unrest 62|22
Curatorial Statement
Die Gründung des Goethe-Instituts Tokyo im Jahr 1962 fällt in eine Zeit, die sowohl in Deutschland wie auch in Japan von großen Umbrüchen in Kunst und Kultur, wie auch in der Politik und im Geistesleben geprägt ist. Beide Länder suchen Wege aus dem Militarismus des Zweiten Weltkriegs, während im Zuge des rapiden Wiederaufbaus Begrenzungen und Widersprüche der Geschichte deutlich werden. In Deutschland formulieren 26 junge Filmemacher das Oberhausener Manifest, eine fundamentale Kritik an der Vorgängergeneration, der es nicht gelungen war, einen eindeutigen Bruch mit den Strukturen der Vorkriegszeit zu vollziehen. Das Manifest ebnet den Weg für eine grundlegende Neuorientierung der Filmproduktion.
Im Wiesbadener Museum veranstaltet George Maciunas die „Fluxus Festspiele Neuester Musik“. Diese Bewegung zieht auch Künstler*innen in Europa, den USA und Ostasien in ihren Bann und bringt vollkommen neue, zwischen den Kunstgenres fließende Ausdrucksformen hervor. In Japan artikulieren die Schochiku Nouvelle Vague und Dokumentarfilmgruppen Kritik an den althergebrachten Formen der Filmproduktion und forcieren in selbstproduzierten Filmen, Experimentalfilmen und Privatfilmen eine Loslösung von etablierten Strukturen und Inhalten. Vertreter*innen der Avantgarde nutzen Yomiuri Indépendant und das Sogetsu Art Center als Plattformen, um neue künstlerische Ausdrucksformen zu erproben, von denen viele in die Fluxus-Bewegung einmünden. In anderen Kunstbereichen wie Performance, Theater, Fotografie und Design sind ähnliche Bewegungen zu beobachten. Dieser Prozess des Wandels und der Neuorientierung ist auch dadurch charakterisiert, dass die gestellten Fragen nicht allein in der Kunst verhaftet bleiben, sondern sich Wege in die Politik und Gesellschaft sowie das Alltagsleben der Menschen bahnen.
Die Veranstaltungsserie „unrest 62|22“ nimmt das Gründungsjahr des Goethe-Instituts Tokyo 1962 zum Ausgangspunkt für einen neuen, zeitgenössischen Blick auf die Aktivitäten des deutsch japanischen Kulturaustausches der Anfangsjahre, in denen das Goethe-Institut Tokyo – immer wieder gemeinsam mit dem Sogetsu Art Center - experimentelle Filmreihen und das „Japanisch-Deutsche Festival für Neue Musik“ veranstaltet hat.
Das über einen Zeitraum von vier Monaten laufende Programm „unrest 62|22“ bringt Künstler*innen von damals und heute in einen Austausch - in Film- und Musikveranstaltungen, Performances, Ausstellungen, sowie Lectures und Diskussionen mit Forscher*innen, Kritiker*innen und Kurator*innen. Im Zuge einer Neuentdeckung der Kunst- und Kulturszene der 1960er Jahre nehmen wir geschichtliche Kontinuitäten und Unterbrechungen in den Blick, um Herausforderungen für die Zukunft zu identifizieren und die aktuellen Umwälzungen zu reflektieren, mit denen uns die Pandemie und der Krieg konfrontieren.