Revolution des Arbeitsmarkts
Chancen und Risiken eines globalen Mindestlohns
Ist ein globaler Mindestlohn umsetzbar? Arbeitsmarktforscher Ralf Himmelreicher sagt Ja, aber die Hürden sind hoch und eine solche Einführung hätte nicht nur Vorteile.
Von Ralf Himmelreicher
Nach Angaben des International Labour Office (ILO) verfügten im Jahr 2020 weltweit mehr als 100 und damit mehr als die Hälfte aller Staaten über nationale Mindestlohnregelungen. Das bedeutet, dass es in diesen unabhängigen Ländern eine gesetzliche Lohnuntergrenze gibt, die sich jedoch in Höhe und Niveau stark unterscheiden. Länder ohne Mindestlohn sind oftmals solche des globalen Südens sowie einige skandinavische Länder und Österreich; in letzteren werden die Löhne in unteren Lohngruppen überwiegend über Tarifverträge verhandelt, weshalb eine staatlich organisierte Lohnuntergrenze nicht erforderlich ist. Die Chance eines globalen Mindestlohns läge idealtypisch darin, dass es nach seiner Einführung weltweit kein einziges Beschäftigungsverhältnis mehr geben dürfte, das unterhalb dieser definierten Lohnschwelle vergütet würde.
Was sind die Vor- und Nachteile?
Die Chancen eines globalen Mindestlohns wären, dass damit sittenwidrig niedrige Löhne mit einem „race to the bottom“ und damit die Existenz und Entstehung neuer „Niedriglohnländer“ mit unterdurchschnittlichen Arbeitskosten und Ausbeutung vermieden werden könnten. Die Wettbewerbsbedingungen würden fairer werden, weil kein Produzent Produkte anbieten könnte, die aufgrund sehr niedrigen Lohnkosten Wettbewerbsvorteile erzielten. Zudem würde ein globaler Mindestlohn Armutsrisiken reduzieren und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der in diesem Lohnsegment Beschäftigten und ihrer Familien verbessern. Vor allem in Ländern mit ausgebauten Systemen der sozialen Sicherung existieren zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Löhnen und staatlichen Transfers. In solchen Ländern könnten Mindestlöhne die Höhe staatlicher Transfers reduzieren.Die Risiken eines globalen Mindestlohns würden vor allem darin liegen, dass er wegen steigender Lohnkosten die Anzahl der Jobs verringern könnte, weil die Herstellung bestimmter Produkte und Dienstleistungen nicht mehr rentabel wäre. Zur Kompensation gestiegener Lohnkosten könnte es zu Preissteigerungen, Arbeitszeitverkürzungen oder einer Steigerung der Arbeitsintensität kommen. Zudem könnte die Produktion auf kapitalintensivere Methoden, die weniger Arbeitskraft benötigen, umgestellt werden.
Diese wenigen Pros und Cons machen deutlich, dass die Einführung eines globalen Mindestlohns keine einfache Sache ist. Auch die Abschätzung seiner Folgen ist komplex und erfordert eine valide Datenbasis, die vor allem für Länder außerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) oftmals nicht vorliegt oder für die Wissenschaft nicht zur Verfügung gestellt wird.
Welche Personen würden von einem globalen Mindestlohn profitieren?
Einen Anspruch auf Mindestlöhne haben in den meisten Ländern Beschäftigte mit Arbeitnehmerstatus ab 18 Jahren. Keinen Anspruch haben Selbständige, Werkvertragnehmer*innen, sogenannte oftmals scheinselbständige Click- und Crowdworker, sowie Auszubildende, Praktikant*innen, bei denen die Vermittlung von Qualifikationen und nicht die produktive Tätigkeit im Vordergrund steht. In einer Grauzone beschäftigt sind oftmals Tagelöhner*innen und mithelfende Familienangehörige mit besonders niedriger Marktmacht, weil sie ihre Rechte kaum einfordern können. In manchen Ländern existieren niedrigere Mindestlöhne für unter 21-jährige Beschäftigte oder nach Altersgruppen gestaffelte Mindestlohnhöhen. Auch für Beschäftigte in staatlich geförderten Arbeitsmarktbereichen, wie zum Beispiel in Werkstätten für Menschen mit psychischen oder physischen Beeinträchtigungen, haben keinen Anspruch auf gesetzliche Mindestlöhne. Zudem gelten bestehende Mindestlöhne oftmals nicht für erwerbstätige Strafgefangene.Welche Höhe sollte ein globaler Mindestlohn haben?
Im Rahmen der europäischen Mindestlohninitiative wird als Orientierungsgröße ein relativer Mindestlohn diskutiert, der sogenannte Kaitz-Index. Dieser bemisst sich am nationalen mittleren Einkommen (Medianlohn) von Vollzeitbeschäftigten. Vor allem im EU-Kontext wird die 60-Prozent-Schwelle angestrebt. Würde zum Beispiel der mittlere nationale Bruttostundenlohn 15 Euro betragen, müsste in dem jeweiligen Land der Mindestlohn auf neun Euro gesetzt werden. Das Beispiel bezieht sich auf Bruttostundenlöhne. Eine Berechnung von Stundenlöhnen setzt eine differenzierte Arbeitszeiterfassung, unter Berücksichtigung von Pausen und gegebenfalls Überstunden voraus, was oftmals nicht möglich ist. Deshalb existieren in einigen Ländern, wie Malta, auch tägliche, wöchentliche oder monatliche Mindestlöhne. Die Höhe monatlicher Mindestlöhne kann sich etwa an der Armutsrisikoschwelle oder an der Schwelle zur Vermeidung von Altersarmut orientieren.Neben relativen Mindestlöhnen könnten globale Mindestlöhne auch in absoluten Größen oder am Preis von wichtigen Konsumgütern fixiert werden. Hiermit ist gemeint, dass jedes Beschäftigungsverhältnis mit zum Beispiel mindestens einem Dollar pro Stunde entgolten wird, oder der Monatsverdienst nach nationalen Mindestlohnvorgaben so hoch bemessen werden soll, dass die Mindestbedarfe der Haushalte, orientiert an den Lebenshaltungskosten, gedeckt sind. Problematisch an solchen absoluten Mindestlohnkonzepten ist, dass etwa Lohnsteigerungen oder die Inflation, sofern nicht automatisch indexiert, meist erst verspätet berücksichtigt werden können. Beim Vergleich der Höhe von nationalen Mindestlöhnen kann auch die Kaufkraft eine Rolle spielen. Aktuell steigende Preise für viele Lebensmittel, Wohnen und Energie und teilweise sinkende Preise für Kommunikation illustrieren die Komplexität einer angemessenen Berücksichtigung der Preisentwicklung für Haushalte mit Beschäftigten aus unteren Lohngruppen.
„Wichtiger Impuls in die richtige Richtung“
Zusammenfassend könnte die Verlagerung der Produktion in sogenannte „Billiglohnländer“ durch globale Mindestlöhne verringert werden, mit positiven Folgen für die Nachhaltigkeit und eventuell negativen für die Beschäftigten im globalen Süden. Auch Preissteigerungen wären zu erwarten. Sollte die Einführung eines globalen Mindestlohns von ILO oder den Vereinten Nationen (UN) angestrebt werden, wäre es wichtig, vor allem in den Ländern des globalen Südens zunächst nationale Mindestlöhne samt entsprechender Kontrollinstitutionen, die die Durchsetzung von Arbeitnehmer*innenrechten kontrollieren, einzuführen und aufzubauen. Auf dieser Basis könnten im nächsten Schritt globale Mindestlöhne ausgehandelt werden, die sich am Kaitz-Index orientieren sollten.Bei der Einführung eines globalen Mindestlohns sollte der Kaitz-Index zunächst nicht zu hoch gewählt werden, damit sich diese globalen Mindestlöhne bewähren können und deren Kontrolle einschließlich der Arbeitsbedingungen möglich wird. Durch Benchmarking etwa durch die ILO oder die UN könnte sukzessive eine Konvergenz des globalen Mindestlohns erreicht werden. Gerade von weniger demokratisch regierten Ländern ohne Gewaltenteilung und schwachen Rechten von Arbeitnehmer*innen sind starke Widerstände gegen einen globalen Mindestlohn zu erwarten. Im Rahmen von Handelsverträgen bestünde jedoch die Chance, die Einhaltung eines globalen Mindestlohns als Voraussetzung für weitere Handelsbeziehungen einzufordern. Insofern wäre ein globaler Mindestlohn ein wichtiger Impuls in die richtige Richtung. Flankiert durch lokale oder branchenspezifische niedrigschwellige „Hilfe zur Selbsthilfe“, könnten Hungerlöhne auch in „Billiglohnländern“ verhindert werden.
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