Leipzig: 2. Teil
Leipzig – Stadt der Geschichte(n)
Marktplatz | © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
Im zweiten Teil seiner Reportage über die sächsische Stadt setzt Roberto Sassi seine Erkundungstour fort und konzentriert sich dabei auf die historischen Schichten der Stadt, die sich in der Architektur widerspiegeln.
Von Roberto Sassi
ARCHITEKTUR UND ERINNERUNG
Die Seeburgstraße ist eine ziemlich anonyme Straße. Sie befindet sich im Südosten der Stadt, unweit vom historischen Zentrum und unmittelbar hinter der Ringbebauung – einem gewaltigen, 250 Meter langen Wohnkomplex und dem vielleicht eindrucksvollsten Beispiel für Sozialistischen Klassizismus in Leipzig. Ich lande durch Zufall in der Straße, nachdem ich das Wohnhaus des deutschen Musikers Felix Mendelssohn Bartholdy besucht habe. Ich habe es nicht eilig und gehe die ganze Seeburgstraße zu Fuß hinunter. Eine gute Entscheidung, denn dadurch wird mir klar, wie viel sie von der Geschichte der Stadt erzählt. Was mich überrascht, ist die architektonische Vielfalt: Auf der einen Seite der Straße erhebt sich eine ganze Reihe von Plattenbauten, die in den 80er Jahren für wenig Geld errichtet wurden. Auf der anderen Seite springt hingegen ein neugotisches Gebäude aus rotem Backstein ins Auge, dessen Fassade vage an die einer Kirche erinnert. Direkt daneben befindet sich eine kleine Villa mit englischem Rasen, die vermutlich in den 2000er Jahren gebaut wurde, ein kleines Schild verrät, dass es sich um die Kanzlei und die Wohnung eines Anwalts handelt. Während ich ein paar Fotos mache, um diese kuriose architektonische Mischung zu dokumentieren, denke ich daran, was ich zu Roberta Gado gesagt habe: In Leipzig scheint mir der architektonische Kontrast viel stärker als in den anderen deutschen Städten, die ich bisher gesehen habe.Es ist sechs Uhr abends, auf dem Ring um die Altstadt herrscht in beide Richtungen starker Verkehr. Vor mir, auf dem Augustusplatz, erhebt sich das City-Hochhaus. Von hier aus gesehen hat es die Form eines offenen Buchs – fast als wolle der Bau daran erinnern, dass er einst zur Universität gehörte. Ich gehe daran vorbei, überquere den halb verwaisten Campus und lande vor der Nikolaikirche. Vor meiner Fahrt nach Leipzig habe ich mir einige Filmaufnahmen der berühmten Montagsdemonstrationen im Oktober 1989 angesehen: die Kirche gesteckt voll, Plakate, Fackeln, Tausende und Abertausende Menschen, die auf den Straßen gegen das SED-Regime protestieren und „Wir sind das Volk“ rufen. In der Kirche sind die einzigen Besucher*innen außer mir zwei italienische Touristinnen mit Fotoapparaten um den Hals. Wie ich schlendern sie zwischen den Kirchenbänken umher und betrachten neugierig die Palmenkapitelle – eines der Symbole der Friedlichen Revolution, die damals im Herbst stattfand.
SCHRITTE ZÄHLEN, GESCHICHTEN ZÄHLEN
Am nächsten Tag bin ich mit Maria Carmela Marinelli auf dem Nikolaikirchhof, dem Platz neben der Kirche, verabredet. Um zehn Uhr morgens ist es unwirklich ruhig hier: kaum Passant*innen, vereinzelte Radfahrer*innen, das kleine Postamt in der Ritterstraße ist halb verwaist. Man hat das Gefühl, in einer Provinzstadt zu sein und doch handelt es sich, gemessen an der Einwohnerzahl, um das achtgrößte städtische Siedlungsgebiet Deutschlands. Ich muss an die Worte von Roberta Gado denken: „Wenn ich in der Altstadt bin, treffe ich oft Leute, die ich kenne.“ Obwohl Leipzig ziemlich groß ist, hat sich die Stadt einige Züge einer mittelgroßen Kleinstadt bewahrt. Dabei hat die entspannte Atmosphäre in Leipzig nichts mit Trägheit oder Langeweile zu tun. Im Gegenteil, die große Zahl an Student*innen und Buchhandlungen verleiht der Stadt eine echte und in gewisser Hinsicht wohltuende Lebendigkeit, wie man sie in vom Verkehr verstopften und von Tourist*innen überlaufenen Metropolen nur schwer findet.Maria Carmela Marinelli beschreibt sich selbst als „Erzählerin“. Seit 2012 lebt sie in Leipzig, als Theaterpädagogin arbeitet sie vor allem mit Kindern aus Sachsen und anderen deutschen Bundesländern. Sie kommt mit dem Fahrrad zu unserem Treffen, parkt es in einem Fahrradständer und schlägt mir sofort eine kleine Übung vor: „Zählen wir gemeinsam die Schritte von der einen Seite des Platzes zur anderen.“ Wir machen uns an die Arbeit und als wir auf der anderen Seite angekommen sind, hat sie 115 gezählt, ich habe ein paar übersehen. Marinelli macht mich auf ein Gebäude hinter der Kirche aufmerksam, bei der wir uns zuvor getroffen hatten. Es ist ein Haus mit grauen Fertigpaneelen, ähnlich den Bauten in der Seeburgstraße. Dann nimmt sie ihr Telefon und zeigt mir, wie dieser Abschnitt der Ritterstraße zu Beginn des 20. Jahrhunderts aussah. „Unsere 115 Schritte haben uns quer durch die Geschichte der Stadt geführt“, meint sie lächelnd zu mir. Und tatsächlich fällt mir bei genauerem Hinsehen auf, dass wir vor einem neu errichteten Hotel stehen, links von uns die Alte Nikolaischule im Renaissancestil, rechts von uns die Nikolaikirche, ein Stück weiter die Säule zum Gedenken an die Friedliche Revolution und gleich dahinter, direkt nebeneinander, ein DDR-Bau und ein Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert.
HIN UND ZURÜCK
Im Zug lese ich erneut in Clemens Meyers Im Stein. Während der Intercity durch die nördlichen Außenbezirke und schließlich hinaus aufs Land fährt, präsentiert sich mir auf den Seiten des Romans ein nächtliches, kriminelles Leipzig, ein unglückliches Kind der Wiedervereinigung, eine Stadt, die nie beim Namen genannt wird, aber trotzdem erkennbar ist. Um mir die Möglichkeit zu geben, meine Neugier zumindest teilweise zu befriedigen, hatte mir Roberta Gado empfohlen, auch eine Runde in der Eisenbahnstraße zu drehen, die östlich vom Hauptbahnhof die Neustadt in zwei Hälften teilt. Ich hatte keine Zeit dafür. Die düsterste, am wenigsten vorzeigbare Seite der sächsischen Stadt wird für mich die von Meyer beschriebene bleiben.Während der Fahrt denke ich an all die Dinge zurück, die ich in den vergangenen Tagen gehört und gesehen habe, und versuche die gesammelten Bilder und Eindrücke zu ordnen. Ich denke zurück an Leipzig, die Bücherstadt, daran, wie Leipzig die Bombenangriffe überstanden hat, an Leipzig während der Zeit der DDR und der Friedlichen Revolution, an das studentische, alternative Leipzig und seine Hausbesetzungen sowie an Leipzigs Arbeitseifer nach der Wiedervereinigung, seit der sich die Stadt immer weiter ausdehnt und reicher wird und jedes Jahr Tausende neue Einwohner*innen anzieht. All dem bin ich in kaum 48 Stunden begegnet und jetzt scheint mir allein die Frage, ob die Bezeichnung „neues Berlin“ für Leipzig passend ist, wirklich lächerlich, scheint mir eine Form von Faulheit, die der Vergangenheit und der Gegenwart dieser Stadt nicht gerecht wird.
Als vor dem Fenster die ersten Berliner Häuserblocks vorbeiziehen, muss ich wieder an die Frage von Maria Carmela Marinelli denken: Muss man die Stadt, in der man lebt, unbedingt lieben? Die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Aber ich weiß, dass ich in den vergangenen Monaten die Gelegenheit hatte, zu sehen oder zumindest zu erahnen, wie es sich anderswo lebt – in Düsseldorf, Freiburg, Dresden oder Hamburg. Ich habe den Eindruck, dank dieser kurzen Ausflüge die Vorzüge und Schwächen von Berlin klarer zu sehen, die Scheinheiligkeiten der Stadt leichter zu entlarven und ihre Ehrlichkeit zu schätzen. Und wenn der Vergleich unterschiedlicher Orte irgendeinen Sinn hat, dann genau diesen: dich die Orte, die du zu kennen glaubst, neu entdecken zu lassen.
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