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Vigdís Finnbogadóttir
„Frauen, die im Ausland studierten, gab es damals kaum“

Vigdís Finnbogadóttir im Gespräch
„Pessimismus nimmt Menschen den Mut“: Vigdís Finnbogadóttir im Gespräch. | Collage (Detail): © privat/TEMPUS CORPORATE

Vigdís Finnbogadóttir (* 1930) war von 1980 bis 1996 Präsidentin von Island. Sie war weltweit die erste Frau, die bei nationalen Wahlen zum Staatsoberhaupt gewählt wurde. Die Fragen stellte der isländisch-deutsche Schriftsteller Kristof Magnusson.

Magnusson: Sie wurden im Island der 1930er-Jahre geboren – in welchem Umfeld wuchsen Sie auf?

Finnbogadóttir: In einem kosmopolitischen. Mein Vater hatte in Kopenhagen studiert und später die erste Professur für Ingenieurwesen an der Universität von Island inne. Meine Mutter war in Berlin und Wien zur Schule gegangen und arbeitete als Krankenschwester. Sie war eine einflussreiche Frau, da sie viele Jahre lang Vorsitzende des Verbandes isländischer Krankenschwestern war.

Magnusson: Hatten Sie in Ihrer Kindheit und Jugend das Gefühl, dass Island Teil Europas ist?

Finnbogadóttir: Für mich war Island der Mittelpunkt der Welt. Ich wuchs mit der ungemein vielfältigen und ausdrucksreichen isländischen Sprache auf. Mein Großvater, der Priester und Lehrer war, drängte mich geradezu, unzählige Bücher zu lesen. Doch mich interessierte auch, was außerhalb von Island passierte – denn ich wollte unbedingt Kapitänin werden.

Magnusson: Wie alt waren Sie da?

Finnbogadóttir: Etwa zehn Jahre. Ich wollte die Welt sehen, aber immer wenn ich davon sprach, strich man mir liebevoll über den Kopf und sagte: „Liebes, das kannst du nicht, du bist doch ein Mädchen.“

Magnusson: Das haben sie gesagt?

Finnbogadóttir: Ja, deshalb finde ich es bis heute immer noch toll, wenn im Flugzeug eine Frauenstimme ansagt: „Hallo, hier spricht Ihre Kapitänin.“

Magnusson: Fürchteten Sie als Kind, dass der Krieg eines Tages auch Island erreichen würde?

Finnbogadóttir: Oh ja. Dann würde ich niemals die Welt entdecken, dachte ich, was natürlich recht egoistisch war. Zu Hause wurde immerzu über das aktuelle Weltgeschehen gesprochen. Während des Krieges hing im Büro meines Vaters eine Landkarte, auf der wir verfolgten, wie sich die Fronten mal hier- und mal dahin verschoben.

Magnusson: Stimmt es, dass Sie damals Postkarten mit berühmten europäischen Kunstwerken sammelten, weil Sie Angst hatten, sie würden zerstört?

Finnbogadóttir: Nun, ich hängte mir Abbildungen aus Kunstbüchern an die Wand. Meine Freundinnen sammelten Bilder von irgendwelchen Stars, ich Drucke von Cézanne, van Gogh und Gauguin.

Magnusson: Nach dem Krieg wurde Island unabhängig, 1949 verließen Sie Ihre Heimat.

Finnbogadóttir: Ich wollte unbedingt nach Frankreich, zur Wiege der Moderne. Ich studierte Literaturwissenschaften in Grenoble und Paris. Ich interessierte mich für die Wurzeln des Impressionismus und liebte das Theater der Avantgarde. Zurück in Island half ich bei der Gründung des ersten Avantgarde-Theaters und übersetzte französische Dramen ins Isländische. Frauen, die im Ausland studiert hatten, gab es damals ja kaum – und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich die Möglichkeit dazu hatte.

Magnusson: Hatten Sie das Gefühl, dass Island kulturell abgeschottet war?

Finnbogadóttir: Menschen wie ich brachten die europäische Kultur nach Island. Die amerikanische Kultur war bei uns immer viel dominanter – fast alle Filme kamen aus den USA. Wir befinden uns hier auf einer Insel, unsere Grenzen sind das Meer. Es ist wichtig, daran zu erinnern. Damals gab es ja auch kein Internet, wir mussten den Ozean noch wirklich überqueren, um zu sehen, was auf der anderen Seite passiert. Diese Erfahrung war für uns noch wichtiger als für Menschen auf dem Festland.

Magnusson: Die 1950er- und 1960er-Jahre waren kulturell, aber auch politisch bewegte Zeiten.

Finnbogadóttir: Die Politik interessierte mich damals kaum, ich beschäftigte mich im Wesentlichen mit kulturellen Dingen. Es war ja so viel los im Theater, in der Literaturszene – und in der Frauenbewegung. Simone de Beauvoir war in aller Munde.

Magnusson: Im Nachkriegsdeutschland war „Europa“ für viele Menschen eine idealisierte Vorstellung. Europa als Retter der Welt. Das hatte natürlich mit Politk zu tun.

Finnbogadóttir: Für uns Isländer*innen hatte Europa immer in erster Linie eine kulturelle Dimension. Aber wir verstanden uns stets als Europäer*innen. Unser historisches Fundament, unsere isländischen Wurzeln liegen in Europa.

Magnusson: Von welchen Erfahrungen profitierten Sie im Amt der Präsidentin besonders?

Finnbogadóttir: Sehr hilfreich waren meine intensiven Theatererfahrungen. Das Verständnis für die Menschen ist für das Amt der isländischen Präsidentin, welches ja kein politisches ist, von entscheidender Bedeutung. Bei der isländischen Präsidentschaft geht es um das Vertrauen der Bevölkerung – das Amt ist Symbol ihrer Einheit. Ich freue mich beispielsweise, dass ich früh auch junge Menschen einbezogen habe. So pflanzte ich in einer Zeit, als Island unter Trockenheit und Bodenerosion litt, überall, wo ich hinkam, drei Birken: eine für die Jungen, eine für die Mädchen und eine für die noch ungeborenen Kinder.

Magnusson: Wie schön!

Finnbogadóttir: Das sahen nicht alle so. „Warum pflanzt diese Frau Bäume?", fragten sie. Die Journalisten suchten ständig nach Schwachstellen, gerade weil ich die erste Frau in dem Amt war. Anfangs hat mich das verletzt, dann gewöhnte ich mich daran. Heute ist das Gute daran, dass die Bäume aus jener Zeit viel Kohlendioxid binden – aber davon hatte ich damals überhaupt keine Ahnung.

Magnusson: Ihr Handeln wurde oft kritisiert, nur weil Sie eine Frau sind?

Finnbogadóttir: Anfangs waren genau deshalb viele Leute gegen mich. Eine Frau als Präsidentin konnten sie sich nicht vorstellen. Ich habe die Wahl ja dann auch nur sehr knapp gewonnen.

Magnusson: Hatten Sie selber an den Sieg geglaubt?

Finnbogadóttir: Ich hatte zunächst abgelehnt und mich am Ende zu der Kandidatur drängen lassen. Mir schrieben so viele Menschen und unterstützten mich. Den Ausschlag gab dann das Telegramm von Bord eines Fischtrawlers. Alle Crewmitglieder hatten die Aufforderung zur Kandidatur unterschrieben. Isländische Seeleute schätzen Frauen sehr, weil sie es sind, die sich während ihrer Abwesenheit um alles kümmern. Frauen sind Finanzministerinnen, Kulturministerinnen, Architektinnen – Seeleute wissen, dass sie einer Frau voll und ganz vertrauen können.

Magnusson: Wie ging es dann weiter?

Finnbogadóttir: Die Unterstützung war groß, aber es wurde dann sehr anstrengend. Ich war ständig unterwegs. Schwierig war auch, dass ich nicht verheiratet war. Das war vielen Leuten suspekt.

Magnusson: Sie waren geschieden und alleinerziehende Mutter.

Finnbogadóttir: In den Debattierrunden mit den anderen Kandidaten war das immer wieder Thema: „Wie wollen Sie das ohne Mann machen?“ Als die Isländer*innen 1980 dann wirklich mich, eine Frau, wählten, war das ein Wendepunkt. Seitdem hat sich vieles verändert. Ich denke, ich habe meinen Teil dazu beigetragen, Mädchen und Frauen in ihrem Selbstvertrauen zu stärken: „Wenn sie es kann, kann ich es auch.“

Magnusson: Diese Auswirkungen waren nicht nur in Island selbst zu spüren. Die Wahl zeigte auch im Ausland große Wirkung und brachte Island viel Beachtung.

Finnbogadóttir: Ja, das stimmt. Ich habe sogar noch eine Zeitung aus China mit einem Bild von mir auf der Titelseite. Meine Wahl stand weltweit in den Zeitungen – was bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass wir immerhin bereits das Jahr 1980 schrieben.

Magnusson: In die Zeit Ihrer Präsidentschaft fiel ein großes Ereignis: das zweite Gipfeltreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow im Jahr 1986.

Finnbogadóttir: Dieser Gipfel in Reykjavík war von historischer Bedeutung. Wir Isländer*innen hatten uns natürlich schon damals ein Abkommen gewünscht, das Europa und die Welt vereint. Aber wir erkannten, dass die Tür vorerst nur einen Spalt geöffnet war. Es dauerte dann aber keine drei Jahre, bis die Mauer fiel.

Magnusson: Wirklich unglaublich.

Finnbogadóttir: Wir werden ewig dankbar dafür sein, dass dieses Gipfeltreffen hier in Island stattfand – geografisch auf halbem Wege zwischen den damaligen Blöcken des Westens und des Ostens. Als neutrale Insel waren wir der ideale Ort.

Magnusson: Diese Neutralität war damals ein großer Vorteil. Heute führen viele Isländer*innen genau diese Unabhängigkeit als Argument gegen einen Beitritt ihres Landes in die Europäische Union an.

Finnbogadóttir: Richtig, wir sind kein Mitglied der EU. Aber ich habe damals bewusst das EFTA-Abkommen unterzeichnet – wir sind also Teil des Europäischen Wirtschaftsraumes. Und damit ist sichergestellt, dass junge Isländer*innen weiterhin an den europäischen Universitäten studieren können. Wir empfinden uns als Europäer*innen mit einer herzlichen Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich bin aber froh, dass wir von den USA nicht abhängig sind.

Magnusson: Finden Sie es auch gut, dass Island kein Mitglied der Europäischen Union ist?

Finnbogadóttir: Ich bin da nicht absolut festgelegt, aber ich denke, das derzeitige Arrangement ist für uns am besten. Wir sind auch jetzt bei der Europäischen Union sehr gut aufgestellt.

Magnusson: Sie erzählten bereits, wie sehr Sie sich als Studentin für die europäische Kultur interessierten. Wie steht es heute um die Kultur Islands?

Finnbogadóttir: Ich denke, dass wir da heute sehr selbstbewusst sein können. Wir sind ein kleines Land – und verfügen doch über ein eigenes Nationaltheater, ein auch auf internationaler Ebene brillantes Symphonieorchester sowie eine Reihe von bedeutenden Kulturzentren. Wir müssen unsere Sprache unbedingt bewahren – und auch deshalb die Digitalisierung vorantreiben. Die Einflüsse aus dem Angelsächsischen sind weiterhin dominant. Dabei verfügen wir über eine eigene, unschätzbar reiche Geschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Wir haben keine Burgen, aber Sagen, die auf der ganzen Welt bekannt sind.

Pessimismus nimmt Menschen den Mut.

Vigdís Finnbogadóttir

Magnusson: Wird die isländische Sprache dauerhaft überleben?

Finnbogadóttir: Auf eine Sprache, die nur von so einer kleinen Minderheit gesprochen wird, müssen wir immer besonders gut achtgeben. In Südamerika etwa verschwinden Sprachen, weil die Kinder spätestens in der Schule nur noch in den offiziellen Landessprachen lernen. Die Sprache der Großeltern geht hingegen verloren. In Island ist das anders. Wir haben das Glück, dass sehr viele Schriften in isländischer Sprache verfasst sind. Auch unsere Autor*innen schreiben weiterhin in ihrer isländischen Muttersprache.

Magnusson: Lassen Sie uns über die Zukunft sprechen. Sind Sie da eher optimistisch oder pessimistisch?

Finnbogadóttir: Pessimismus nimmt den Menschen ihren Mut, Optimismus hingegen gibt ihnen Kraft. Das ist natürlich leicht gesagt, schließlich gibt es schwer kranke Menschen oder solche, die in Kriegsgebieten leben. Dennoch sage ich: Glauben Sie an das Gute in der Zukunft.

Magnusson: Sagen Sie das auch den Schüler*innen der „Fridays for Future“-Bewegung?

Finnbogadóttir: Ja, genau, darum geht es nämlich – um die Überzeugung, dass man mit Protest etwas bewegen kann.

Magnusson: Was ist aus Ihrer Sicht die größte Bedrohung für Europa?

Finnbogadóttir: Die Fremdenfeindlichkeit beunruhigt mich sehr. Während und nach dem Krieg hat uns sehr geschadet, dass wir Unterschiede dahingehend machten, wie wertvoll einzelne Menschen sind. Ich bin überzeugt: Alle Menschen sind gleich, nur haben nicht alle das Glück, an einem sicheren Ort geboren zu werden

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