Theaterszene
Frei, aber prekär
Die Freie Theaterszene in Deutschland wächst, aber die Probleme bleiben: wenig Geld, wenig Absicherung und kaum (politische) Anerkennung. Ein Sachstandsbericht.
Von Anja Quickert
Die Freie Theaterszene in Deutschland hat eine besondere Geschichte: Sie hat sich aus der revolutionären Bewegung entwickelt, die 1968 das gesellschaftliche und politische System der Bundesrepublik Deutschland grundlegend in Frage stellte. Diese Kritik richtete sich damals vor allem gegen die staatlichen und öffentlich geförderten Institutionen, die streng hierarchisch organisiert waren und von Männern geleitet wurden. Das freie Theater entwickelte sich auch als Opposition zur sogenannten Hochkultur mit ihrem elitären Bildungsanspruch, die damit weite Teile der Bevölkerung ausschloss.
„Wir schlagen daher die Demokratisierung der bundesdeutschen Theater vor“, forderten Barbara Sichtermann und Jens Johler 1968 im Fachmagazin Theater heute. Ihre Kritik trug die Überschrift „Über den autoritären Geist des deutschen Theaters“. Die alternative Theaterpraxis der 1968er-Jahre stellte sich in die Tradition von Bertolt Brecht und knüpfte an dessen umfassende Kritik des Theaters als „Apparat“ an. Da eine tatsächliche Demokratisierung des bundesdeutschen Theaters – ein Wandel hin zu kollektiven Formen der Leitung, der Verwaltung und Regie – jedoch ausblieb, begannen Künstler*innen, sich außerhalb der etablierten Institutionen zu organisieren und neue Räume für ihre Arbeit zu suchen. In lokal jeweils ganz eigener Form und unter sehr unterschiedlichen kulturpolitischen Rahmenbedingungen entwickelte sich daraus die „Freie Szene“.
Netzwerkarbeit und Institutionalisierung
Mittlerweile hat sich die Freie Szene professionalisiert, hat eigene Spielstätten gegründet, ist in translokalen und internationalen Netzwerken organisiert, hat Lobbyverbände gegründet und Koproduktionsverhältnisse ausgebildet. Kurzum: Sie „institutionalisiert“ ihre eigenen Arbeitsweisen und steht im Dialog mit den kulturpolitischen Akteuren, um sich durch möglichst langfristige öffentliche Förderung abzusichern. „Frei heißt für uns eine möglichst große Unabhängigkeit im Produzieren“, schreibt die Performerin Mieke Matzke, Mitglied des feministischen Kollektivs She She Pop. „In diesem Sinne sind die Strukturen und Arbeitsweisen eines solchen freien Theaters direkt gekoppelt an die Frage nach dem Raum des Produzierens und dessen politische Implikationen.“
Auf Bundesebene vertritt der Bundesverband für Freie Darstellende Künste (BFDK) als Dachverband die insgesamt rund 27.000 freien Tanz- und Theaterschaffenden und seine 16 Landes- sowie sieben assoziierten Verbände. Seit der Spielzeit 2016/17 fördert die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien das Bündnis internationaler Produktionshäuser, ein Zusammenschluss von sieben freien Spielstätten in den Metropolregionen, die auch international weitläufig vernetzt sind. In die regionale Breite wirkt dagegen das bundesweite, 2010 gegründete Netzwerk Flausen+, in dem sich 31 freie Theater aus 14 Bundesländern zusammengeschlossen haben. Daneben wurde für den „überregionalen Austausch von Produktionen und Knowhow“ das Netzwerk Freier Theater (NFT) gegründet, dem elf professionelle Theater- und Produktionshäuser angehören.
Die Freie Szene ist im Vergleich ausgesprochen egalitär und divers aufgestellt.
Unter prekären Bedingungen
Wie wirksam diese Vertretungen die Interessen der Künstler*innen in der Öffentlichkeit und gegenüber der Kulturpolitik vertreten können, hat der Landesverband Freie Darstellende Künste Berlin (LAFT Berlin) beispielhaft gezeigt. Dieser wurde 2007 als gemeinnütziger Verein gegründet. Er unterhält nicht nur übergreifende Arbeitsgemeinschaften für „Räume“, „Diversity und Antidiskriminierung“ oder „Archiv“ und hat 2016 das Performing Arts Festival (PAF) gegründet, das jährlich an annähernd 60 Spielorten in der ganzen Stadt stattfindet. Mit dem Performing Arts Programm (PAP) hat der LAFT Berlin zudem ein wirksames Instrument zur infrastrukturellen Stärkung, Professionalisierung und Vernetzung der größten und vielfältigsten lokalen Szene in Deutschland geschaffen – auch mit Fördermitteln der Europäischen Union. Doch obwohl der Freien Szene in Berlin mittlerweile fast 40 unterschiedliche Förderprogramme zur Verfügung stehen und auch die Fördermittel erheblich aufgestockt wurden, bleibt ihre Situation prekär: Die Szene wächst, und die Politik findet kaum wirksame Strategien gegen ihre gentrifizierungsbedingte Verdrängung aus der Innenstadt.
Unter dem Motto Fairstage arbeitet der LAFT Berlin seit 2021 gemeinsam mit Diversity Arts Culture, Ensemble-Netzwerk und dem Berliner Senat an einem Modellprojekt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zum Abbau von Diskriminierung an Berliner Sprechtheaterbühnen. Im Vergleich zur Stadt- und Staatstheaterlandschaft ist die Freie Szene ausgesprochen egalitär und divers aufgestellt, gerade auch hinsichtlich der Merkmale Gender oder Color. Das spiegelt sich nicht nur in den Programmen und ihren Ästhetiken wider. Seit den 2010er-Jahren hat die Forderung nach Gleichheit und Gleichstellung im Theater zudem eine Vielzahl von deutschlandweiten Initiativen und Organisationen hervorgebracht, die sich für verbesserte Arbeitsbedingungen einsetzen und gegen Diskriminierung – wie Bühnenwatch, Pro-Quote Bühne oder das Ensemble-Netzwerk.
So gründete sich auch aus der Freien Szene heraus – und mit großer Unterstützung des Fonds Darstellende Künste – am 9. November 2018, genau 80 Jahre nach dem Beginn der Novemberpogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland, der Verein „Die Vielen“. Seit 2016 war die Kulturlandschaft zunehmend rechtsextremen An- und Übergriffen ausgesetzt. Die parlamentarischen Anfragen in den Kulturausschüssen durch die rechtskonservative AfD-Partei (Alternative für Deutschland) nahmen zu. Die deutsche (und später: deutschsprachige) Kunst- und Kulturlandschaft reagierte darauf mit einem beispiellosen Schulterschluss und klarer Positionierung.
Die Pandemie offenbart die Verletzlichkeit
Dem Fonds Darstellende Künste ist es als Bundeskulturförderfonds auch zu verdanken, dass die Mittel der Bundesregierung im Rahmen von Neustart Kultur – dem „Corona-Rettungspaket“ für die Kunst- und Kulturlandschaft – so effektiv die Menschen erreichten, die sie dringend benötigten: die freien (darstellenden) Künstler*innen, die keinerlei arbeitsrechtliche Absicherung besitzen.
Die freie Theaterszene wird gerne als kostensparende, innovative Alternative betrachtet.
Denn die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen haben die Verletzlichkeit der Freien Szene noch einmal deutlich sichtbar gemacht: Die projektbasierte Arbeit – die freie, konzeptbasierte Entwicklung von Arbeitsstrukturen in wechselnden Teams – stellt gleichzeitig eine existenzielle Bedrohung dar. Spätestens seit die 2012 erschienene Studie Der Kulturinfarkt die Diskussionen um die Legitimation der Theaterlandschaft befeuert hat, wird die freie Theaterszene gerne als kostensparende, innovative Alternative betrachtet. Für die weitgehend prekären Arbeitsbedingungen und die fehlende Sozial- und Altersabsicherung ist das Interesse deutlich geringer. Das hat die pandemische Krise (hoffentlich) verändert.
„Die Koalition der Freien Szene wendet sich gegen eine Politik, die Kunst, die in freien Strukturen entsteht, zunehmend kommerziellen Zwängen aussetzt und verdrängt und damit ihre Autonomie einschränkt sowie die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst marginalisiert“, heißt es auf Homepage der „Koalition der Freien Szene“, die sich als spartenoffene Lobby der rund 40.000 freischaffenden Künstler*innen in Berlin versteht. In Berlin wird deutlich, was für alle Städte und Regionen gilt: Ohne die Freie Szene verschwinden soziale Spielräume.