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Donatella Di Pietrantonio
Die zerbrechliche Zeit

Foto der Autorin Donatella Di Pietrantonio und Buchcovers der italienischen und deutschen Version des Romans L'età fragile – Die zerbrechliche Zeit
Foto der Autorin Donatella Di Pietrantonio und Buchcovers der italienischen und deutschen Version des Romans L'età fragile – Die zerbrechliche Zeit | Foto der Autorin: © AGF Bridgemann Images

Donatella Di Pietrantonio hat mit ihrem Roman „Die zerbrechliche Zeit“ den wichtigsten italienischen Buchpreis, den Premio Strega 2024, gewonnen. Er erscheint in Deutschland pünktlich zum italienischen Ehrengastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2024. Die Autorin ist viel auf Reisen, seit sie den bedeutenden Literaturpreis gewonnen hat und doch findet sie die Zeit für ein Gespräch mit dem Goethe-Institut. Wir treffen uns online, sie sitzt in ihrem Zimmer in Penne, in ihrer Heimat, den Abruzzen.

Von Sarah Wollberg

Der Premio Strega Giovani der jungen Leser*innen

Nicht nur der Premio Strega 2024, sondern auch der Premio Strega Giovani 2024, der von Schüler*innen zwischen 16 und 18 Jahren aus ganz Italien verliehen wird, ging dieses Jahr an die Autorin. Die jungen Leser*innen sind von ihrem Buch begeistert und bewegt. Das war auch für die Autorin eine große Überraschung. Die Begründung? Amanda, die Protagonistin, sei ihnen sehr nahe gegangen, eine junge Frau, die nie Probleme gemacht habe, immer gradlinig ihren Weg gegangen sei, aber plötzlich bei dem Übergang in die große Stadt auf eine innere Blockade treffe. Amanda ist keine Gewinnerin, sie geht zurück in ihr Dorf, nach Hause, wo sie sich schweigend in ihr Zimmer einschließt. Di Pietrantonio erzählt ihre Schwierigkeiten, ihre Zerbrechlichkeit, ohne sie zu beurteilen. Sie gibt einem Aspekt Raum, der selten auf Akzeptanz stößt: Man kann und darf im Leben auch scheitern. „Wir tendieren dazu, die Jugend zu idealisieren: stark, kraftvoll, unschlagbar“, so die Autorin, „oder wir machen genau das Gegenteil und bezeichnen sie als verwöhnt, faul, digital abhängig.“ Dazwischen gibt es nichts? „Doch! Wir Erwachsene müssen unser Verhalten ändern: wenn wir den jungen Menschen eine Alternative bieten, nehmen sie diese an.“ Das macht sie mit ihrem Roman.

Die Abruzzen – der Ort als Erzählform

Während ich mit Donatella Di Pietrantonio spreche, macht sie gerade eine Pause von der Lesereise, die der Premio Strega mit sich bringt. Sie ist zuhause in ihrer Heimatregion Abruzzen, in der der Roman spielt. Schon auf den ersten Seiten des Romans hat man das Gefühl, die Erzählerstimme sei die Berglandschaft selbst. Eine raue und doch poetische Sprache nimmt einen mit in diese Wälder, in die Nähe des Wolfzahns. „So ist es“, bestätigt die Autorin, „die Bindung zu meinem Geburtsort ist sehr eng und sehr ambivalent. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich bin eine Tochter dieser Orte. Das kann auch schmerzhaft sein, denn ist es ein sehr kleiner, sehr isolierter, sehr armer Ort“. Sie stamme aus einer Familie von Hirten, in der die Erwachsenen immer arbeiten mussten und sie sich als Kind allein und verlassen gefühlt habe. „Ich wäre eine ganz andere Person, wenn ich nicht genau hier geboren wäre.“ Die Kraft dieser Bindung fließt in ihre Bücher ein. Vom ersten Roman an, habe sie die Dringlichkeit gespürt, diese Orte zu erzählen. Die Abruzzen gaben ihr ihre Stimme und sie wurde zur Stimme der Abruzzen, in einem Wechselspiel der Gefühle, wie ihre Beziehung zu dem Ort selbst.

Leitmotiv Mutter-Tochter-Beziehung

In allen Romanen der Autorin spielt die Mutter-Tochter-Beziehung eine große Rolle. „Ich bin besessen von der Beziehung zur Mutter, was aus meiner eigenen Erfahrung kommt.“ In Die zerbrechliche Zeit treffen wir auf einen Wendepunkt. Es ist nicht mehr eine erwachsene Tochter, die den Konflikt mit der Mutter erzählt. Zum ersten Mal lesen wir einen ihrer Romane aus der Perspektive der Mutter. „Mütter sind oft sehr allein, sie stehen hohen Anforderungen gegenüber und dürfen nie etwas falsch machen, sie sollen Superkräfte haben und allmächtig sein.“ Die Autorin bricht mit dem Ideal des magischen Mutterinstinkts. Lucia ist eine Mutter, die ihren Ängsten, Zweifeln und Fehlern eine Stimme gibt. Sie ist ratlos und gibt es zu: sie versteht ihre Tochter nicht. Sie wusste nicht, warum Amanda als Kleinkind weinte, und sie weiß nicht, warum sie als junge Erwachsene schweigt. „Der Mutter die Rolle der Ich-Erzählerin zu geben, die ihre Fehler, Mängel und Unsicherheiten erzählt, war für mich ein großer Schritt. Ich glaube, es geht meinerseits mit einem Verzeihen meiner Mutter gegenüber einher.“ Nicht nur der Jugend, auch der Mutterrolle wird Zerbrechlichkeit gestattet, vielleicht zum ersten Mal ohne Urteil. Das Schönste, was der Autorin bei einer Lesung passierte, sei ein junger Mann gewesen, der ihr sagte: „Dank Ihres Romans habe mich in meine Mutter hineinversetzt. Zum ersten Mal habe ich verstanden, was sie mit mir durchgemacht hat, was sie gefühlt hat.“

Kollektives verdrängen und erinnern

Von ihrem Zimmer aus sieht die Autorin die Berge, in denen in den 90er Jahren ein doppelter Frauenmord stattgefunden hat. Ein Vorfall, über den man viele Jahre nicht mehr gesprochen hat. Auch die Autorin selbst hat nie wieder an den Fall gedacht, bis sie eines Tages auf der Autobahn Richtung Rom auf die mit Schnee bedeckten Berge schaute und in ihr die Erinnerung wieder hochkam. Sie fragte sich: „Wieso habe ich trotz meines guten Gedächtnisses nie wieder daran gedacht? Wieso haben wir nie wieder drüber gesprochen?“ Dieser Mechanismus des kollektiven Verdrängens ließ sie nicht mehr los. Sie ging in die Archive und in ihr wuchs die Notwendigkeit, darüber zu schreiben. Die Arbeit an dem Buch führte sie schließlich zu einer Antwort: Ein doppelter Frauenmord und eine Überlebende haben die idyllische Auffassung zerstört, die sie von ihrem Heimatort hatten. Die Berglandschaft, die für die Gemeinschaft ein bis dahin sicherer, märchenhafter Ort war, war dies plötzlich nicht mehr. Deswegen haben sie die Morde verdrängt und nie wieder darüber gesprochen, wie ein Familiengeheimnis. „Meiner Meinung nach haben wir diesen Vorfall in den großen Topf des Unausgesprochenen gesteckt, weil er die Auffassung, die wir von unserem Zuhause hatten, zerstörte. Um die Identität des Ortes und unserer Gemeinschaft zu bewahren, haben wir den Mechanismus des kollektiven Verdrängens gewählt.“ Donatella di Pietrantonio holt die Vorfälle aus diesem Topf wieder hervor. Sie hat die Fähigkeit, Gewalt so zu erzählen, dass sie uns in ihrer Grausamkeit trifft, aber nicht dazu zwingt wegzuschauen. Mit der Art, in der sie in Die zerbrechliche Zeit über Gewalt schreibt, bewahrt sie die Seele ihres Ortes, ohne sie zu beschönigen. Vielleicht war auch das ein Ziel des Romans.

Ein Dialog für Italien Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse

Di Pietrantonio und viele ihrer Kolleg’innen haben beschlossen, trotz der innerpolitischen Diskussion, bei der Frankfurter Buchmesse dabei zu sein. In einem Brief an den italienischen Verlegerverband fordern sie mehr Zeit und Raum für ein besonders wichtiges Thema: Meinungsfreiheit. „Wir möchten uns mit Autor*innen anderer Länder zu dem Thema austauschen. Das ist sehr wichtig für uns!“, betont die Autorin. „Wir möchten nicht nur über unsere Bücher sprechen. Wir fordern Raum dafür, unsere Stimmen auch auf dieses Thema zu lenken und mit anderen Autor*innnen darüber in den Dialog zu treten.“  Wir sind sicher, Frankfurt wird eine gute Plattform für den Austausch zwischen Autor*innen aller Länder ein. Wir freuen uns auf Donatella di Pietrantonio und alle Themen, die sie aus ihrem Land mitbringen wird.

Di Pietrantonio im Kunstmann-Verlag

„Der ausschlaggebende Funke Donatella Di Pietrantonio mit ihrem ersten Buch Meine Mutter ist ein Fluß (2013) bei Kunstmann ins Programm zu nehmen, lässt sich im Grunde auf einen (mehr oder weniger) einfachen Begriff bringen: literarische Qualität. Dass wir Signora Di Pietrantonio dann auch noch als unprätentiöse und äußerst sympathische Autorin erlebt haben, hat es zudem zu einer wahren Freude gemacht, ihr bisheriges Werk weiter zu veröffentlichen.“ Moritz Kirschner, Verleger, Verlag Antje-Kunstmann

Die zerbrechliche Zeit erscheint am 17.10. beim Antje-Kunstmann in der Übersetzung von Maja Pflug.

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