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Das Potential der visuellen Kultur
Mit Kunst die Dialogbereitschaft fördern

Ergebnis aus dem Workshop für Schüler*innen Workshop „Die ungeschriebene Geschichte“.  im Rahmen der Ausstellung „Das Unarchivierbare“
Ergebnis aus dem Workshop für Schüler*innen Workshop „Die ungeschriebene Geschichte“. im Rahmen der Ausstellung „Das Unarchivierbare“ | © Goethe-Institut Italien

Das Projekt „Transkulturelle Aufmerksamkeit“ unterstützt Lehrpersonal und Schüler*innen bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus in seinen historischen Ausformungen. Ausgehend von der Ausstellung „Das Unarchivierbare“, die im KunstRaum des Goethe-Instituts Rom zu sehen ist, will der digitale Workshop „Raus aus der Komfortzone“ Kompetenzen fördern, die zum kritischen und respektvollen Dialog über unbequeme und kontroverse Themen befähigen. Mit Anna Chiara Cimoli, die an der Universität Bergamo zur Geschichte der Gegenwartskunst forscht und auf Museologie spezialisiert ist, haben wir darüber gesprochen, wie zeitgenössische Kunst Jugendlichen Kompetenzen für „schwierige Gespräche“ vermitteln kann.

Von Ferdinand Krings

Warum ist die Kompetenz, einen kritischen und respektvollen Dialog führen zu können, so wichtig?

Weil wir die Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit allzu lange aufgeschoben, sie als ferne, abgeschlossene Episode betrachtet haben und durch diese deformierende Brille nicht sahen, zu welchen Folgen diese Haltung im Alltag, in Beziehungen, Gefühlen und Wahrnehmungen geführt hat. Vor allem Menschen aus Einwandererfamilien in zweiter und dritter Generation fordern heute, auf diese historischen Probleme einzugehen und sie zu untersuchen – nicht, sie zu lösen, denn die Geschichte kann nicht ungeschehen gemacht werden, aber sie mit neuen Augen zu bewerten. Wir müssen ihnen dankbar sein und auf ihre Forderungen eingehen. Aber es handelt sich um eine kollektive Anstrengung, die sicher nicht von den Menschen mit afrikanischem oder anderem Migrationshintergrund geleistet werden kann: Es geht darum, diese überkommene Brille abzusetzen, die Geschichte zu studieren, zu verstehen, dass ihre Folgen für einen großen Teil der Ungleichheit in unserer kulturellen, sozialen und politischen Infrastruktur verantwortlich sind. Vor allem geht es darum, dass das auf allen Ebenen geschieht, vom Verlagswesen bis zur Schule, von den Museen bis zur Gestaltung des öffentlichen Raums, vom Journalismus bis zum Sport, und so weiter.

Die Fähigkeit zum transkulturellen Austausch und zur Überprüfung des eigenen Standpunkts ist gerade sehr gefragt. Wie können wir sie fördern oder sogar steigern?

Ich würde den Akzent auf diesen „eigenen Standpunkt“ legen: Ich denke, dass wir alle, mehr oder weniger unbewusst, Ideen, Ausdrücke, Interpretationen der Wirklichkeit weitertragen, die durch rassistische und koloniale Muster geprägt sind, die auf Gegensatzpaaren beruhen wie Überlegenheit/Unterlegenheit, weiß/schwarz (und diese Überlegung wäre auf jede Konstruktion von Binarität auszudehnen, auch von Geschlecht, sexueller Identität usw.). Diese Automatismen wahrzunehmen, angefangen bei uns selbst, ist bereits ein großer Schritt, und eine nützliche Anstrengung, die der Gesellschaft zugute kommt. Besonders wichtig ist, dass alle Lehrenden diesen Schritt unternehmen, indem sie von der immer umfangreicheren Literatur ausgehen, aber auch, indem sie sich untereinander austauschen, Meinungen einholen, eine größere Sensibilität unter Arbeitskolleg*innen und generell im Arbeitsumfeld entwickeln. Parallel zu dieser Arbeit an sich selbst hilft es, der Welt aktiv und offen gegenüberzustehen: Sich zu fragen, welche neuen Ausdrucksformen Menschen mit Migrationsgeschichte hervorbringen, welche Forderungen, welche Formen der Partizipation, und so weiter.
Ergebnis aus dem Workshop für Schüler*innen „Die ungeschriebene Geschichte“ im Rahmen der Ausstellung „Das Unarchivierbare“ Ergebnis aus dem Workshop für Schüler*innen „Die ungeschriebene Geschichte“ im Rahmen der Ausstellung „Das Unarchivierbare“ | © Goethe-Institut Italien Die Ausstellung beschäftigt sich künstlerisch mit dem Kolonialismus. Müssen die Schüler*innen kunstbegeistert sein, um von der Ausstellung und dem Workshop zu profitieren?

Natürlich nicht, nur sehr wenige Jugendliche würden sich als kunstbegeistert bezeichnen! Der Zugang zu zeitgenössischer Kunst ist oft auch für aufgeschlossene Betrachter eine Errungenschaft, daher haben wir die Frage umgedreht: Die Begegnung mit der Kunst erfolgt im Rahmen der Workshops, nach der Einführung in das Thema und die Zielsetzung. Dadurch wird sie zur Vertiefung, aber auch frei zu gestaltende „Kontaktaufnahme“. Das ist der Sinn der Kunst: einen „Vorwand“ zu schaffen, einen Funken, ein Echo, das nachhallt, vielleicht gleich, vielleicht erst am Abend zu Hause oder an den nächsten Tagen – keine Schulaufgabe, sondern eine zusätzliche Stimme, die die Diskussion bereichert. Durch den Verzicht auf den etwas förmlichen, traditionellen Aspekt der Besichtigung eröffnen sich Freiräume für einen informellen, fruchtbareren Dialog. Auf diese Art ergänzt die Arbeit im KunstRaum und im Workshop die in der Schule, und im besten Fall erkennen die Jugendlichen das Potential der visuellen Kultur und erleben sie nicht als unzugänglich, sondern als etwas „Sprechendes“.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Rassismus und Migration für die Jugendlichen?

Es wäre oberflächlich anzunehmen, Jugendliche seien im Durchschnitt frei von Rassismus: Kinder sind das, zumindest bis sie in der Lage sind, den vorherrschenden politischen Diskurs und die Strukturen der Ungleichheit, die unsere Gesellschaft durchziehen, wahrzunehmen und aufzunehmen. Dazu kommt, dass sich in Italien zwischen der Mittelschule und der weiterführenden Schule eine effektiv irreversible Schere auftut zwischen denen, die aufs Gymnasium wechseln, und den anderen auf den Fachoberschulen; abgesehen von dem zusätzlichen divide zwischen humanistischen und wissenschaftlichen Profilen. Diese deutliche Trennung spiegelt sich auch an den Universitäten wider, was erklärt, warum es so wenige Direktor*innen und Kurator*innen mit Migrationshintergrund an europäischen Museen gibt (und gar keine, wage ich anzunehmen, an den italienischen). Das führt dazu, dass manche Schulen zu „Ghettos“ werden, während andere sich das Problem der Migration und des Rassismus gar nicht stellen, weil sie keine Schüler*innen mit entsprechendem Hintergrund haben. Auf der einen Seite wächst die Wut und das Gefühl des Ausgeschlossenseins, auf der anderen die Unwissenheit. Eine perfekte Maschine zur Herstellung von Gesellschaftskonflikten.
Schüler*innen während des Workshops Schüler*innen während des Workshops | © Goethe-Institut Italien Welche didaktischen Strategien sind erfolgversprechend, um mit Jugendlichen ein so delikates Thema zu bearbeiten?

Von dem Bewusstsein ausgehen, dass unsere individuellen und kollektiven Denkstrukturen von kolonialen und rassistischen Mustern geprägt sind. Unsere Sprache erneuern und über die Auswirkungen von Sprache nachdenken lassen. Fordern, dass die verdrängten Seiten der Geschichte in die Schulbücher aufgenommen werden (vergessen wir nicht, dass Lehrpersonen als Kund*innen der Schulbuchverlage ihrer Stimme durchaus Gewicht verleihen könnten). Die Jugendlichen mit Geschichten in Kontakt bringen, die Mut machen und begeistern, ohne Bevormundung und falsches Mitleid. Koloniale Aspekte im gesamten Schulstoff sichtbar machen und sie nicht als begrenztes Thema behandeln. Um Hilfe bitten. Wissen, dass wir Fehler machen, um Entschuldigung bitten und lernen, es besser zu machen: Es ist eine delikate Arbeit, aber sich an sie heranzuwagen ist eine erzieherische Pflicht, an der heute kein Weg mehr vorbeiführt.

Anna Chiara Cimoli

Anna Chiara Cimoli Anna Chiara Cimoli | Foto (Zuschnitt): © Elisabetta Brian Anna Chiara Cimoli forscht an der Universität Bergamo zur Geschichte der Gegenwartskunst. Sie hat sich an der École du Louvre in Museologie spezialisiert und am Politecnico di Torino​ einen Ph.D. in Architekturgeschichte erlangt. Sie war Teil des europäischen Projekts MeLa*-European Museums in an age of migrations. Seit zwanzig Jahren beschäftigt sie sich mit sozialer Museologie, insbesondere für ABCittà, ein Kollektiv von Stadtplaner*innen und Erzieher*innen; seit 2020 ist sie Co-Planerin des MUBIG, des Stadtteilmuseums des Mailänder Viertels Greco. 2021 war sie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Milano Città Mondo (Comune di Milano/Mudec) und entwarf die didaktischen Angebote für die Ausstellung Das Unarchivierbare im Goethe-Institut Rom. Zusammen mit Maria Vlachou gibt sie den Blog Museums and Migrations, mit Giulia Grechi und Viviana Gravano die Zeitschrift für visuelle Kultur Roots§Routes heraus. Sie leitet die bei Nomos edizioni erscheinende Reihe ​Museologia ​presente.

 

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