Freiburg: 1. Teil
Freiburg, eine Stadt für Fußgänger*innen
„Nachhaltigkeit“ ist ein Schlüsselbegriff in Freiburg. Die deutsche Stadt gehört zu den sogenannten „Green Cities“ und dient weltweit als Modell für die Entwicklung grüner Energie und städtischer Mobilität. In diesem ersten Teil seiner Reportage erzählt Roberto Sassi von einigen repräsentativen Orten des alten und neuen Freiburgs, von der Altstadt bis zum Vauban, dem ersten Öko-Stadtteil Europas.
Von Roberto Sassi
Die sonnigste in Deutschland
So volle Bahnhöfe bin nicht mehr gewöhnt, denke ich, als ich zu Gleis drei gehe, von wo mein Zug abfahren soll. Es ist ein Tag unter der Woche Mitte September, ich bin am Berliner Hauptbahnhof, und eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass hier so viele Passagier*innen unterwegs sind. Und doch bin ich überrascht, fast verstört, von der Menge an Menschen, die die Rolltreppen hoch- und runterfahren. Vor zwei Monaten, als ich etwa um die gleiche Uhrzeit, morgens um halb acht, vom selben Bahnhof nach Hamburg aufgebrochen bin, war ich überrascht, wie wenige Pendler*innen unterwegs sind. Jetzt ist es das genaue Gegenteil: Es kommt mir so vor, als wären es zu viele. Elegant gekleidete Männer und Frauen, die ihre Rollkoffer hinter sich herziehen, schneiden mir den Weg ab, Rucksacktourist*innen schauen sich um, um herauszufinden, wo sie lang müssen, Menschen jeder Art steuern eilig auf die Gleise zu oder betreten eins der Cafés im Erdgeschoss, um zu frühstücken.Ich bin auf dem Weg in die sonnigste Stadt Deutschlands, aber als ich einen Platz in der zweiten Klasse gefunden habe und meine Wetter-App öffne, sehe ich, dass es in Freiburg regnen könnte. Der Zug rast mit dreihundert Stundenkilometern gen Süden, draußen ziehen Nadelwälder und Dörfer aus Einfamilienhäusern mit steilen Dächern vorbei, die Volkswagenhändler kündigen pünktlich die Einfahrt in bewohnte Zentren an. Wir halten in Kassel, Hanau, Fulda: lauter Orte, von denen ich schon gelesen, die ich mir aber noch nie angeschaut habe.
Nachmittags um halb vier komme ich am Freiburger Hauptbahnhof an. In der Bismarckallee schnurren die Fahrräder auf dem Radweg entlang, zu meiner Linken ragt der Solartower empor, ein neunzehnstöckiges Gebäude, das Teil des neuen, Ende der 1990er-Jahre erbauten Bahnhofs ist. Mit seinen 60 Metern Höhe wirkt er, als wäre er nur zufällig dort, in dieser Stadt mit ansonsten niedrigen Gebäuden gelandet. Aufmerksam betrachte ich die 240 Solarmodule, die eine der Fassaden einkleiden, und ich frage mich, was dieses moderne Hochhaus mit den in der Ferne zu sehenden grünen Hügeln des Breisgaus zu tun hat. Dann verstehe ich: Wie ästhetisch fragwürdig es auch sein mag, es ist Freiburgs Botschaft an alle, die mit dem Zug anreisen, also auch an mich, Freiburgs kuriose Art klarzustellen, dass Höhe hier die Ausnahme ist – und Nachhaltigkeit das vorherrschende Thema.
Altstadt und Green City
Auf dem Weg zu meiner Unterkunft in der Fischerau, mitten in der Altstadt, komme ich am Martinstor vorbei, eines der beiden alten Stadttore. Wieder ist es ein Turm, der etwas über Freiburg verrät, diesmal über dessen Geschichte. Auf dem angrenzenden Gebäude, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit einem Bogen erbaut wurde, unter dem die Straßenbahnen durchfahren können, springt die Schrift einer bekannten Fastfood-Kette ins Auge. Eine groteske Zusammenstellung, Gegenwart und Vergangenheit direkt beieinander, ohne viel Geplänkel. Die Schrift ist allerdings dunkel, nicht wie üblich rot und gelb: Um die Erlaubnis der Gemeinde Freiburg zu erhalten, musste sich das Restaurant an sein Umfeld anpassen.Auf der breiten Kaiser-Joseph-Straße, die die Altstadt in zwei Hälften teilt, gehen die Freiburger*innen in den Geschäften ein und aus. Fußgänger*innen, Fahrräder und Straßenbahnen teilen sich friedlich die Fahrbahn, von Autos keine Spur. Zebrastreifen braucht es hier keine, alle überqueren die Straße, wo sie wollen, vor allem beim Bertoldsbrunnen, der in der Mitte einer großen Kreuzung steht, wo vier der fünf Freiburger Straßenbahnlinien fahren. Trotz des dichten Gewebes aus Gleisen, die sich auf dem Pflaster kreuzen, bewegen sich die Fußgänger*innen hier wie auf einer Piazza.
Während ich am Gerwerbekanal entlangspaziere, wo früher Fischer, Müller und Gerber wohnten und arbeiteten, fängt es zu regnen an. Also beschließe ich, mich in eine Kneipe zu flüchten. Ich setze mich an den Tresen, der ideale Ort, um Menschen kennenzulernen, und wirklich stoße ich wenig später mit einer Gruppe Arbeitskolleg*innen an, die gerade aus ihrem Büro kommen. Einem von ihnen, einem Brasilianer um die vierzig, erläutere ich den Grund für meine Reise und erkläre, dass mich insbesondere das Thema Nachhaltigkeit interessiert. Er lächelt. „Ich bin Ingenieur“, sagt er, „ich arbeite in einem Startup für Solarenergie.“ Im ersten Moment bin ich überrascht, dann erinnere ich mich daran, dass das hier ansässige Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) Europas größtes Forschungsinstitut im Bereich Photovoltaik ist und über 1200 Mitarbeiter zählt. Wirklich viele für eine mittelgroße Stadt wie Freiburg.
Das neue Freiburg
Am nächsten Morgen kommt die Sonne wieder heraus. Auf dem Markt am Münsterplatz, der jeden Tag im Schutz der kolossalen gotischen Kathedrale stattfindet, begutachten die Einkaufenden Obst und Gemüse, kaufen Kunsthandwerk, bestellen eine lange Rote im Brötchen, eine Wurst, die hier in der Gegend eine richtiggehende gastronomische Institution ist. Nachdem auch ich eine gegessen habe, gehe ich zu Fuß zu meiner Verabredung mit Andrea Burzacchini. Am Telefon schlug er vor, dass wir uns am Platz der Alten Synagoge treffen, wo die 1938 von den Nazis zerstörte Synagoge stand, an die heute mit einem Gedenkbrunnen erinnert wird. Es ist einer der lebhaftesten Orte der Stadt, und vielleicht repräsentiert er Freiburgs Stadtentwicklungsphilosophie am besten.Andrea lebt seit über zwanzig Jahren in Freiburg und seit 2009 leitet er die internationale Nachhaltigkeitsagentur aiforia. Von der Treppe des Theaters Freiburg aus sehe ich ihn mit dem Fahrrad ankommen, er trägt eine blaue Jacke, auf den Schultern einen eleganten Rucksack. Vor uns, zwischen dem Theater und dem Platz der Alten Synagoge, ist viel Zweiradverkehr in beide Richtungen, hin und wieder fährt eine Straßenbahn vorbei, auch hier überquert man die Straße, wo man will. Zu unserer Rechten reflektieren die unregelmäßigen Glasfassaden der neuen Universitätsbibliothek das Sonnenlicht und spiegeln das gegenüberliegende Universitätsgebäude. Vor sechs Jahren wurde dieser Straßenabschnitt für den Autoverkehr gesperrt. „Vorher war es eine vierspurige Straße mit viel Verkehr, der dank zweier Fahrradwege weniger geworden ist. Bis vor zehn Jahren gab es für die Fußgänger*innen etwas weiter nördlich noch eine Unterführung und etwas weiter südlich sogar eine Überführung. Auch Freiburg war damals also noch für Autofahrer*innen und nicht für Fußgänger*innen gedacht“, erklärt mir Andrea. „Jetzt ist dieser Ort zu einem kulturellen Zentrum unter freiem Himmel geworden, ein Treffpunkt für Studierende – der Beweis, dass Fußgängerzonen auch jenseits von den Einkaufsstraßen funktionieren.“
Aber die Entscheidung, den Autoverkehr zu verbieten, hat nicht nur dazu beigetragen, neue Räume zu schaffen: Sie war auch aus Sicht der städtischen Mobilität erfolgreich. „Damit man den Platz hier besser erreichen kann, wurde der Verlauf einer der fünf Straßenbahnlinien geändert“, fährt Andrea fort. „So hat sich gleichzeitig der Straßenbahnverkehr in der Altstadt reduziert. Jetzt fahren an der Kreuzung beim Bertoldsbrunnen circa 1000 Straßenbahnen am Tag, vorher waren es sogar 1200.“
Später geht es ins Vauban. Wir nehmen natürlich die Straßenbahn, zehn Minuten später stehen wir vor einer Infotafel, die die Geschichte eines der umweltfreundlichsten Stadtviertel der Welt zusammenfasst. Die ersten der über 5000 Bewohner*innen zogen vor zwanzig Jahren hierher, angezogen von einer Art des Wohnens, die auf ökologischen Baustandards, aktiver Beteiligung der Gemeinschaft und einer Einschränkung des Autoverkehrs fußt. Als wir durch eines der baumgesäumten Sträßchen spazieren, spuckt Andrea Daten und Informationen über das Viertel aus, die er aus dem Effeff kennt, schließlich hat er es schon tausenden Interessierten der öffentlichen Verwaltung, der Forschung und Unternehmen aus Italien und anderen Ländern gezeigt: Das gehört zu den Angeboten seiner Agentur. „Im Vauban besitzen nur 17 von 100 Einwohner*innen ein Auto, das ist eine der niedrigsten Raten in Europa“, sagt er zu mir. Wirklich treffen wir während unseres Spaziergangs bis auf einen Kombi mit Touris, die sich offensichtlich verfahren haben, kein einziges Auto. Eine Frau kommt in den Garten und lächelt uns zu, sicher wundert sie sich nicht über uns: Viele kommen hierher, um zu sehen, wie es sich in einem Ökoviertel lebt. „Um das Vauban zu verstehen, muss man Freiburg verstehen,“ gibt mir Andrea an der Straßenbahnhaltestelle, bevor wir uns verabschieden, noch mit auf den Weg. Darüber denke ich auf der Fahrt zurück in die Altstadt nach. Obwohl ich erst vor vierundzwanzig Stunden hier angekommen bin, habe ich den Eindruck, dass ich Freiburg schon anfange zu verstehen.
(Fortsetzung folgt …)
Andrea Burzacchini
Seit Sommer 2016 pendelt er zwischen Freiburg (Deutschland), wo er die letzten zwei Fünftel seines Lebens verbracht hat, und Modena (Italien), wo er die ersten drei verlebte. Dazwischen mehr oder weniger kurze Aufenthalte in Athen, Lausanne und Mainz. In Freiburg beschäftigt er sich mit nachhaltiger Entwicklung, seine 2009 gegründete Agentur aiforia konzipiert und leitet internationale Projekte in verschiedenen Ländern der Welt. In Modena kümmert er sich um nachhaltige Mobilität, und zwar als Alleinverwalter von aMo, einer Agentur für Mobilität und öffentlichen Nahverkehr. In der verbleibenden Zeit liest er Bücher, spielt (sehr schlecht) Schach, joggt am Fluss entlang und versucht, seine beiden Töchter mit hoffentlich nicht allzu vielen Fehlern durch die Pubertät zu begleiten.
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