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Geteilte Blicke
Deutsch-italienische Dialoge zu prägenden Themen der Gegenwart

Publikum im Rahmen der Veranstaltung <i>Niedergang des Patriarchats und neue Identitäten</i>
Publikum im Rahmen der Veranstaltung Niedergang des Patriarchats und neue Identitäten | © Goethe-Institut Italien | Foto: Christine Pawlata

Zwei Länder, vier Städte, 11 Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft: Im Rahmen der vom Goethe-Institut Italien organisierten Veranstaltungsreihe „Geteilte Blicke“ tauschten sich Expert*innen aus Deutschland und Italien zu einer Vielzahl von Herausforderungen unserer Zeit aus.

Von Christine Pawlata

Rollenbilder im Wandel

Den Auftakt machten die Soziologin Jutta Allmendinger und der Psychoanalytiker Massimo Recalcati in einem Gespräch über verändernde Rollenbilder im Mailänder Auditorium San Fedele. Massimo Recalcati untersuchte, was verändernde Rollenbilder in einer Gesellschaft bewirken, in der „Väter nicht mehr das letzte Wort haben“. Anstatt gemeinsam an neuen, gleichwertigeren Modellen zu arbeiten, neige man in Italien dazu, Antworten in der Vergangenheit und in traditionelle Familienmustern zu suchen, kritisierte Recalcati.

Wie hartnäckig Rollenmuster sind und an welchen Stellschrauben gedreht werden müsse, um notwendige Veränderungen anzutreiben, erläuterte Jutta Allmendinger, Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität in Berlin. Ein Vergleich zwischen der Lage in Deutschland und Italien offenbart eine überraschende Situation: „Die Erwerbstätigkeit von Frauen in Italien liegt 20 Prozentpunkte unter der in Deutschland; jedoch arbeiten Frauen dort häufiger Vollzeit“, so die Soziologin. Auch seien Italienerinnen öfter in MINT-Berufen tätig und nehmen häufiger Führungspositionen ein – was die Lohnschere kleiner macht.

Armut, Arbeit und Einsamkeit

Dass fehlende Gleichstellung einer der Hauptgründe für Armut ist, kam auch eine Woche später in Genua zur Sprache, wo die Migrationsforscherin Felicitas Hillmann, die Soziologin Chiara Saraceno und Mario Marazziti von der Gemeinschaft Sant’Egidio aktuelle Entwicklungen bezüglich Armut in Italien und Deutschland diskutierten.

„Armut betrifft die ganze Gesellschaft, nicht nur das Individuum“, so Felicitas Hillmann. Neben den traditionell von Armut betroffenen Gruppen, wie Alleinerziehende Frauen und ihre Kinder, Arbeitslose und Migrant*innen, seien in Deutschland zunehmend auch Erwerbstätige betroffen, deren Einkommen nicht ausreicht, um sich und ihre Familien über Wasser zu halten.

Die Soziologin Chiara Saraceno beobachtet ähnliche Entwicklungen in Italien, wo rund 5,7 Millionen Menschen in absoluter Armut leben. Dies bedeute nicht nur, Grundbedürfnisse wie Ernährung, Unterkunft, Gesundheitsversorgung oder Bildung nicht decken zu können, sondern auch von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein, so Saraceno. Besonders schlimm sei das für Kinder, die am stärksten von Armut betroffen sind. Wie in Deutschland steige auch in Italien die Zahl der Working Poor. Grund dafür sei unter anderem, dass die Löhne in Italien in den letzten 30 Jahren nicht gestiegen sind.

Einsamkeit als dramatischen Aspekt von Armut betonte Mario Marazziti, ehemaliger Vorsitzender des italienischen Parlamentsausschusses für Soziales und Gründungsmitglied der Gemeinschaft Sant’Egidio: „Es ist erwiesen, dass Einsamkeit das Sterberisiko bei älteren Menschen mit chronische Erkrankungen verdoppelt“, so Marazziti. „Ich denke, dass das auch die Frage aufwirft, wie wir darauf reagieren, und wie wir unsere Städte und Gesellschaften gestalten sollten.“

KI – zwischen Utopie und Dystopie

Mehr Klarheit in die oft verunsichernde Debatte um künstliche Intelligenz brachten der Schriftsteller Nicola Lagioia, der Philosoph und Informatiker Rainer Rehak sowie die Anwältin und KI-Forscherin Ramak Molavi Vasse’i bei der nächsten Veranstaltung von Geteilte Blicke im Goethe-Institut in Rom. In einem Gedankenspiel analysierte der Schriftsteller Nicola Lagioia die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz auf die Gesellschaft. Was, sinnierte er, würde passieren, wenn wir Sprache an KI auslagern und damit die emotionale Ebene menschlicher Kommunikation vertiefen könnten?

Weniger optimistisch war die KI-Rechtsexpertin Molavi Vasse’i. „Über KI wird gesprochen, als sei sie eine Art Universalmedikation mit großen Vorteilen und ein paar Risiken, die für alle gleich sind.“ Tatsächlich gebe es jedoch erhebliche Ungleichheiten bei den Auswirkungen von KI auf unsere Gesellschaft. Auch der Forscher Rainer Rehak kritisiert die Diskrepanz zwischen der Realität und den „irreführenden Narrativen“, die KI entweder als Utopie oder Dystopie abbilden. „Ich will nicht sagen, dass sich nichts verändert. Aber wir können innehalten, um darüber nachzudenken, was gerade passiert“, so Rehak. „KI ist nicht die Revolution, die immer versprochen wurde.“

Presse- und Informationsfreiheit unter Druck

Der Einfluss künstlicher Intelligenz wurde auch bei der vierten Etappe der Gesprächsreihe Geteilte Blicke in Turin thematisiert. Dort teilten der Italien-Korrespondent Michael Braun, der Journalist Stefano Feltri und die KI-Expertin Francesca Lagioia ihre Perspektiven auf Presse- und Informationsfreiheit – vor dem Hintergrund von Social Media, künstlicher Intelligenz und wachsendem Rechtspopulismus.

Francesca Lagioia warnte vor den Gefahren von KI-generierter und -verbreiteter Desinformation, dabei gehe es von minderwertiger Qualität von Information bis hin zu Aufrufen zu Hass und Gewalt. Sie forderte klare Maßnahmen zur Kontrolle der Technologien.

Der Korrespondent der Berliner Tageszeitung taz Michael Braun beleuchtete den Stand der Pressefreiheit in Deutschland. „Auf den ersten Blick scheint Deutschland ein Land zu sein, in dem die Pressefreiheit gut dasteht.“ Im Vergleich zu Italien verzeichnen deutsche Zeitungen etwa bessere Verkaufszahlen und geringere Einflussnahme der Herausgeber auf die journalistische Arbeit. Trotzdem stehe auch die deutsche Presse zunehmend unter Druck, sei es durch staatliche Gesetzgebung, die teilweise Ähnlichkeiten mit der Situation in Italien aufweise, oder durch radikalisierte Bürger: Allein 2022 dokumentierte Reporter ohne Grenzen mehr als 100 gewalttätige Übergriffe auf Journalist*innen, vor allem im verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontext.

Doch nicht alles ist tiefschwarz: Der Journalist Stefano Feltri betonte, dass der Wechsel von einem Geschäftsmodell, in dem Journalisten und Verleger Online-Werbeeinkünfte und Google-Algorithmen hinterherjagten zu einem Bezahlmodell im digitalen Journalismus ein Zeichen der Erneuerung sei. „Das mag ein schlechtes Signal für die Bilanzen der Verleger sein, aber ein sehr positives für den Journalismus.“

Drei Wochen nach dem Auftakt fanden die Geteilten Blicke in Turin ihren Abschluss und verdeutlichten, wie wertvoll der Dialog zwischen Italien und Deutschland für die Erweiterung unserer Perspektiven und die Entwicklung gemeinsamer Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit ist.

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