Internationaler Holocaust-Gedenktag
Der blinde Fleck im Herzen Dresdens

Dass vom Alten Leipziger Bahnhof in Dresden aus hunderte Jüdinnen und Juden in den Tod geschickt wurden – daran erinnerte sich bis vor kurzem kaum noch jemand. André Lang, Holger Knaak und ihre Mitstreiter wollen das ändern. Und einen Ort der Begegnung mit jüdischem Leben schaffen. Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hat der Dresdner Journalist Andreas Roth mit den beiden gesprochen.
Von Andreas Roth
Herr Lang, wir sind hier auf dem Gelände des Alten Leipziger Bahnhofs in Dresden, eine Brachfläche mit Ruinen. Was die meisten Dresdner nicht einmal wissen: Von hier wurden ab 1942 hunderte Jüdinnen und Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager geschickt - was berührt Sie, wenn Sie an diesem Ort stehen?
Lang: Mich berührt dieser Ort außerordentlich. Das hat etwas mit der Geschichte meiner Familie zu tun. Ich bin 1946 in Manchester geboren, wo meine Eltern mit mir und meiner Schwester im Exil waren. Mein Vater hat als Kommunist aktiv gegen die Nazis gekämpft und im Zuchthaus gesessen, meine Mutter kommt aus einer ungarisch-jüdischen Familie. Ein großer Teil unserer ungarischen Verwandten hat den Weg in die Ghettos und in die Vernichtungslager der Nazis antreten müssen. Der Alte Leipziger Bahnhof steht symbolisch für das, was den Menschen im Nationalsozialismus angetan worden ist.
Herr Knaak, Ihre Künstlervereinigung blaueFABRIK hat vor acht Jahren in einem Seitenflügel des Alten Leipziger Bahnhofs eine neue Heimat gefunden – wussten Sie damals, welches geschichtliche Terrain Sie da betreten?
Knaak: Die ersten Jahre habe ich davon nichts gewusst. Was ich wusste: Dieser Bahnhof war der Endpunkt einer der ältesten Ferneisenbahnstrecken der Welt, die seit 1839 zwischen Leipzig und Dresden fuhr. Und ich war sehr verblüfft, dass er eine Ruine war, so verfallen. Als Historiker war ich völlig perplex, andernorts hätte man ein Museum daraus gemacht. Mich berührt bei der Erinnerung an die Deportation der Juden per Eisenbahn, dass sich hier mit der Technikgeschichte auch ein moralischer Niedergang verschränkt. Mit einem Rückfall in die Barbarei.
Waren Ihnen in der jüdischen Gemeinde Dresdens diese dunklen Seiten des Alten Leipziger Bahnhofs bekannt, Herr Lang?
Lang: Nein. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass die Geschichte dieses Ortes in der Zeit meiner Jugend und auch später besonders thematisiert wurde. Zu DDR-Zeiten war der Alte Leipziger Bahnhof als Ort der Deportationen nicht bekannt. Erst 2001, als die Künstlerin Marion Kahnemann, die auch Mitglied unserer jüdischen Gemeinde ist, eine Gedenktafel für die Deportierten am benachbarten Neustädter Bahnhof geschaffen hat, ist es öffentlich thematisiert worden.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Erinnerung so lange wie ausgelöscht war?
Lang: Der Alte Leipziger Bahnhof war ja viele Jahre noch in Betrieb als Güterbahnhof. Und man hatte andere Gedenkstätten in Dresden, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Jüdinnen und Juden waren in der DDR schon als starke Opfergruppe benannt worden. Aber zum großen Teil lag der Fokus auf Opfergruppen, die aktiv gegen den Faschismus gekämpft hatten – mein Vater gehörte dazu.
Hier am Alten Leipziger Bahnhof wollen wir nun an die in die Vernichtungslager der Nazis deportierten Jüdinnen und Juden erinnern. Und wir wollen auch von den Tätern sprechen. Die Transporter der Juden etwa aus dem Dresdner Lager Hellerberg sind organisiert worden durch die Dresdner Stadtverwaltung, die Polizei, die SS, die Gestapo und die Deutsche Reichsbahn. Es waren viele Täter.
Darüber haben nach dem Krieg die Täter und die Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik und auch in der damaligen DDR geschwiegen. Als ich in der DDR in die Schule ging, wurde nicht darüber geredet, was die Väter und Mütter meiner Klassenkameraden in der Zeit des Faschismus getan hatten. Wo waren die denn? Wo waren die denn alle? In der DDR ist man nach der Verurteilung aktiven Naziverbrecher - sehr schnell zum antifaschistischen Staat geworden, ohne auch über die Schuld und das Schweigen der Mehrheitsgesellschaft in der Nazizeit nachzudenken – und daraus zu lernen.

Holger Knaak und André Lang vor der Ruine des Alten Leipziger Bahnhofs in Dresden | © Andreas Roth
Diesen blinden Fleck kann man am Alten Leipziger Bahnhof mit Händen greifen: Er ist ein großes unbekanntes Terrain mitten in Dresden, verfallen und zugewachsen. Wie kam es dazu, dass dieser Ort in den letzten Jahren neu entdeckt wurde?
Lang: Einen großen Teil davon hat nach 1989 eine große Handelskette erworben, um dort einen riesigen Verbrauchermarkt zu bauen. Als es Widerstand dagegen gab, rückte der alte Bahnhof in den Fokus – und auch seine Geschichte mit dem sehr dunklen Fleck. Im Januar 2022 haben wir an diesem Ort mit einer Gedenkveranstaltung an den 80. Jahrestag des Beginns der Zwangsdeportationen erinnert und daraus ist unser Förderkreis Alter Leipziger Bahnhof entstanden mit dem Ziel, dass hier ein würdiger Gedenk- und Begegnungsort entsteht.
Herr Knaak, Sie sind Gründungsmitglied des Vereins Gedenkort Alter Leipziger Bahnhof e.V., der 2024 aus dem Förderverein hervor ging – warum war Ihnen dieses Projekt auch als Geschäftsführer der Künstlervereinigung blaueFABRIK e.V. wichtig?
Knaak: Auf die dunkle Geschichte des Bahnhofs bin ich vor allem durch die Vorbereitungen für die Gedenkveranstaltung im Januar 2022 gestoßen. Für mich war relativ schnell klar: Man muss bei der Planung für eine künftige Nutzung dieses großen Gebiets die vorhandene kulturelle Nutzung und die Geschichte verzahnen. Man könnte in den alten Bahnhofsgebäuden Ausstellungs- und Begegnungsräume schaffen, eine Gedenkstätte, ein Café, einen Ort für Lesungen, Vorträge und Konzerte.
Aus der jüdischen Gemeinde Dresdens gab es dazu aber auch kritische Stimmen, die Musik auf der Bahnsteigrampe, wo Menschen in Richtung KZ fahren mussten, gar nicht passend finden.
Lang: Es gibt Vertreter aus der jüdischen Community, die sagen: Wir wollen das ausschließlich als Gedenkort hier haben - und es gibt die andere Seite, die Jüngeren, die sagen: Jüdisches Leben gab es vor dem Dritten Reich und gibt es jetzt glücklicherweise wieder, wir wollen uns nicht nur über den Holocaust definieren. Und dann haben wir uns zusammengesetzt und haben das miteinander besprochen. Wir wollen einen Ort der Erinnerung, des Gedenkens und der Begegnung zwischen Juden und Nicht-Juden schaffen mit Diskussions-, Film- und Musikveranstaltungen. Dem historischen Ort angemessen. Das Projekt soll auch ergänzt werden um ein kleines koscheres Restaurant oder Café. Es soll auch ein Ort der Kontakte der Mehrheitsgesellschaft mit der Minderheit werden. Also muss man sich auch öffnen.
Welchen Beitrag kann denn ein Kulturverein wie die blaueFABRIK dazu leisten?
Knaak: Wenn immer mehr Menschen nur noch in ihrer eigenen Blase leben, dann braucht man Begegnungsräume. Kunst und Kultur hatten ja schon immer auch eine solche Funktion. Vielleicht gibt es bei vielen eine Hemmschwelle, direkt in eine jüdische Gemeinde zu gehen - und da sind wir als Kulturverein neutrales Territorium. Wir sind ja eine Künstlervereinigung, die ein Kulturhaus mit Schwerpunkt Jazz betreibt und dieser Themenkomplex ist für uns in der inhaltlichen Arbeit auch relativ neu.
Wenn wir also neben unserem normalen Programm nun auch Veranstaltungen zu diesen Themen machen – wie etwa mit der Veranstaltung mit dem israelischen Fotografen Idan Golko und dem israelischen Jazz-Pianisten Ido Spak im Dezember, die vom Goethe-Institu Israel unterstützt wurde – möchten wir damit auch Menschen anziehen, die sonst nicht in Kontakt mit jüdischer Kultur kommen würden.

Wandinstallation „The Equation“ des israelischen Künstlers Idan Golko in der Blauen Fabrik | © Idan Golko
Seit Jahren wird nun in Dresden über den Alten Leipziger Bahnhof diskutiert – wann könnte er als Erinnerungs- und Begegnungsort wirklich öffnen?
Lang: Der Stadtrat hat sich vor zwei Jahren einstimmig – mit Stimmenthaltung durch die AfD und der Freien Wähler – dazu bekannt. Unser Verein arbeitet jetzt an einer dafür erforderlichen inhaltlichen und planerischen Konzeption. Bei den Gesamtkosten reden wir von ca. 20 bis 25 Millionen Euro. Wir haben die Unterstützung des Dresdner Oberbürgermeisters und des sächsischen Ministerpräsidenten. Es gab auch ein Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn, er hat sich zur Mitverantwortung der Bahn für die Verfolgung der Jüdinnen und Juden bekannt. Eine Fertigstellung wäre - wenn alle daran intensiv arbeiten - 2028 oder 2029 möglich.
Steht hinter diesem Plan auch der Wunsch, dass der Tod an diesem Ort der Deportationen nicht das letzte Wort behält?
Knaak: Ja, unbedingt. Der Nationalsozialismus lebte auch von der Spaltung in „wir“ gegen „die“, was sich ja nicht nur in „Deutsche“ versus „Juden“, sondern auch in vielen anderen Ausgrenzungen manifestierte. Wenn nun in der Gegenwart Menschen zu Konzerten, zu Lesungen, vielleicht auch mal zu einem Tanzabend kommen und jüdische und nicht-jüdische Menschen gemeinsam schöne Erlebnisse haben - das ist doch der größte Triumph über die Nazis von damals und über denjenigen, die heute wieder einige Menschengruppen als mehr wert erachten als andere. Das ist also ein gutes Rezept, um eine Blasenbildung zwischen jüdischen Menschen und Anderen zu verhindern und generell etwas gegen die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft in einzelne, leicht gegeneinander auszuspielende Gruppen zu tun.
Lang: Dieser Ort soll Menschen auch mit Kultur und Musik - welches ein würdiges Gedenken an die Opfer der Shoa beinhaltet – zusammenführen. Das letzte Wort soll sein: Lernt daraus. Und dass jüdisches Leben in unserer Stadt weitergeht.
Zu den Personen:
André Lang (78): Ist langjähriges Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Dresden und Sprecher des Förderkreises Alter Leipziger Bahnhof Dresden.
Holger Knaak (47): Ist Geschäftsführer der Künstlervereinigung blaueFABRIK in Dresden und studierter Historiker.