50. Todestag von Ingeborg Bachmann
In Berlin und Rom mit Ilaria Gaspari
Ingeborg Bachmann hat in Rom „leben gelernt“. Die Stadt war ihre Wahlheimat, aber auch der Ort, an dem sie den Tod fand. Von 1963 bis ’65 lebte sie in Berlin. Die kurz zuvor errichtete Mauer teilte die Stadt in zwei Teile und die Wunden des Krieges waren noch frisch, genau wie Bachmanns Schmerz über eine gescheiterte Liebesbeziehung. Ilaria Gaspari ist nach Berlin gefahren, um dort der Seele der geteilten Stadt und jener von Ingeborg Bachmann nachzuspüren. Mit Erfolg.
Von Sarah Wollberg
Im Jahr 2023 jährt sich der Todestag von Ingeborg Bachmann zum 50. Mal, sie selbst starb mit 47. Im Jahr 2026 wäre sie 100 geworden. Du hast eine ausgesprochen starke Vorstellungskraft. Kannst du uns beschreiben, wie Ingeborg Bachmann in diesem Alter gewesen wäre?
Ilaria Gaspari vor der Villa Hecht, wo Ingeborg Bachmann während ihrer Zeit in Berlin lebte.
| © Foto: privat
Darüber habe ich während der Arbeit an meinem Buch oft nachgedacht. Über Berlin zu schreiben war aus genau diesem Grund eine sehr intensive Erfahrung. Statt eines Reiseführers über Berlin wurde das Buch im Laufe der Arbeit immer mehr zu einem langen Brief der Verehrung an Ingeborg Bachmann. Denn da ich aufgrund der Pandemie gezwungen war, meine Reise nach Berlin über mehrere Monate hinweg stets von Monat zu Monat zu verschieben, verbrachte ich diese ganze „verschobene Zeit“ in der Gesellschaft ihres Geists, suchte sie in ihren Schriften und in den Briefen, Filmaufnahmen, Fotografien und Zeugnissen, die ihre Freunde und Freundinnen hinterlassen haben. Ich stelle mir vor, dass – wenn dieser schreckliche, so lächerliche und gleichzeitig so tragische Unfall in der Nacht des 26. September ’73 nicht passiert wäre, wenn die Zigarette ihren Morgenmantel nicht in Brand gesetzt hätte, wenn sie der Schmerz vor der Gefahr gewarnt hätte – sie gealtert wäre, wie nur wenige Menschen auf der Welt altern, aber ich bin mir sicher, sie wäre einer von ihnen gewesen: ein Mensch, der im Alter einem Kind ähnelt. Das klingt wie ein Paradoxon oder eine Hyperbel, aber damit will ich sagen, dass es einige wenige Menschen gibt, die, wenn sie älter werden, immer nachdrücklicher und mit einer gewöhnlich für Kinder typischen Entschlossenheit und Unschuld ihre Freiheit zu behaupten scheinen. Ich denke, Ingeborg Bachmann wäre so ein Mensch gewesen. Das lassen mich nicht nur ihre Schriften, die Brillanz der Vision, die ich darin sehe, ihr subtiler Sinn für Humor und ihre ein wenig anarchische Unordnung vermuten, sondern auch die Fotos und Filmaufnahmen, auf denen ich sie gesehen habe. Sie war einer dieser Menschen, die mit den Augen lächeln. Das ist etwas Seltenes, Berührendes, ein Zeichen mutiger Verletzlichkeit, die meines Erachtens die Unfähigkeit impliziert, sich im Laufe des Lebens zu verhärten. Ich glaube, sie wäre eine mädchenhafte alte Frau geworden, und damit meine ich: ein bisschen verrückt und zugleich zerbrechlich, ohne sich zu schützen. Frei. Einer dieser Menschen, die dich oft zum Lachen bringen, die dich bewegen und die dir das Gefühl geben, du hättest gerade eine entfernte Schwester gefunden.
„Ihr Herz war ebenso gebrochen, wie Berlin geteilt war.“ Ingeborg Bachmann lebte von ’63 bis ’65 in Berlin. Die Mauer stand erst seit Kurzem und der Krieg war noch keine 20 Jahre vorbei. Wie fühlte sie sich?
Nicht besonders gut, fürchte ich. Ihre Liebesbeziehung mit Max Frisch – ihre große Liebe, eine für alle beide turbulente und wichtige Beziehung – war auf denkbar schlechte Weise zu Ende gegangen. Es war nicht das erste Mal, dass ein Mann, der sie durchaus liebte und den sie liebte, sie zwang, sich der Tatsache zu stellen, dass ein Zusammenleben mit ihr unmöglich war. Dasselbe war mit Celan passiert: eine weitere Liebesgeschichte und künstlerische Partnerschaft, die extrem fruchtbar, aber auch schmerzhaft war. Wer weiß, ob es wirklich so schwierig war, mit ihr zusammenzuleben, oder ob sie beide das Problem waren – oder ihr Umgang miteinander, ihr labiles Gleichgewicht als Paar? Wer weiß das schon. Als sie sich trennten, schrieb Frisch jedenfalls einen Roman mit ihr als Romanfigur, eine Bearbeitung ihrer Geschichte, die sie sehr verletzte. Sie hatte mit ihm in Rom gelebt, der Stadt ihres Herzens. Nach ihrer Trennung musste sie Rom für einige Zeit verlassen und ich kann mir den Schmerz nach dieser weiteren Trennung vorstellen. Berlin war keine freie Entscheidung, sondern ein Ort der „subventionierten Agonie“. Sie kam über ein Stipendium der Ford-Foundation dorthin, unmittelbar nach dieser Trennung, gebrochen, erschöpft, müde. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihr Nervenleiden behandeln musste; der wiederholte Missbrauch von Beruhigungsmitteln war wohl nichts Neues. Und so kam sie nach Berlin – zerstört, traurig und verstoßen, aber zugleich auf dem Gipfel ihres Erfolgs. Kurz nach ihrer Ankunft gewann sie den überaus bedeutsamen Büchner-Preis und schrieb für die Verleihung eine unglaublich visionäre, poetische und prophetische Rede. Ihre Bücher waren erfolgreich, sie war eine namhafte Lyrikerin, beliebt und anerkannt. Die Jahre in Berlin, obwohl sie zu Beginn unter keinem guten Stern standen, waren extrem fruchtbar. Auch wenn sie nicht alle in dieser Zeit begonnenen Projekte zum Abschluss brachte, erwiesen sich einige davon als grundlegend für ihre künstlerische Laufbahn. Und trotz des harten Anfangs erlebte sie auch privat glückliche Momente. Kurz gesagt, es waren ereignisreiche Jahre, in denen sie vielleicht lieber woanders gewesen wäre, die ihr aber letzten Endes ein wichtiges Erbe hinterließen.
„Es hat einen bestimmten Moment gegeben, der hat meine Kindheit zertrümmert. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt. Es war so etwas Entsetzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt.“ Welche Bedeutung haben diese Worte vor dem Hintergrund eines neuen Krieges in Europa?
Eine erschütternde Bedeutung, meine ich. Ich war gerade in Berlin angekommen, um mich auf die Spuren von Ingeborg Bachmann zu begeben – es war ein Morgen Ende Februar, den ich nicht so schnell vergessen werde –, als ich auf meinem Handy, das ich zur Hand genommen hatte, um den Wecker auszuschalten, die Nachricht vom Einmarsch in die Ukraine las. Das war ein intensiver Moment und zwar umso mehr, als ich mich gerade (ich war am späten Vorabend in Berlin gelandet) auf die Spuren einer Frau begeben hatte, deren Leben von den Vorzeichen des Krieges auf den Kopf gestellt worden war: vom Anschluss Österreichs, ihrem allerersten Kontakt mit der Gewalt. Es gibt eine Erzählung, in Das dreißigste Jahr – dem Buch, mit dem die damals bereits als Lyrikerin berühmte Bachmann ihre ersten Erfolge als Prosaautorin feierte –, in der sie, die sie den Anschluss als Kind in Kärnten erlebt hatte, das Aufkommen des Nationalsozialismus und dann den Beginn des Krieges aus der Perspektive der Kinder erzählt, die Worte aus dem Radio dröhnen hören und die Spannung, die Gefahr und die Grausamkeit spüren. Ich las und lese alle Nachrichten über den Krieg in der Ukraine, die mir unterkommen, durch den Filter dieser Perspektive und dieses kindlichen Traumas, das ich nur indirekt erlebt habe. Ihr Buch präsentiert einen starken Diskurs, eine wirkungsvolle Perspektive, denn es erzählt von den Asymmetrien der Macht, von der erbarmungslosen Sinnlosigkeit der Unterdrückung. Es erzählt, ohne jegliche Opferrhetorik, von der Verlorenheit jener, die aufgrund ihrer Position verletzlich sind – weil sie klein sind und außerhalb dieser Mechanismen stehen, die der Welt ihre Gestalt verleihen.
Abgesehen von einem „endlosen Fest, das bereits vorbei ist“, was ist Berlin für dich?
Berlin ist für mich ein Ort der Freiheit und der Freundschaft. Als ich das erste Mal dort war, in den 2010er Jahren, war ich Anfang zwanzig. Die goldenen Jahre, in denen alle nach Berlin strömten, um die berauschende Erfahrung einer Stadt zu machen, in der sich alles so schnell veränderte, in der nach dem Fall der Mauer alles möglich war, neigten sich bereits dem Ende zu, und doch habe ich vielleicht noch einen letzten Rest davon erhascht. Viele meiner Freunde und Freundinnen, die ich damals kennengelernt habe, sind in Berlin geblieben und haben dort ihre Träume verwirklicht. Dadurch habe ich eine tiefe emotionale Bindung zu dieser Stadt, in der ich einen subtilen, liebevollen, entspannten Zynismus wahrnehme, viel Aufmerksamkeit gegenüber Kindern und deren Glück sowie ein starkes Gefühl, das sein zu können, was man will – und das ist etwas, das ich in jeder Stadt suche und das einem viele Städte verwehren. Aber Berlin ist auch der Ort eines Wunders, einer zeitlichen Ko-Präsenz, die fast schon in sich widersprüchlich ist und die ich noch an keinem anderen Ort gesehen habe: Berlin ist der Ort, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einer solchen Kraft nebeneinander existieren, dass sich jede Gewissheit, jedes Klischee auflöst.
In deinem Buch fühlt sich Bachmann „in Berlin vielleicht noch mehr als Fremde denn in Rom“. Wie beschreibt sie Rom?
A Berlino – Con Ingeborg Bachmann nella città divisa, von Ilaria Gaspari
| Giulio Perrone Editore, 2022
Auf eine sehr berührende Art. Bachmann war, wie aus ihren Schriften hervorgeht, eine äußerst intelligente Frau und von einer Intensität, die sie selbst kaum ertrug. Ihr früher Tod, dessen Ursache mit der Umstand war, dass die aufgrund der Barbiturate den Schmerz nicht wahrnahm, der sie gerettet hätte, ist meines Erachtens in gewisser Weise der Beweis dafür. Sie war eine Art Staatenlose geworden, und das schon als sehr junger Mensch: nach dem Trauma ihrer Kindheit, als Österreich nationalsozialistisch wurde, und nachdem sie sich erstmals in einen britischen Soldaten verliebt hatte, der (von Geburt eigentlich österreichischer Jude) gegen Ende des Krieges gekommen war, um ihr Dorf zu befreien – eine Erfahrung, die sie lehrte, was Schande bedeutet und ihr die Ächtung durch ihre Gemeinschaft bescherte. Es gibt ein Gedicht von ergreifender Schönheit von ihr, Böhmen liegt am Meer, das genau davon erzählt: von der Entwurzelung der Träumer, die nicht an die Heimat des Blutes glauben, sondern sich die Welt erfinden, indem sie die Träume von Dichtern spinnen. Und genau das tat sie, als sie dank Hans Werner Henze Italien kennenlernte, einem engen Freund, über den sie zunächst Ischia entdeckte. Dann ging sie nach Rom – und dort lernte sie zu leben. Es gibt einen wunderschönen Text von ihr, Was ich in Rom sah und hörte, der von ihrer Liebe zu dieser Stadt erzählt. Sie arbeitete als Korrespondentin unter einem Pseudonym für einen deutschen Radiosender, sie beobachtete die Stadt und hatte viele Freunde. Sie liebte die Zeit und wie die Zeit in Rom anders verstrich. Sie beschreibt das sehr gut in ihren Texten, in denen sie von der Stadt erzählt, ohne sie zu idealisieren, und doch zeigt, wie Rom ihr Herz erobert hat. An einer Stelle meint sie, dass sie zunächst nur für ein paar Monate gekommen sei und plötzlich seien aus diesen Monaten Jahre geworden. Ich denke, das ist eine gute Definition von Glück, vor allem für einen Menschen, dem das Leben nicht immer leichtfällt.
Bachmann macht keinen Hehl aus ihren psychischen Problemen. Wie wichtig ist es heute, nach mehreren Jahren der Pandemie, dieses Thema anzusprechen – vor allem gegenüber jungen Menschen?
Das ist sehr wichtig. Vor allem ist es, glaube ich, sehr wichtig daran zu erinnern, dass das nichts ist, wofür man sich schämen sollte. Verletzlich zu sein bedeutet, für die Erfahrung der Welt zugänglich zu sein, offen zu sein. Die Emotionen, die wir haben, wenn wir zulassen, dass das, was um uns herum geschieht, uns verändert und berührt, sind nicht immer angenehm. Im Gegenteil, oft sind sie das gerade nicht. Oft sind sie schmerzhaft, und leider haben wir heute so viel Angst vor Schmerz, dass wir uns nicht darauf beschränken, ihn zu vertreiben, sondern versuchen, ihn gänzlich auszulöschen. Bachmann hatte bestimmt keine besonders gesunde Beziehung zu Schmerz, sie hatte ja auch ein Problem mit Schmerzmittelmissbrauch, wie uns das Ende ihres Lebens leider gezeigt hat. Aber ich glaube nicht, dass das Verhalten von Künstlern und Künstlerinnen vorbildhaft sein muss. Wer so sensibel ist, findet und erfindet Wege, mit dieser Sensibilität umzugehen, da darf man sich selbst nicht zum Paradigma machen. Aber ich denke, dass uns die Geschichte von Bachmann etwas Wichtiges lehrt: Sie stellte sich auch den größten Schmerzen mit frechem Humor. Das ist eine Eigenschaft von ihr, die mich sehr stark berührt, und in der ich mich irgendwie wiederfinde und Trost finde.
Was bedeutet für dich das Wort „Zufall“, also „coincidenza“?
Alles in allem würde ich mir wahrscheinlich die Freiheit nehmen, „Zufall“ auf Italienisch mit „accidente“ (deutsch wörtlich: Vorfall) zu übersetzen. Dieses Wort beschreibt im Italienischen sowohl einen Vorfall im Sinne eines zufälligen Ereignisses wie auch einen Vorfall im Sinne eines plötzlichen Vorkommnisses, eines Angriffs, wie etwa in der Redewendung „mi venga un accidente“ (in der Bedeutung ähnlich dem deutschen: Der Schlag soll mich treffen!). Ein Ausdruck, der die unendliche Zahl an Eventualitäten, die uns treffen könnten, impliziert und der uns daran erinnert, dass wir – auch – das Ergebnis zufälliger Begegnungen von Materieteilchen sind. Dass wir alle Kinder des Zufalls sind, und das ist gut so.
Ilaria Gaspari
Ilaria Gaspari wurde in Mailand geboren. Sie studierte Philosophie an der Scuola Normale di Pisa und promovierte an der Universität Paris I Panthéon-Sorbonne. Im Jahr 2015 erschien ihr erster Roman, Etica dell’acquario (Voland), 2018 folgte Ragioni e sentimenti. L’amore preso con filosofia (Sonzogno). Im Jahr 2019 veröffentlichte sie bei Einaudi ihr Buch Lezioni di felicità. Esercizi filosofici per il buon uso della vita, das bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Im Mai 2021 erschien, ebenfalls bei Einaudi, Vita segreta delle emozioni, das sich zurzeit in Übersetzung befindet und in Frankreich bereits erfolgreich auf den Markt gebracht wurde. Im Jahr 2022 nahm sie einen Podcast zu Proust auf (Chez Proust, Emons Record) und veröffentlichte in der Reihe „Passaggi di dogana“ (Perrone) das Buch A Berlino – Con Ingeborg Bachmann nella città divisa. Sie arbeitet mit verschiedenen Zeitungen sowie Radio3 zusammen und hält Schreibkurse an der Scuola Holden und der Scuola Omero.
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