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Vertrauen und Gesellschaft
Die unsichtbare Institution

Ohne Vertrauen geht gar nichts.
Ohne Vertrauen geht gar nichts. | © mauritius images / Rob Wilkinson / Alamy / Alamy Stock Photos

Wie konnte es dazu kommen, dass das Vertrauen eine derart gewichtige Rolle in der Selbstbeschreibung gegenwärtiger Gesellschaften erhalten hat? Der Philosoph Martin Hartmann über mögliche Antworten.
 

Von Martin Hartmann

Die Thematik des Vertrauens beschäftigt viele Gesellschaften schon seit Jahren mit erstaunlich gleichbleibender Intensität. Es ist, als führten diese Gesellschaften ein fortlaufendes Gespräch über Vertrauen, ein stetes Selbstgespräch, mal lauter, mal leiser, mal ängstlicher, mal gelassener. Krisen verstärken die Lautstärke ungemein, die Corona-Pandemie hat es gezeigt, war doch schnell klar, dass die beschlossenen Maßnahmen von oben nur greifen, wenn sie unten ankommen und umgesetzt werden. Ohne Vertrauen geht gar nichts, so sagte es sinngemäß die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel und erntete breite Zustimmung.

Hört man diesem Gespräch genauer zu, zeigt sich schnell die Vielgestaltigkeit der einzelnen Stimmen. Für die einen ist klar: Vertrauen fehlt, wir brauchen es, brauchen es überall, aber wir wissen nicht, wie wir zu ihm gelangen. Parteien, Politik, Kirchen, Banken, die Wissenschaft – sie alle wollen unser Vertrauen, sie alle werben um unser Vertrauen, aber jede Krise, jeder Skandal, jede enttäuschte Erwartung erschüttert, so scheint es, die Grundlagen, auf denen Vertrauen gedeihen kann.

Den Vertrauenspuls messen

Für die anderen sind die mit dem Vertrauen verbundenen Hoffnungen maßlos übertrieben. Wo Macht sich bündelt, wo Ungleichheit wächst, braucht es Misstrauen und nicht Vertrauen, Vor- und Umsicht, keinesfalls aber naive Zuversicht. Wieder andere verzichten auf Diagnosen und Wertungen. Sie legen ihr Stethoskop an die Gesellschaft und messen das Vertrauen. „Finden Sie, dass man im Allgemeinen den meisten Menschen vertrauen kann?“ Das ist so eine Frage, die den Vertrauenspuls einer Gesellschaft erfassen soll. Ganze Gesellschaften werden so mit einem Vertrauensindex versehen, ganze Volkswirtschaften lassen sich entlang des gemessenen Vertrauensniveaus differenzieren.

Wie konnte es dazu kommen, dass das Vertrauen eine derart gewichtige Rolle in der Selbstbeschreibung gegenwärtiger Gesellschaften erhalten hat? Mindestens zwei Erklärungsmuster bieten sich an, die in interessanter Spannung zueinanderstehen. Einerseits dehnen sich unsere Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten aus, wir haben mit immer mehr unbekannten oder fremden Anderen zu tun, ohne deren Leistungen wir unsere Projekte und Pläne nicht umsetzen könnten, deren Verhalten wir aber nicht vollständig auf der Basis allgemein gültiger Regeln und Normen vorhersagen können. Die Soziologie nennt dieses Phänomen Entbettung und meint damit das Herauslösen sozialer Beziehungen aus örtlich und räumlich gebundenen Kontexten.

Bindungen und Loyalitäten verflüssigen sich

In ähnlicher Weise haben sich auch im Bereich des politischen Handelns Bindungen und Loyalitäten verflüssigt und von traditionsgestützten Zustimmungsmustern entfernt. Unser Vertrauen gilt nicht mehr kontinuierlich einer Partei, es ist eher die schwer greifbare Reputation des politischen Personals, die unsere Beurteilung politischer Optionen bestimmt. Vertrauen, so heißt es gelegentlich, ist die unsichtbare Institution unserer Demokratien, es löst formalisierte Verpflichtungen auf und ist in seinen Bewegungen schwer vorhersehbar. Die Häufung politischer Skandale dürfte die Kehrseite dieser wachsenden politischen Rolle des Vertrauens sein. Wir schauen genauer hin, urteilen schärfer und lassen schneller fallen. Wenn Vertrauen heißt, andere freizulassen und von beständiger Kontrolle zu entlasten, so ist klar, dass es erarbeitet werden muss und nie ganz stabil ist. Vertrauensbasierte Gesellschaften sind so unruhig wie vertrauensbasierte Politik, sie kommen kaum je zur Ruhe. Man kann es auch so sagen: Es hängt zu viel am Vertrauen, um es großzügig zu verschenken.

Das ist die eine Erklärung. Die andere folgt auf eigentümliche Weise aus ihr, macht eine Gegenrechnung auf. In dem Maße, in dem Bindungen sich verflüssigen und Handlungsräume sich ausdehnen, entwickelt sich eine Sehnsucht nach Vertrautem, nach kleinteiligen Räumen der Übersichtlichkeit und Ähnlichkeit. In diesem Erklärungsmodell wiegen Vertrauensverluste schon allein deswegen schwer, weil es Gewinner und Verlierer der gewachsenen Handlungsoptionen gibt. Vertrauen löst folglich nicht nur Konflikte, weil es Kooperation über Grenzen hinweg erleichtert, es führt sein eigenes Konfliktpotenzial mit sich. Schenke ich der einen Seite Vertrauen, so schenke ich es der anderen nicht. So kann die Orientierung an Räumen der Vertrautheit das Vertrauen, das im Innern dieser Räume gedeiht, nach außen mit Mauern versehen, verbunden durch den Mörtel des Misstrauens sowie der Furcht vor Fremdheit. Wir vergeben Vertrauen selektiv.

Ein rares, begehrtes Gut

Selbst wenn es also stimmt, dass moderne Institutionen ohne Vertrauen nicht leben können und dass moderne Politik Vertrauen gewinnen muss, wenn sie will, dass ihr Macht anvertraut wird – aus diesem Bedarf entsteht keineswegs automatisch eine allgemeine Bereitschaft zu vertrauen. Wir dürfen nicht vergessen: Vertrauen erzeugt seine ganz eigenen Verletzlichkeiten, weil es auf Überwachung und Kontrolle verzichtet. Aber nicht jeder will verletzlich sein, mancher will dem Vertrauen ausweichen oder zieht es eben zusammen auf den engsten Kreis. So wird Vertrauen in gewisser Weise selbst ein rares Gut, um das politisch gestritten werden muss, es verliert ein wenig seinen heimeligen, warmen Charakter. Was wollen wir vom Vertrauen, als Gesellschaft und als Individuum? Bevor wir den Verlust des Vertrauens beklagen, sollten wir uns an die Beantwortung dieser Frage machen. Dann wird auch deutlicher, an welchen Punkten wir Energien aufwenden sollten, um Bedingungen des Vertrauens zu schaffen.

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