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Premio Strega 2022
Berlin als perfekter Schauplatz für meine Geschichte

Buchcover von „Spatriati“ von Mario Desiati, Gewinner des Premio Strega 2022
Mario Desiati: Spatriati – Gewinner des Premio Strega 2022 | Einaudi, 2021 | © Goethe-Institut Italien | Foto (Detail): Sarah Wollberg

Mario Desiati ist der Gewinner des Premio Strega 2022. Sein Roman „Spatriati“ spielt zum Teil in der deutschen Hauptstadt – für den Autor der perfekte Schauplatz für seine Geschichte. In Berlin scheint ihm nichts verloren, alles wird wieder aufgebaut und kann eine neue Gestalt annehmen. Vielleicht kann das Berlin, von dem er erzählt, noch heute für jeden von uns Ort radikaler Veränderung sein. Wenn Scheitern und Traurigkeit offen Teil unseres Lebens sind, wird auch Liebe möglich.

Von Sarah Wollberg

Als ich begonnen habe, „Spatriati“ (dt. wörtlich: die Heimatlosen) zu lesen, dachte ich zuerst, der Titel beziehe sich ausschließlich auf Menschen, die aus dem italienischen Süden kommen (und von dort wegziehen). Aber als ich weiterlas und sich mir nach und nach die anderen Bedeutungsebenen dieses Wortes erschlossen, kam mir der Gedanke, dass es sich dabei vielleicht um einen Gemütszustand handelt, den wir alle kennen. Sind wir alle irgendwie „heimatlos“?

Ich weiß nicht, ob das für alle gilt, aber viele haben zumindest einmal in ihrem Leben das Gefühl gehabt, nicht der Norm zu entsprechen und nicht mit der herrschenden Meinung konform zu sein. So war es bei Claudia und Francesco, und so war es auch bei mir, als ich dreizehn war und man mir sagte, ich gehöre nicht hierher, weil ich rosa Kleidung trug.

Mario Desiati Mario Desiati | © Foto: privat  Welche Rolle spielt die Liebe im Leben und für die Identität deiner Romanfiguren?

„Amore“ bedeutet im Dialekt von Martina Franca „Geschmack“. Es ist ein Begriff, der für frisches Obst verwendet wird und nicht, um Gefühle zu beschreiben. Wenn ein Apfel keine „amore“ hat, kann man ihn nicht essen. Eine Frucht ist nur dann genießbar, wenn sie „amore“ hat, also den ihr eigenen Geschmack, den einer reifen Frucht. Ich wollte dieses Paradoxon nutzen, um von einer Form von Liebe zu erzählen, wie sie die beiden Protagonisten erleben. Einer Liebe, in der Beschränkungen, Regeln und Exklusivität keinen Wert haben, in der alle toxischen Emotionen wie Besitzdenken und Eifersucht außen vor bleiben, obwohl Claudia und Francesco deren Wunden tragen. Ihre Liebe ist erfüllend, wie eine süße Kirsche oder eine saftige Aprikose, die durch und durch reif sind.

Das Buch deckt viele Tabus auf. Wie wirken sich Tabus auf uns als Individuen und als Land aus?

Sie unterdrücken und bedrücken. Sie markieren Grenzen, die unüberwindbar scheinen. Zum Teil handelt es sich auch um sprachliche Tabus, die es uns nicht erlauben, gewisse Dinge zu benennen. Joseph Brodsky zum Beispiel meinte, dass das nicht Ausgedrückte zur Neurose führen kann. Gefühle, Nuancen, Gedanken und Wahrnehmungen, die nicht benannt werden, die sich nicht mit oberflächlichen Formulierungen ruhig stellen lassen, stauen sich so lange auf, bis es zur Explosion oder zum psychologischen Zusammenbruch kommt. Tabus können gefährlich werden, wenn man sie nicht bricht.

Wofür steht Berlin in deinem Roman?

Berlin ist ein Ort, an dem ich mich wohlfühle, an dem ich die besten Energien wahrnehme, die mir je begegnet sind. Ich war auch schon sehr traurig in Berlin, aber das gehört zum Leben dazu. Als ich 2014 dorthin zog, hatte ich den Eindruck, dass Berlin die Heimat der zweiten Chance ist. Eine Stadt, in der diejenigen, die sich gebrochen fühlen, Heilung finden können. Bereits die Architektur zeigt, dass nichts verloren ist. Fabriken werden zu Hotels, verlassene Bahnhöfe zu Diskotheken, von Schutt begrabene Gleise zu Radwegen, selbst die Stämme gefällter Bäume werden von Holzkünstlern bearbeitet und gestaltet. In Berlin erzählten mir alle, die ich kennenlernte, fröhlich, kritisch, unbeschwert und diszipliniert von ihrem Scheitern. Wie viele solche Menschen habe ich in den Clubs, den Schulen, den Lokalen, den Herbergen, den WGs getroffen? Wie viele? Mehr als ich auf der ganzen Welt und in meinem ganzen Leben je getroffen habe. Berlin war der perfekte Ort für die Geschichte, die ich erzählen wollte. Vielleicht auch, weil ich versuchte, mein Leben radikal zu ändern.

Wie wurde das Buch in deiner Heimatgemeinde Martina Franca aufgenommen, in der die Geschichte spielt?

Danach erkundige ich mich nie. Natürlich gibt es Leute, die glauben, als Inspiration für die Protagonisten gedient zu haben, aber das sind reine Gedankenspiele, die auch legitim sind. Viele aus meiner Gemeinde haben mich gefeiert, als ich den Premio Strega bekommen habe, und damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet.

„Ruinenlust“, „Sehnsucht“, „Torschlusspanik“ … Welches Verhältnis hast du zur deutschen Sprache?

Ich liebe sie, aber es handelt sich um eine unerwiderte Liebe, wie so oft in meinem Leben, denn ich schaffe es nie über B2 hinaus und wenn ich einen Monat lang nicht Deutsch spreche, falle ich auf A1 zurück.

Eine Buchempfehlung aus deiner Heimat?

Inferno minore von Claudia Ruggeri. Eine wundervolle Dichterin, die 1996 im Alter von nur 29 Jahren viel zu früh gestorben ist. Sie kombinierte gehobenes Italienisch mit dem des Pop, wobei sie Gegenwart und Tradition gekonnt vermischte. Ihre Sprache bewegt mich noch heute.

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