkel zu suchen, und dies ist, möchte man meinen, nicht unmöglich. Ich sehe für Indien zwei Möglichkeiten: einerseits muss das Bewusstsein für die Situation geschärft werden, anderseits muss man auch Beispiele für die Unterschiede hervorheben.

Es ist viel darüber diskutiert worden, dass die Pandemie wie ein Brennglas die Schwierigkeiten und Spaltungen gezeigt hat, die auch vorher bereits existierten. Die prekäre Situation ärmerer Schulkinder ist auf einmal auf herzzerreißende Weise deutlich geworden und hat noch einmal das Problem der Kinderarmut in den Vordergrund gerückt. Viele Eltern wollten daher ihre Kinder in eine Privatschule schicken, um ihnen eine bessere Bildung zu ermöglichen. Es gab in Indien auf einmal enormen Druck, das Bildungssystem auf allen Ebenen zu privatisieren. Dies würde jedoch dazu führen, dass das staatliche Bildungssystem nicht mehr so durchlässig wäre wie jetzt und zahlreiche Schüler*innen keinen Zugang mehr zu guter Bildung hätten.

Mit gutem Beispiel voran gehen

Durch die erschwerte Arbeitssituation während der Pandemie haben viele Eltern ihre Kinder von der Schule abgemeldet, vor allem in Privatschulen. Staatliche Schulen hatten entsprechend deutlich mehr Anmeldungen zu verzeichnen. Das Beispiel der Stadtregierung von Delhi stimmt hoffnungsvoll. Diese hatte sich darauf konzentriert, die Infrastruktur der staatlichen Schulen zu stärken, die Beziehung zu den Elternhäusern zu intensivieren und auch Randgruppen der Bevölkerung ein qualitativ hochwertiges Bildungsangebot zu machen. Der Wechsel zu digitalen Klassenzimmern und einem Blended-Learning Modell war in Delhi etwas effektiver: Immerhin konnten hier 93 Prozent der Schüler*innen zumindest irgendeine Form von Unterricht wahrnehmen, entweder digital oder in Form von Arbeitsblättern, die sie von zu Hause erledigen konnten.

Es gab auch seitens der Bevölkerung immer wieder Beispiele von Bürger*innen, die sich mit dem Thema auseinandersetzten. Bharti Kalra, stellvertretende Schulleiterin einer staatlichen Schule in West-Delhi, erzählte, dass viele Schüler ihrer Schule nicht am Onlineunterricht teilnehmen konnten, da sie keine Laptops, Tablets oder Smartphones hatten. Nachdem sie verstanden hatte, dass das Problem im System verankert war, startete sie eine Sammelaktion, bei der sie durch Familie und Freunde 321 Smartphones zusammentrug. Diese ermöglichten es den Schüler*innen am Onlineunterricht teilzunehmen.

Natürlich kann man solche Beispiele einfach als gut gemeinte Wohltätigkeitsaktion abtun, aber ich denke, dass sie vielmehr ein in der Pandemie gewachsenes Engagement durch Bürger*innen widerspiegeln, das öffentliche Bedürfnisse sichtbar macht und das vielleicht sogar langsam Teil des politischen Mainstream-Diskurses werden könnte.

Andere Beispiele zeigen, dass auch Schüler*innen, die ansonsten etwa aufgrund einer Behinderung nicht zur Schule gehen konnten, nun durch digitale Möglichkeiten am Unterricht teilnehmen konnten. Die Pratham Open School Organisation etwa hat eigens ein Tool in ihrem digitalen Angebot verändert, um solchen Schüler*innen die Teilnahme an Fernprüfungen zu ermöglichen, die sich zuvor, als alle Schulen noch rein auf Präsenzunterricht ausgerichtet waren, auf die Hilfe von Übersetzer*innen, Schreibhilfen und andere Hilfsmittel verlassen mussten, um ihnen physisch bei der Teilnahme an Prüfungen und Lernbewertungen zu helfen. Nun, als der Unterricht online stattfand, wurde eine schnelle Lösung gefunden, wie man diese Kinder integrieren konnte. An diesem Beispiel sieht man, dass inklusive Lösungen nicht nur eine Frage der Ressourcen sind, sondern auch Kreativität gefragt ist.

Über die Zukunft der Bildung nachdenken

Wenn uns die Pandemie immer wieder etwas abverlangt, dann den Versuch, unsere Standardannahmen und -positionen neu zu überdenken. Als die Pandemie die Lehrkräfte zwang, online zu unterrichten, fanden sie verschiedenste Lösungen, um das Interesse der Kinder aufrechtzuerhalten. Manchmal ging es darum, sie mit Hilfsmitteln zu erreichen. Zu anderen Zeiten, um mehr Spielzeit oder darum mehr Interaktivität einzubauen, um die Schüler*innen zum Mitmachen zu bewegen.

Und während Kinder keinen Unterricht hatten, war ihre Zeit da völlig bedeutungslos? Rukmini Banerjee von der Pratham Open School Organisation sagte dazu in einer öffentlichen Diskussion: „Obwohl die Kinder Unterricht hatten, ist dies nicht das Einzige, was am Schulbesuch wichtig ist. Wie kann man nun das, was sie gelernt haben, etwa durch Spiel, Beobachtung oder sogar Mithelfen im Haushalt, nutzen, um ihre Handlungskraft und Lernfähigkeit zu verbessern und sie für den Übergang ins Erwachsenalter zu stärken? Könnte man unsere bisherige Definition von Ausbildung nicht überdenken? Bewegen wir uns weg von einer Ausbildung, die einfach erwartet, dass Kinder einem vorgefertigten Lehrplan folgen und sie auf der Grundlage bewertet, ob sie die Lernziele erreichen oder nicht?“

Oder können Schule und Lernen nicht durchlässiger in Inhalt, Form und Absicht sein? Dies sind hoffnungsvolle Fragen, die sich langsam um uns herum stellen, wenn wir über die Zukunft des Bildungssystems nachdenken. Ich hoffe, dass die Fragen zu mehr Debatten und einer Neuausrichtung dessen führen werden, wie wir als Gesellschaft das Leben und Lernen unserer Kinder als Ganzes sehen.

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