Nachbarschaften: Saarbrücken – Sarreguemines | 1
Mit der Straßenbahn über die Grenze
Das Saarländische Staatstheater | © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
Saarbrücken ist die größte deutsche Stadt an der Grenze zu Frankreich. Unser Autor Roberto Sassi erzählt von der kulturellen, architektonischen und sprachlichen Vielfalt dieser Stadt und ihrer Region und nimmt uns mit auf eine ganz besondere Straßenbahnfahrt.
Von Roberto Sassi
Saarbrücken heute
Von der Terrasse des Saarbrücker Schlosses aus betrachtet, wirkt die A 620 irgendwie grotesk, fast wie eine gewaltige Polistil-Rennbahn. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, wie man mitten im Herzen der Stadt so eine Autobahn bauen konnte. Autos und Lastwagen rauschen hier nach Norden, Richtung Saarlouis, und nach Süden. Ein Teil davon wird bis über die Grenze nach Frankreich weiterfahren, ein anderer auf die A6 wechseln, die Deutschland von Osten nach Westen waagrecht in zwei Teile teilt.In diesem Abschnitt führen die fünf Spuren der A 620 das Ufer der Saar entlang, folgen der sanften Biegung des Flusses und tauchen dann unter einer Fußgängerbrücke hindurch. Die sogenannte Alte Brücke verbindet die beiden historischen Siedlungsgebiete St. Johann und Alt-Saarbrücken, die zusammen das heutige Saarbrücken bilden. Die Autobahn ist dabei, wenn man es recht überlegt, ein indirekter Hinweis auf die nur vier Kilometer entfernte deutsch-französische Grenze. Denn gebaut wurde die platzfressende Straße zu Beginn der 60er Jahre mit dem Ziel, den Autoverkehr von und nach Frankreich und Luxemburg zu erleichtern. Sie ist wahrlich kein urbanistisches Meisterwerk, aber ohne ihren Bau – für den einige Mauern des Schlosses und der alte Platz des Neumarkts geopfert wurden – wären die französischen Nachbarstädte erheblich schlechter zu erreichen.
Im Hintergrund, jenseits der Stadt, bilden sanfte grüne Hügel ein Gegengewicht zum Beton und den Glasfassaden des modernen Saarbrückens. Am Flussufer radeln Radfahrer*innen langsam an vertäuten Motorbooten vorbei und in der Ferne sieht ein überhoher Schornstein aus wie in den Wald gesteckt, quasi als Beleg für die industrielle Ausrichtung der Region. Hier oben, am höchsten Punkt des Hügels, auf dem sich das Barockschloss erstreckt, fällt es schwer, sich den Staub, die Dunkelheit und die stickige Luft in den Gruben oder die kräftezehrenden Schichten und unmenschlichen Temperaturen in den Gießereien vorzustellen. Und doch basierte die Wirtschaft des Saarlands lange auf den drei Säulen Kohle – Eisen – Stahl. Wertvolle Rohstoffe, die gleichermaßen das Glück der Region, wie auch der zentrale Grund für ihre Schicksalsschläge wie die zahlreichen Herrschaftswechsel und wiederholten Grenzverschiebungen waren. Das heutige Saarbrücken, das ich in der prallen Julisonne zu Fuß erkunde, ist das Ergebnis einer Vermengung verschiedener Baustile, die bisweilen verwirrend wirkt: Die Altstadt ist geprägt von barocken, unterschiedlich hohen Gebäuden, die wie Tetrissteine ineinander verkeilt sind. In den umliegenden Stadtteilen überwiegen indes spartanische und funktionale Bauten, die zu einem großen Teil in den 50er Jahren, im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg errichtet wurden. Nur wenige Schritte trennen die bezaubernden Gassen rund um den Sankt-Johanner Markt von den mächtigen Gewerbeimmobilien in der Umgebung – wie etwa von jenen in der Bahnhofstraße, der Fußgängerzone, die vom Zentrum zum Bahnhof führt. In diesem architektonischen Mix lassen sich auf Schritt und Tritt Spuren der naheliegenden Grenze finden. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg – als das Saarland ein autonomer Staat unter französischem Protektorat war – übernahmen vor allem Architekten und Stadtplaner aus Frankreich die Neugestaltung der durch die Bombenangriffe der Alliierten weitgehend zerstörten Stadt.
Paris ist ganz nah
Über diese historische Verbundenheit mit Frankreich und die Bedeutung der Grenze spreche ich mit Martha Kaiser und Marion Touze. Erstere ist stellvertretende Leiterin, Zweitere die Pressebeauftragte von Perspectives, dem deutsch-französischen Festival der Bühnenkunst, das seit 1978 in Saarbrücken stattfindet. Wir treffen uns am Vormittag an ihrem Geschäftssitz im Obergeschoss eines Bürogebäudes im Stadtteil Alt-Saarbrücken. Auf diesem Gebiet erstreckte sich einst die mittelalterliche Burgsiedlung, heute dominieren Gewerbebauten und schmucklose Wohnblocks das Stadtbild. Zu den wenigen Überbleibseln aus früheren Epochen gehören die Kirche Sankt Jakob sowie die Ludwigskirche, deren spitze Kirchtürme hier irgendwie aus dem Rahmen fallen.„Für uns von Perspectives ist es, als gäbe es keine Grenze“, erzählen mir Touze und Kaiser bei einer Tasse Tee. „Aber in den Köpfen vieler Einwohner*innen ist sie leider sehr präsent und die psychologischen und sprachlichen Barrieren sind nach wie vor evident. Mit unserem Festival wollen wir dem Publikum Bühnenkunst in beiden Sprachen näherbringen und damit auch die Menschen zusammenbringen.“ Sie reichen mir ein Blatt mit einigen Kennzahlen: Im Jahr 2023 wurden über 15.000 Besucher*innen verzeichnet. Ein hervorragendes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass das gesamte Bundesland weniger als eine Million Einwohner*innen zählt. Dennoch ist, laut Kaiser, die von Industrie und Bergbau geprägte Vergangenheit ein Aspekt, den man auch bei der Organisation kultureller Veranstaltungen berücksichtigen muss. Eine Theateraufführung für Sonntagnachmittag anzusetzen, könnte sich zum Beispiel als problematisch erweisen. Denn hierzulande ist es Tradition, sich an diesem Tag mit der Familie zu einem großen gemeinsamen Mittagessen zu versammeln, wie in den Zeiten des Bergbaus. „Mit der Krise der Bergbau- und Stahlindustrie ist die Arbeitslosigkeit erheblich gestiegen“, berichtet Touze. „In Forbach und Sarreguemines auf der französischen Seite sperrt ein Geschäft nach dem anderen zu.“ Wer weiß, was aus dem Saarland geworden wäre, wenn es die Automobilindustrie nicht gegeben hätte, die ab Mitte der 90er Jahre die Beschäftigungskrise abfederte. Jetzt hingegen, da auch die Automobilherstellung zurückgeht, steht die Zukunft im Zeichen der Chipindustrie (in Saarlouis ist derzeit eine gigantische Chipfabrik in Planung).
Nach unserem Treffen, auf dem Weg zurück in die Altstadt, denke ich darüber nach, dass Touze und Kaiser untereinander sowohl französisch (die Muttersprache Ersterer) als auch deutsch (die Muttersprache Zweiterer) gesprochen haben. Und ich denke darüber nach, was sie über die sprachliche Situation in der Region erzählt haben: Viele Deutsche sprechen kein Französisch und umgekehrt. Wenig später setze ich mich für ein kaltes Getränk vor ein Lokal, am Nebentisch sitzt eine Gruppe deutscher Männer um die sechzig. Sie unterhalten sich lautstark, sodass ich gegen meinen Willen bei ihrem Gespräch mithöre, in dem es vor allem um Paris geht. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie über die französische Stadt sprechen, zeugt davon, wie gut sie die Stadt kennen. In der Tat ist Paris sehr nahe, mit dem Zug ist man in ungefähr zwei Stunden dort, mit dem Auto in vier. Für meine Zugfahrt von Berlin hierher habe ich dagegen sieben Stunden gebraucht.
Nach Sarreguemines
Am nächsten Tag um Punkt zwölf Uhr steige ich an der Haltestelle Johanneskirche in die Straßenbahn S1. Seit Wochen warte ich auf diesen Moment, vermutlich habe ich mich noch nie so darauf gefreut, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen. Für die anderen Fahrgäste ist es keine besondere Fahrt, es ist Mittagszeit an einem ganz gewöhnlichen Donnerstag. Ich werde hingegen das erste Mal mit einer Straßenbahn eine Staatsgrenze überqueren. Während wir durch die südlichen Randbezirke von Saarbrücken fahren, kündigt die Stimme vom Tonband auf Deutsch und Französisch die einzelnen Haltestellen an. Vor dem Fenster ziehen drei- bis vierstöckige Wohngebäude aus den 60er und 70er Jahren vorbei, nach und nach sind immer weniger Geschäfte zu sehen und langsam taucht das ein oder andere Autohaus auf. Dann folgen die ersten Schornsteine und Industriehallen, bis schließlich das Grün überhandnimmt, gespickt mit Einfamilienhäusern mit spitzen Dächern und kleinen Gärten mit Blick auf die Eisenbahn. Je weiter wir zwischen goldenen Feldern und sonnigen Hügeln aufs Land hinausfahren, umso mehr habe ich den Eindruck, mit einem Vorstadtzug unterwegs zu sein, und nicht mit einer Straßenbahn. Und genau so ist es auch: Die städtischen Haltestellen weichen kleinen Bahnhöfen in winzigen Dörfern. Brebach, Bübingen, Kleinblittersdorf, Auersmacher – Namen, die an charmante Bergdörfer denken lassen.Nach einiger Zeit beginnt die Bahn mit einem gewissen Abstand dem gewundenen Lauf der Saar zu folgen, die jedoch nie zu sehen ist, sondern von der Vegetation verdeckt bleibt. Gleiches gilt für das andere Ufer, also Frankreich. Für elf Kilometer verläuft die Grenze exakt in der Mitte des Flusses, bis sie Richtung Westen abbiegt und einem anderen, kleinen Fluss folgt, der Blies. An der letzten Haltestelle in Deutschland angekommen, ist die Straßenbahn beinahe leer. Außer mir fahren nur drei Fahrgäste nach Sarreguemines weiter: ein Rentner mit einer Baseballmütze und einem Fahrrad im Schlepptau, eine Vierzehnjährige, die unentwegt auf ihr Handy starrt, und eine ungefähr siebzigjährige Dame, die in ihre Zeitung vertieft ist. Für sie ist der Grenzübertritt Normalität, sie bemerken ihn gar nicht, und ich ehrlich gesagt auch nicht, weil alles so schnell geht. Die Straßenbahn fährt rasch über eine kleine Brücke und schon wenige Sekunden später sind wir auf der anderen Seite der Saar, in Sarreguemines, wo die Straßenschilder, die Schilder an den Geschäften und die Autokennzeichen keinen Raum für Zweifel lassen: Wir sind in Frankreich.
[Fortsetzung folgt …]
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