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Erinnerungskultur
„Mit einem Einzelschicksal kann man sich identifizieren“

Schüler*innen einer 9. Klasse stehen 2019 auf dem ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers Neuengamme.
Schüler*innen einer 9. Klasse stehen 2019 auf dem ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers Neuengamme. | Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Markus Scholz

Jugendlichen wird oft mangelndes Interesse an Geschichte unterstellt. Studien zeigen aber, dass sie sich sehr wohl etwa für den Nationalsozialismus interessieren – oft aber Wissenslücken haben. Ulrike Jensen ist Leiterin des Bereichs Jugendbildung in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers (KZ) Neuengamme in Hamburg. Sie spricht darüber, was sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat und wie Wissen altersgerecht vermittelt werden kann.

Ulrike Jensen, Sie machen regelmäßig Führungen mit Schulklassen durch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Was erleben Sie dabei?

Oft haben die 15- bis 16-Jährigen falsche Vorstellungen. Viele haben bruchstückhafte Kenntnisse, aber kein Gesamtbild. Oft wird Hitler als Verkörperung des Bösen schlechthin gesehen, der allein an allem schuld war. Wir rücken dann erstmal zurecht: Ganz so war es nicht. Viele Menschen haben ihn gewählt, er hatte Helfer*innen. Zum Beispiel sagen die Kinder oft, sie hätten gelernt, dass SS-Männer das nicht freiwillig gemacht haben (die Mitglieder der sogenannten „Schutzstaffel“, kurz SS, welche unter anderem die Konzentrationslager leiteten; Anm. der Redaktion). Das ist falsch: Man weiß, dass es keinen KZ-Aufseher von der SS gab, der das nicht freiwillig gemacht hätte. Dann sprechen wir auch über Handlungsspielräume: Selbst wenn ich gezwungen werde, im Lager zu arbeiten, heißt das nicht, dass ich dabei grausam sein muss.

Es geht um harte Themen, wie gehen Sie damit auf die jungen Menschen zu?

Erstmal hören wir, welche Fragen sie haben. Und dann arbeiten wir mit einem Fokus auf Biografien. Mit einem Einzelschicksal kann man sich identifizieren, da findet jeder einen persönlichen Bezug. Meine Maxime ist: Nicht überwältigen, aber auch nicht verschweigen, was passiert ist. Lange wurde in vielen Gedenkstätten etwa der Befreiungsfilm des Konzentrationslagers Bergen-Belsen gezeigt (der Dokumentarfilm basiert auf den Filmaufnahmen der britischen Armee, als diese 1945 das Lager einnahm; Anm. der Redaktion). Das ist längst nicht mehr so. Über Einzelschicksale schafft man viel mehr Nähe zum Thema als durch detaillierte Grausamkeiten. Da schalten die Menschen ab. Wir lassen den Menschen Raum, ihre eigenen Gefühle zu dem zu entwickeln, was hier passiert ist.

Wie machen Sie das?

Wir erklären Hintergründe: Warum hat die SS wie agiert. Wie ein KZ geführt wurde, war nicht zufällig – die wussten genau, was sie taten und warum. Manchmal muss man auf die Meta-Ebene gehen. Vieles kann man den Kindern sehr gut an Phänomenen wie Ausgrenzung nahebringen. Die SS hat in KZs viel mit dem Prinzip „teile und herrsche“ gearbeitet, das funktioniert eigentlich immer.

Was bedeutet „teile und herrsche“?

Ich teile eine Gruppe in mehrere Grüppchen und behandle diese unterschiedlich. Was passiert? Spaltung. Kinder verstehen das schnell und übertragen es auf bekannte Klassensituationen: Der Lieblingsschüler, der immer besser behandelt wird, wird irgendwann abgelehnt, auch wenn er eigentlich nett ist. Es gibt Neid und keinen Zusammenhalt mehr. Hier im Lager ging es um Leben und Tod. Jedes Stück Brot, das man bekam oder nicht, zählte. So begreifen die Jugendlichen auch, warum es so gut wie nie Aufstände in KZs gab.
Schülerinnen betrachten auf einem Rundgang einen historischen Reichsbahnwaggon, der symbolisch für den ehemaligen Lagerbahnhof des Konzentrationslagers Neuengamme steht. Schülerinnen betrachten auf einem Rundgang einen historischen Reichsbahnwaggon, der symbolisch für den ehemaligen Lagerbahnhof des Konzentrationslagers Neuengamme steht. | Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Markus Scholz Sie machen diese Arbeit seit fast 40 Jahren. Was hat sich verändert?

Insgesamt gar nicht so viel. Allerdings haben Jugendliche etwa in den 1990er-Jahren noch Zeitzeug*innen erlebt. Wenn ein alter Mensch vor ihnen steht und erzählt, was er hier erlebt hat, ist sogar der größte Rabauke still. Da verstehen sie plötzlich, dass das reale Geschichten von realen Menschen sind. Heute gibt es so gut wie keine Zeitzeug*innen mehr. Wir zeigen zwar Interviewausschnitte, aber der direkte Kontakt fehlt. Trotzdem sind die jungen Menschen immer noch interessiert.

Was empfehlen Sie Schulen?

Ich halte die Herangehensweise über Menschen und Einzelschicksale für das Beste. Und Zusammenhänge sind wichtig. Wenn man etwa über die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 spricht, dann muss man natürlich auch vermitteln, dass sie eine logische Folge des Zweiten Weltkriegs war: sowas kommt von sowas, Aktion und Reaktion. Die Lehrkräfte sollten das Geschehene nicht als etwas Abgeschlossenes darstellen – welche Epoche auch immer sie gerade unterrichten –, sondern Bezüge herstellen und Parallelen ziehen zu anderen Ereignissen und Epochen.

Wie kann man die Erinnerungsarbeit zugänglicher machen für junge Menschen?

Wir machen schon seit vielen Jahren partizipative Projekte: Wenn wir etwa einen neuen Gedenkort planen, erzählen wir den Jugendlichen etwas über die Geschichte des Ortes und fragen sie: Wie wollt ihr euch erinnern? Wie soll so ein Ort aussehen, dass er euch anspricht? Partizipation ist das A und O. Das heißt ja nicht, dass man alles exakt umsetzen muss, aber es ist gut, es sich anzuhören und mit zu bedenken. Dann fühlen sich die jungen Menschen auch ernst genommen. Das ist das Beste, was man machen kann. Auch im Unterricht.

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