Katerina Poladjan auf Lesereise in Italien
Zukunftsmusik – Die Poesie einer Zeitenwende
Die deutsche Autorin Katerina Poladjan geht mit ihrem neuen Buch „Zukunftsmusik“ auf Lesereise in Italien. Ihr Roman nimmt uns mit in das Jahr 1985, tausende Kilometer östlich von Moskau, in eine Kommunalka, einer russischen Gemeinschaftswohnung, die zur Schaubühne einer Zeitenwende wird. Poladjan beschreibt den Alltag von vier Frauen aus vier verschiedenen Generationen und hält einen historischen Moment von Unsicherheit, aber auch von großer Sehnsucht fest.
Von Sarah Wollberg
Zukunftsmusik ist im Deutschen ein Wort, das von mehreren Seiten beleuchtet werden kann. Einerseits beschreibt es etwas, das so weit in der Zukunft liegt, dass wir kaum wagen darüber zu sprechen, andererseits ist es ein Sehnsuchtsort, an den wir unsere Wünsche projizieren. Das Wort, das dem Roman seinen Titel verleiht, wird zu einer Metapher für den Moment des Ungewissen. Ein einziges Wort, das in die Zukunft blickt und dabei offenbleibt, als Einführung in Katerina Poladjans poetische Sprache, welche die Seiten des Romans wie mit Musik bespielt.
Autonomie und Liebe
In der Kommunalka leben mehrere Familien auf engem, bröckelndem Raum. In einem Wechselspiel aus Nähe und Distanz lernen wir die Bewohner und Bewohnerinnen in der Intimität der gemeinsamen Küche kennen. Ein surrealer, beizeiten utopischer Raum. Es geht der Autorin nicht um die Authentizität des Lebens in der Sowjetunion, sondern darum, die Gefühls- und Gedankenwelt in den kleinen Ritualen des Alltags zu finden. Vier Frauen, Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, leben hier in einem Zimmer und suchen das schwierige Gleichgewicht zwischen Autonomie und Liebe. Die Enge nimmt sie gefangen, beschützt sie aber auch. Sie unterstützen einander, wann immer es möglich ist, und so kann jede von ihnen ihren Pflichten und Träumen nachgehen.Schönheit und Würde
In unserem Gespräch verrät die Autorin uns ihre Vorliebe für Tschechow und die klassische Literatur des 19. Jahrhunderts, die man aus den Seiten ihres Romans immer wieder herausliest. „Ich liebe Tschechow, ich liebe seine Stücke, ich spiele mit der Sprache, mit dem Ort des Theaters, eine bewusste Bühne, ein metaphorischer Raum der Sowjetunion, wo man gezwungen war, bestimmte Rollen einzunehmen – ein großes, absurdes Theater.“ In diesem Theater benutzt sie eine Kunstsprache, die ihren Figuren Tiefe, Feinheit und vor allem Würde verleiht. „Sie sollen in dem System nicht nur überleben“, so die Autorin, „sondern auch gut leben.“ In diesem Sinne hat ihr Roman auch einen philosophischen Hintergrund, mit dem sie sich beruflich und privat identifizieren kann: „Akzeptiere das im Leben, was Du nicht ändern kannst.“Was wäre, wenn…
Der Moment an dem das Buch spielt, ist der 11. März 1985, der Tag, an dem Gorbatschow nach dem Tod seines Vorgängers Tschernenkos an die Macht kommt. Niemand wusste damals, wer Gorbatschow war und wofür er stehen würde. Perestroika und Glasnost – heute wissen wir, welche Reformen er eingeführt hat. 1991 kam das Ende der Sowjetunion. „Doch eine Demokratie ist nicht einfach mal eben aufzubauen. Das ist ein Land, das aus einer völlig anderen Geschichte kommt. Das habe ich beim Schreiben immer mitgedacht“, erzählt uns die Autorin. Vor allem eins ist ihr wichtig: „Um freiheitlich denken zu können, muss man freiheitlich sozialisiert sein.“ Das Buch erscheint in Deutschland am 23. Februar 2022, genau einen Tag vor dem Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs. Die Frage, die sich beim Lesen des Buches angesichts der heutigen Situation stellt, ist: „Was hätte eigentlich aus dem Land werden können?Zukunftsmusik wurde von Enrico Arosio ins Italienische übersetzt und erschien im September 2023 als Musica del futuro bei SEM Libri mit Unterstützung des Programms für Übersetzungsförderung Litrix.de: Fokus Italienisch 2022 bis 2024.
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