Dramaturg, Übersetzer
Tatsuki Hayashi
Dramaturg als Beruf im öffentlich subventionierten Theater in Deutschland
Tatsuki Hayashi, Dramaturg und Übersetzer im Interview mit Makiko Yamaguchi, Goethe-Institut Tokyo
Das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt
Makiko Yamaguchi (MY): Ich freue mich sehr, heute dieses Interview mit dir führen zu können. Ich bin bereits auf dich aufmerksam geworden, als wir uns in deiner Studentenzeit trafen und du mich mit deinem außergewöhnlichen Sprachtalent im Deutschen verblüfft hast. Du hast dann Wolken.Heim. von Elfriede Jelinek ins Japanische übersetzt, das von Akira Takayama inszeniert wurde. Goethe-institut Tokyo hat die Produktion durch seine Übersetzungsförderung unterstützt. 2007 hast du am Internationalen Forum des Berliner Theatertreffens teilgenommen. Danach hast du als Übersetzer bei der Aufführung von Kein Licht. von Jelinek beim Festival/Tokyo mitgewirkt, das die Dramatikerin kurz nach der Großen Erdbebenkatastrophe in Ostjapan veröffentlicht hatte. Derzeit bist du Mitglied des Programmteams am Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main.
Der Mousonturm ist kein typisches deutsches Stadttheater. An einem Stadttheater sind die Schauspieler*innen, Dramaturg*innen, Bühnen- und Kostümbilder*innen, die Mitarbeiter*innen der jeweiligen Werkstätten und alle anderen Theatermitarbeiter*innen fest angestellt und das Theater wird nach einem Repertoire-System betrieben. Im Gegensatz dazu ist der Mousonturm ein sogenanntes Produktionshaus, das zusammen mit externen Künstler*innen Stücke produziert und aufführt. Die innovative Programmgestaltung des Theaters genießt einen ausgezeichneten Ruf. Mitunter werden Künstler*innen und ihre Arbeiten aus Japan und Südostasien eingeladen, neue Stücke in Auftrag gegeben und Koproduktionen mit wichtigen Festivals und Theaterhäusern in Europa umgesetzt. Nun würde ich dich gerne zu deinen Erfahrungen am Theater in Deutschland und zu deinen künftigen Plänen befragen.
Erzähle uns bitte als Erstes, weshalb du dich für das Künstlerhaus Mousonturm für deinen einjährigen Aufenthalt in Deutschland mit dem Stipendium des Japanischen Amts für Kunst und Kultur entschieden hast.
Tatsuki Hayashi (TH): Als Matthias Pees 2013 die Intendanz des Mousonturms antrat, hat er Akira Takayama als Künstler an das Künstlerhaus eingeladen. Als Mitglied des Projektteams von Takayamas Theatergruppe Port B habe ich im Sommer 2014 an dem Großprojekt EVAKUIEREN mitgearbeitet, ebenso bei McDonald’s Radio University 2017. Durch diese Projekte habe ich nicht nur von Matthias, sondern vom gesamten Team des Mousonturms viel gelernt und in der offenen Atmosphäre mehrere praktische Erfahrungen sammeln können.
Dabei habe ich auch deutlich gespürt, dass in der Welt der darstellenden Künste in Deutschland in den letzten Jahren insbesondere die Produktionshäuser, die keine eigenen Ensembles unterhalten, sich flexibel und aktiv mit der aktuellen Situation der Gesellschaft auseinandersetzen und zunehmend an Präsenz gewinnen. 2016/17 wurde in Deutschland das „Bündnis internationaler Produktionshäuser“ ins Leben gerufen, ein Zusammenschluss von sieben Theaterhäusern – FFT Düsseldorf, tanzhaus nrw in Düsseldorf, HAU in Berlin, HELLERAU in Dresden, Kampnagel in Hamburg, PACT Zollverein in Essen und das Künstlerhaus Mousonturm. Da ich bereits mit dem Mousonturm in Verbindung war, der zum Bündnis gehört, habe ich mich dort um einen Praktikumsplatz beworben. Tatsächlich durfte ich im Theater arbeiten und von Anfang an als vollwertiger Mitarbeiter.
Der Beruf Dramaturg
MY: Was wolltest du dort lernen?
TH: Zwei Dinge: Erstens wollte ich etwas über die Arbeit eines Dramaturgen erfahren. Der Dramaturg ist nämlich eine Besonderheit des deutschsprachigen Theaters. Zweitens wollte ich wissen, wie es ist, in einem öffentlich subventionierten Theater als Institution zu arbeiten. Bei beidem kam es mir auf das Erleben der Praxis an.
In Japan ist es eher selten, dass ein Theater sein eigenes Mission Statement vermittelt und somit seine Eigenschaft deutlich darstellt. Theaterhäuser in Japan befassen sich im Allgemeinen mit verschiedenen Ausdrucksformen wie Schauspiel, klassische Musik, Popkonzerte u.a., so die Verbindung zur lokalen Gemeinschaft oder der Auftrag des Theaters sind dabei nicht unbedingt immer klar erkennbar. In Deutschland dagegen bringen die Produktionshäuser durch ihre jeweilige künstlerische Praxis ihre Art des Interagierens mit der Gesellschaft klar und deutlich zum Ausdruck. Mir ging es darum, zu lernen, was das Theater durch die Arbeiten der Künstler*innen und Projekte vermittelt, wie es dies tut, wie es der Gesellschaft gegenüber einer kritische Rolle einnehmen kann und welche Rolle der Beruf des Dramaturgen dabei spielt.
MY: Der Dramaturg hat ja zwei Rollen – einmal die des Dramaturgen einer Produktion und dann die des Dramaturgen an Theatern oder Festivals.
TH: Auch in Japan wird seit fast 20 Jahren über die Einführung von Dramaturg*innen diskutiert. Bei dieser Diskussion wird meist die grundlegende Tatsache übersehen, dass es an Theaterhäusern im deutschsprachigen Raum jeweils zwei separate Abteilungen gibt: eine Dramaturgie- UND eine Produktionsabteilung. In Japan vereint der „Produzent“ beide Funktionen auf sich im Theaterwesen. Ich denke, man hätte in Japan längst darüber diskutieren sollen, ob es möglich ist, an japanischen Theaterhäusern eine Dramaturgieabteilung neben einer Produktionsabteilung einzurichten und wie die Aufgaben zwischen diesen Abteilungen aufzuteilen sind und prüfen müssen, ob man sich auch hinsichtlich der Aufteilung der Expertise an deutschsprachigen Theaterhäusern orientieren kann. Ich habe den Eindruck, dass in Japan der Dramaturg zwar als wichtiger kreativer Partner des Künstlers wahrgenommen wird, jedoch nicht als ein fester Bestandteil der Organisation eines Theaters oder Festivals anerkannt wurde, der dort tagtäglich eigene Aufgaben zu erfüllen hat.
Am Mousontum wird die Dramaturgie mit dem englischen Namen „Programme Department“ bezeichnet und ist für die künstlerische Programmierung zuständig. Ich persönlich sehe die Rolle des Dramaturgen darin, einen Prozess zu gestalten und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits geht es um den Prozess der Produktion selbst. Der Dramaturg ist am Schaffensprozess beteiligt, gibt den Künstler*innen Feedback und erarbeitet gemeinsam mit ihnen den Prozess des Erlebens der Vorstellung, also wie die Inszenierung funktioniert und was dem Publikum vermittelt wird.
Die zweite Rolle des Dramaturgen besteht meiner Meinung nach darin, über den Prozess außerhalb der Produktion nachzudenken: die Aufgabe des Theaters, einzelne Beiträge dazu, den Spielplan, der sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzt und die Einwerbung der Fördermittel, dies gemeinsam mit dem Intendanten.
MY: Ich habe bei den Produktionen Toshiki Okadas bei den Münchner Kammerspielen mitgewirkt und dabei ist mir deutlich bewusst geworden, dass der Dramaturg eine Schlüsselrolle bei der Kommunikation sowohl innerhalb des Theaters als auch nach außen hat.
TH: Richtig, kommunizieren und verhandeln. Im Theater sind die einzelnen Abteilungen unabhängig sowohl jeweils in ihren Bereichen spezialisiert und sie diskutieren immer offen miteinander. Das Theater und vor allem der Dramaturg sind ständig in zahlreiche Prozesse eingebunden – sei es die Kommunikation mit dem Publikum, den Aufbau der Beziehungen zur Stadt Frankfurt und ihrer Geschichte oder den kunstgeschichtlichen Bezug.
MY: Du sprichst ausgezeichnet Deutsch, andererseits bist du für den Mousonturm jemand, der von außen kommt und irgendwann wieder weggehen wird. Wie läuft die tägliche Kommunikation so ab?
TH: Bevor ich diese Arbeit angetreten habe, war ich für Projekte von Akira Takayama in Deutschland zuständig, das war kein „Alltag“. Jetzt dagegen bin ich Mitglied des Teams des Theaters. Ich bin der einzige aus Asien unter einer überwältigenden Mehrheit von Weißen und der Einzige, der sich mit der deutschen Sprache noch schwertut. Aber ich bin sehr dankbar, dass die Kolleg*innen mich nicht als Gast behandeln, sondern ich immer auf Augenhöhe mitdiskutieren kann. Ich bereue oft, dass ich früher nicht noch mehr Deutsch gelernt habe, aber nach meinem Empfinden ist es nicht wichtig, dass ich so fließend Deutsch spreche wie ein Muttersprachler, sondern es geht um Ausdrücke oder Formulierungen, die nur von mir stammen können. Entscheidend ist, dass man lebt und arbeitet, ohne seine eigene Souveränität zu verlieren.
Theater als Institution
MY: Ich habe gehört, dass dein erstes Projekt sehr interessant und spannend war.
TH: Ja. Das war Rechte Räume, ein Projekt von Architekt*innen, die in Europa sehr umfassend untersucht haben, wie sich rechte Politiker und Bewegungen in der Vergangenheit bis heute Architektur politisch zu Nutze gemacht haben. Auf Grundlage der Studie wurden dann Stadtspaziergänge und Diskussionen veranstaltet. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Nationalsozialisten Architektur für politische Zwecke benutzt haben, aber auch heute engagieren sich rechte Politiker und Aktivisten aktiv für Renovierungs- und Rekonstruktionsprojekte von Gebäuden oder des Stadtbilds, ausgehend von dem Wunsch, das „gute alte“ Deutschland wieder herzustellen. Die Frankfurter Version des Projekts wurde im September 2019 im Rahmen des Eröffnungsfestivals der neuen Spielzeit durchgeführt. Thema des Festivals mit dem Titel Unfuck My Future – How To Live Together in Europe war die Zukunft Europas. Die Veranstaltung bestand aus einer Busfahrt und einem Rundgang durch die Stadt, Vorträgen an den tatsächlichen Gebäuden über deren Beziehung zur Politik früher sowie heute und Erläuterungen zum Hergang der Renovierung der Frankfurter Altstadt. Da sich das Projekt kritisch mit rechten Politikern und Aktivisten auseinandersetzte, war zu erwarten, dass es von den betreffenden Personenkreisen angegriffen oder kritisiert werden würde. Ich habe mich gefreut, dass mir dieses Projekt übertragen wurde, einem Ausländer, der erst seit kurzem in Deutschland wohnte. Ich selbst habe viel aus diesem Projekt gelernt.
MY: Warst du alleine für das Projekt zuständig?
TH: Nein, auch bei diesem Projekt wurde ein Team aus einem Mitarbeiter aus der Dramaturgie- und einem Mitarbeiter aus der Produktionsabteilung gebildet. Es wird stets darauf geachtet, dass innerhalb des Hauses mehrere Perspektiven eingebracht werden und die Mitarbeiter*innen miteinander über die Inhalte, das Budget und die Realisierbarkeit reden können. Ich habe mit einem hervorragenden Kollegen zusammengearbeitet, der Erfahrung mit Projekten im öffentlichen Raum hatte. Er hat u.a. den Bus für die Rundfahrt organisiert, die Genehmigungen für die Nutzung der Straßen und Gebäude beantragt, während ich für die inhaltlichen Fragen zuständig war.
MY: Ein praktischer Ansatz also. Wenn es Probleme gibt, kann man sich sofort miteinander beraten.
TH: Es lastet nicht alles auf einem alleine und man kann sich immer austauschen. Dadurch wird auch die interne Transparenz und Offenheit gewährleistet. Was den Inhalt angeht, so habe ich in den Besprechungen mit den anderen Dramaturg*innen und dem Intendanten Bericht erstattet und Feedback erhalten. Dieses Projekt war zuvor auch schon in anderen Städten durchgeführt worden, dort aber auf Rundgänge/-fahrten beschränkt. In Frankfurt dagegen haben wir am zweiten Tag – dem letzten Veranstaltungstag – nach Abschluss des Rundgangs zusätzlich ein Symposium veranstaltet. Wir begannen mit einer 4-stündigen Bustour von 11-15 Uhr, dann folgte eine Stunde Pause, an die sich von 16-20 Uhr ein 4-stündiges Symposium anschloss.
MY: Also kein Post-Talk von einer Stunde, sondern ihr wolltet euch wenn schon, dann auch konsequent mit dem Thema auseinandersetzen.
TH: Einige Expert*innen waren bei den Stadtspaziergängen nicht dabei, sondern wurden extra zum Symposium eingeladen. Dabei haben wir vieles über die Entwicklung und die Hintergründe des Projekts, die derzeitige Situation nicht nur in Frankfurt, sondern auch in anderen deutschen Städten und europäischen Ländern gelernt. Am Ende des Symposiums fand noch eine Frage-Antwort-Runde mit dem Publikum statt. Es gab zwar Bedenken, dass die Rechten das Wort ergreifen würden und die Lage außer Kontrolle geraten könnte, aber nachdem wir das intern diskutiert hatten, beschlossen wir, die Diskussion voll durchzuziehen.
Wie erwartet gab es bereits vor dem ersten Veranstaltungstag einige Initiativen bei den rechten Aktivisten, aber wir sprachen zu keinem Zeitpunkt davon, die Veranstaltung abzusagen, weil die Sicherheit vielleicht nicht gewährleistet werden könnte oder weil man politisch neutral bleiben müsse. Wir berieten uns mit dem Rechtsberater des Theaters und besprachen im Voraus, welche Maßnahmen wir ergreifen könnten, wenn etwas passieren sollte. Danach stimmten wir uns auch mit dem privaten Sicherheitsdienst, den wir engagiert hatten, über das Vorgehen ab. Auf dieser Grundlage haben wir die Veranstaltung dann wie geplant durchgeführt.
MY: Waren am Veranstaltungstag auch Leute des privaten Sicherheitsunternehmens anwesend?
TH: Ja. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Auch bei Musikveranstaltungen oder ähnlichen Events werden mitunter Sicherheitsfirmen beauftragt. Mit der Polizei berät man sich in solchen Fällen nicht. Weshalb das so ist, habe ich selbst zwar nicht extra nachgeprüft, aber die Polizei ist ein Organ der öffentlichen Gewalt. Wenn Polizisten das Theater betreten, würde damit die Autonomie des Theaters verletzt. Wenn man sich von der Polizei abhängig machen würde, würde damit der Freiraum für die Kunst, sich kritisch mit der Gesellschaft oder der Politik auseinanderzusetzen, deutlich eingeengt.
Der Mousonturm selbst ist hier mit einem öffentlichen Theater der Stadt Frankfurt vergleichbar. Für mich war es beeindruckend, dass alle Mitarbeiter*innen, angefangen beim Intendanten, ein gemeinsames Bewusstsein dafür haben, wo und wie die Trennungslinie zu ziehen ist, um auch als öffentliches Theater Kritik an Politik und öffentlicher Gewalt üben zu können. Je nach Haus mag das unterschiedlich gehandhabt werden, aber bei uns wurde der größte Wert einerseits natürlich darauf gelegt, die Sicherheit des Publikums und der Mitarbeiter*innen zu gewährleisten. Gleichzeitig aber auch darauf, wie wir es schaffen können, dass Menschen mit völlig unterschiedlichen Anschauungen sich begegnen und vor den jeweils Andersdenkenden offen denken, sprechen und diskutieren können. Dabei habe ich gespürt, dass ein Sinn eines öffentlichen Theaters gerade darin besteht, einen Raum dafür bereitzustellen.
Am Veranstaltungstag selbst kam es bereits vor dem Symposium zu kleineren Krawallen und in der Frage-Antwort-Runde äußerten sich Personen mit extrem unterschiedlichen Standpunkten. Es kam nicht nur zwischen Publikum und Podium, sondern auch zwischen den Zuschauer*innen untereinander zu heftigen Diskussionen. Letztendlich haben weder Matthias, der Intendant, noch ich, noch irgendwelche Kolleg*innen, die im Zuschauerraum waren, auch nur ein Wort gesagt. Wir konnten die Diskussion ganz dem Projektteam auf der Bühne und dem Publikum überlassen.
MY: Hattet ihr euch denn abgesprochen, dass von Seiten des Theaters niemand etwas sagt?
TH: Nein, das war weder geplant noch abgesprochen. Das stand jedem frei. Selbst wenn ich unbedingt etwas hätte sagen wollen und mich zu Wort gemeldet hätte, hätte mich sicher niemand zurückgehalten. Nur weil ich im Theater arbeite, kann mich niemand dazu zwingen, etwas zu sagen oder mich umgekehrt davon abhalten, etwas zu sagen. Wir hatten auch nicht verabredet, dass wir den Mund halten. Ich denke, dass einfach jede*r von uns für sich dachte, es sei besser, die Diskussion im Zuschauerraum stattfinden zu lassen.
MY: Das heißt, es bestand von Anfang an ein Einvernehmen unter euch, dass es wichtig sei, dass sich im Publikum ganz natürlich eine Diskussion entwickelt.
TH: Es wurde zwar nicht explizit ausgesprochen, aber ich denke, dass wir diese Einstellung grundsätzlich teilten, denn das war der Grund, weshalb wir ursprünglich beschlossen hatten, das Symposium zu veranstalten und eine Frage-Antwort-Runde einzubauen. Nach Ende des Symposiums haben sich die rechten Aktivisten und der Projektleiter auch gegenseitig begrüßt, Hände geschüttelt und Visitenkarten ausgetauscht. Wie es danach weiterging, weiß ich nicht. Man hat sich zwar auch gegenseitig beschimpft, aber es wurde niemand gewalttätig und das Sicherheitspersonal musste nicht eingreifen.
Von diesem ersten Projekt, für das ich zuständig war, habe ich unglaublich viel gelernt. Heutzutage kommt außerhalb des Theaters eine Kommunikation von Menschen mit unterschiedlichen Ansichten nur schwer zustande. Das zeigt sich sehr deutlich in den Sozialen Medien. Dort schließen sich unweigerlich immer Menschen mit den gleichen Ansichten zusammen - andere Meinungen werden häufig einseitig angegriffen und verurteilt. Das erschwert Begegnungen, bei denen Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen am selben Ort zusammenkommen und sich jeweils die Ansichten des anderen anhören. Es erfordert entsprechende Vorbereitungen, um einen Ort zu schaffen, an dem eine solche Kommunikation entstehen kann, und es kostet auch Zeit und Geld. Gerade deshalb sollten Institutionen wie öffentliche Theater diese Aufgabe übernehmen. Für die Einzelnen ist das Risiko zu groß und die Möglichkeiten begrenzt. Öffentliche Theater haben die Ressourcen und die Zeit, um einen entsprechenden Rahmen bereitzustellen. Durch diese Erfahrung ist mir diese Rolle bzw. Möglichkeit der Institutionen erneut bewusst geworden.
Kreativer Umgang mit den Einschränkungen, die wegen der Pandemie erlassen werden
MY: 2020 wurden die Theater dann wegen der Ausbreitung des Coronavirus geschlossen.
TH: Ja, im März schlossen alle Theater, und wir konnten auch nicht mehr im Theater arbeiten. Die geplanten Aufführungen wurden abgesagt bzw. verschoben und auch unsere Arbeitsweise änderte sich. Parallel dazu haben wir im Team gemeinsam besprochen, was für Möglichkeiten wir unter der derzeitigen Situation hätten, auch bei geschlossenen Theatertüren etwas zu kreieren, was für Arbeiten man mit digitalen Plattformen und mit welchen Künstler*innen schaffen könnte – Musikveranstaltungen, Performances oder Diskussionen.
Ich persönlich hatte bis dahin zu Hause Japanisch gesprochen sowie gehört und Deutsch, wenn ich das Haus verließ. Sowohl meine Arbeit als auch das Theater hatten sich bis dahin außerhalb meiner Wohnung abgespielt. Dann verlagerten sich das Arbeiten und das Ansehen der Vorstellungen ins Haus und da auch die Schulen geschlossen wurden, machte ich mit meinem Kind Homeschooling. Daraus ergab sich eine ganz neue Mischung meines privaten und öffentlichen Lebens sowie der Sprachen. Ich erinnere mich, dass mich das anfangs wirklich hart ankam.
MY: Bei einem Online-Treffen von ON-PAM (Open Network for Performing Arts Management) sagtest du, dass du die Regeln, die unter der Pandemie verhängt wurden, einhältst, dies aber auch als Chance für ein Umdenken siehst und weiter verhandeln willst.
TH: Ja, das war das Symposium im Juni 2020. Ich stelle auch jetzt wieder fest, dass alle Kolleg*innen des Mousonturms die grundsätzliche Einstellung haben, dass man – egal worum es sich handelt – nichts anderen überlassen oder übertragen sollte, sondern selbst nachdenken und kreativ entscheiden muss. Es geht nicht darum, Regeln zu befolgen, weil es sie gibt und ein Theater schließt, weil einem befohlen wird zu schließen. Natürlich befolgen wir die Regeln und schließen das Theater, aber damit ist die Sache für uns nicht erledigt. Wir versuchen, eine kreative Reaktion auf die Situation zu finden. Wir lassen unsere Energie und Kraft keinesfalls verpuffen und geben sie auch nicht ab, sondern wir denken darüber nach, was man gerade in einer solchen Situation an Neuem und Interessantem schaffen könnte. Auch am Anfang der Corona-Pandemie hat sich das gesamte Team zusammengesetzt und im Dialog mit den Künstler*innen über verschiedene neue Formate beraten.
Das anschaulichste Beispiel war die Einrichtung eines weiteren Theaters innerhalb des Theaters, in dem die Corona Maßnahmen umgesetzt wurden. Wir beauftragten Raumlabor Berlin und Barbara Ehnes damit und nennen dieses Theater im Theater einfach BAU. Auslöser für den BAU war, dass Matthias sich daran erinnerte, dass in den 90er Jahren der Bühnenbildner Bert Neumann ein Theater im Theater mit dem Namen „New Globe“ geschaffen hatte. Das Publikum sitzt in Doppellogen, von denen es 19 gibt, d.h. insgesamt passen 38 Zuschauer*innen in den BAU. In den Logen darf man die Masken absetzen. Bestellungen von Speisen und Getränken einschließlich Alkohol werden von den Mitarbeiter*innen des Theater LOKALs an der Loge aufgenommen und in die Loge gebracht. Im Sommer 2021 haben wir dann ein Freilichttheater eröffnet, das wir „SOMMERBAU“ nannten.
MY: Auch, wenn neue Regeln erlassen werden, habt ihr also den Mut zu sagen: wenn wir sie schon befolgen, dann wollen wir daraus auch etwas Neues schaffen.
TH: Ein*e Künstler*in ist meiner Ansicht nach jemand, der/die Dinge hervorbringt, an denen es dieser Gesellschaft mangelt. Auch Theaterhäuser wie der Mousonturm sind hier gefordert. Wenn die Gesellschaft uns neue Regeln auferlegt, werden wir auf den Prüfstand gestellt, ob wir es schaffen, nicht nur die Regeln zu befolgen, sondern darauf mit anderen Perspektiven und Kreativität zu reagieren. Es wäre schön, wenn man diese Aufgabe nicht nur den Künstler*innen und ihren Projekten überließe, sondern wenn jede*r Einzelne sich ständig kreativ mit den Mechanismen der Gesellschaft auseinandersetzen würde und unerwartete Antworten geben könnte.
Stimme als Medium
MY: Projekte im Freien kann man ja auch unter Corona durchführen.
TH: In der Corona-Pandemie habe ich zusammen mit Anna Wagner, der Dramaturgin des Mousonturms, ein Stück des Medienkollektivs LIGNA realisiert. Zerstreuung überall! war Teil von LIGNAs Projekt Radioballett, das sie schon länger fortsetzen. In Zeiten, in denen die Künstler nicht über Ländergrenzen hinweg reisen können, haben wir Choreografinnen und Choreografen aus aller Welt gebeten, uns Tonaufnahmen von Choreografieanweisungen, die ihnen unter Corona einfallen, zu schicken. Daraus haben wir dann eine Sammlung zusammengestellt. Die Zuschauer*innen hören über Kopfhörer die Stimmen und tanzen - unter Einhaltung der Abstandsregeln – im öffentlichen Raum. Jede einzelne Choreografieanweisung schien mehr oder weniger in Zusammenhang mit dem jeweiligen Land und der jeweiligen lokalen Corona-Situation zu stehen. Die Teilnehmenden tanzten in Frankfurt nach den Anweisungen von Künstler*innen aus Brasilien, Großbritannien und Israel, wo die Lage ernster war als in Deutschland, aber auch aus den Philippinen oder Südkorea. So konnten sich die Teilnehmenden auf anderem Wege als durch die Nachrichten, nämlich mit dem eigenen Körper, eine Vorstellung von der Corona-Situation in den jeweiligen Ländern machen. Aus Japan hat Yuya Tsukahara von contact Gonzo mitgewirkt.
MY: Ich finde den Ansatz interessant, keine Videos, sondern das Medium Stimme einzusetzen.
TH: Es war ein schönes Projekt, das auch in Zürich, Basel, Berlin und weiteren Städten aufgeführt wurde. In Japan scheint man sich infolge der Ausbreitung des Coronavirus mehr auf Videostreamings und Videoproduktionen von Bühnenstücken verlegt zu haben. LIGNAs Konzept besteht darin, Stimmen von Menschen zu hören, die man aufgrund der Entfernung nicht treffen kann. Durch den Einsatz von Medien hat man dem Ganzen dann die Form eines kollektiven Tanzes bzw. einer Performance gegeben. Wichtig war dabei, dass man sich keiner bestehenden Formen bedient, sondern neue Formate aufzuzeigen, um die Stimmen, die man nicht hören kann, hörbar zu machen.
Ein weiteres Projekt, bei dem Stimmen zum Einsatz kamen, war Hölderlin Heterotopia, das wir im Rahmen der Veranstaltungen zum 250. Geburtstag des deutschen Dichters Friedrich Hölderlin realisiert haben. Es ist eine Arbeit von Akira Takayama, an der ich im Dreierteam mit dem Intendanten Matthias Pees und dem Dramaturgen Marcus Droß mitgearbeitet habe. Wir haben eine Smartphone-App entwickelt, mit der man auf dem 22 km langen Hölderlin-Pfad zwischen Frankfurt und dem nahe gelegenen Bad Homburg, auf dem Hölderlin einst wanderte, um seine Liebste zu treffen, entlangspaziert und dabei Texte von Schriftsteller*innen aus aller Welt hören kann.
Das Projekt war bereits vor Corona geplant gewesen und da die Nutzer*innen der App alleine den Pfad entlangwandern und unterwegs den Stimmen lauschen können, während sie sich die Landschaft ansehen, die sich vor ihren Augen eröffnet, konnten wir das Projekt auch in der Corona-Pandemie fortsetzen. Wir konnten dafür grandiose Schriftsteller*innen wie Elfriede Jelinek, Alexander Kluge, Navid Kermani, Deniz Utlu, Helene Hegemann und viele weitere Autor*innen gewinnen. Aus Japan war Keijiro Suga dabei, der extra für dieses Projekt eine neue Kurzgeschichte über das Thema „Gehen“ schrieb.
Die Texte der Autor*innen wurden von Schauspieler*innen gelesen und Hölderlins Gedichte, die man an anderen Orten hören konnte, von ehemaligen Geflüchteten, die einige Jahre zuvor aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und dem Iran nach Frankfurt gekommen waren.
Die Kommunikation, die der Dramaturg übernimmt
MY: Worauf achtest du als Dramaturg, also als Kommunikator, am meisten?
TH: Bei meiner Arbeit als Dramaturg habe ich schon immer mit den unterschiedlichsten Menschen kommuniziert. Ich hatte Gelegenheit, nicht nur mit Autor*innen und Architekt*innen, sondern auch mit mehreren hundert Rapper*innen aus Frankfurt und dem nahe gelegenen Offenbach zu sprechen. Das war in Zusammenhang mit einem Hip-Hop Projekt von Akira Takayama im Dezember 2019 mit dem Titel WAGNER PROJECT – Die Meistersinger von Nürnberg. Die McDonald’s Radio University wurde mit Geflüchteten gestaltet, die in Frankfurt gelandet waren. Darüber hinaus ist natürlich auch die Kommunikation mit dem Publikum sehr wichtig.
Wenn mich jemand nach der Bedeutung oder dem Sinn eines Projekts fragt, bemühe ich mich immer, Worte zu entdecken oder zu erfinden, um mich der jeweiligen Person verständlich zu machen. Voraussetzung dafür ist ein absoluter Respekt gegenüber der Arbeit und den Künstler*innen. Sich etwas Neues auszudenken und umzusetzen ist eine großartige Sache der Künstler*innen. Daran denke ich immer, jedes Mal wieder. Das ist etwas, wozu ich selbst nie in der Lage wäre. Demgegenüber habe ich zunächst einmal absoluten Respekt.
Gleichzeitig überlege ich, weshalb dies oder jenes Projekt für mich selbst wichtig ist, weshalb es für das Theater, an dem ich arbeite, für die Stadt, in der ich lebe, wichtig ist. Es kommt nicht darauf an, stellvertretend für die Künstler*innen zu sprechen, sondern darauf, mehrere Standpunkte zu formulieren und diverse Perspektiven zu eröffnen. Wichtig ist dabei auch, dass man sich selbst nicht verliert.
MY: Genau!
TH: Man darf sich auch nicht nur an der eigenen Meinung orientieren. Es ist wichtig, dass man – sofern man an einer Institution arbeitet – auch Aspekte wie die Mission und die Couleur dieser Institution berücksichtigt. Wenn es einem gelingt, eine klare Vorstellung davon zu gewinnen, was die Institution anstrebt, was die Künstler*innen anstreben und was man selbst zwischen diesen Akteuren als Individuum denkt, dann bin ich sicher, dass dies auch das Publikum und die Künstler*innen erreicht.
MY: Es muss irgendetwas geben, dass dies möglich macht. Du hast das persönlich am eigenen Leibe erlebt und umgesetzt – das ist eine äußerst wertvolle Erfahrung.
TH: Ich habe das Gefühl, dass ich in Deutschland im Alltag wesentlich mehr rede als in Japan. Das hat Vor- und Nachteile, aber sich als Individuum an einem freien öffentlichen Raum zu äußern und mit anderen Menschen Worte zu wechseln, gerade das bildet die Grundlage von Kommunikation. In vielen Situationen habe ich das Gefühl, dass dahinter die Überzeugung steht, dass sich durch Kommunikation Lösungen finden lassen. In anderen Gesellschaften gibt es wieder andere Arten der Kommunikation. Ich glaube nicht, dass die deutsche Vorgehensweise die einzig richtige Lösung ist, aber besonders für mich, der im Bereich der Kunst arbeite, wo es um Praktizierung und Umsetzung eines individuellen Ausdrucks und dessen Teilung mit der Gesellschaft geht, gibt es tagtäglich viel zu lernen.
Wenn ich so zurückblicke, habe ich die Übersetzungsförderung des Goethe-Instituts erhalten und wurde zum Internationalen Forum des Berliner Theatertreffens entsendet. Durch die Ausbreitung des Coronavirus werden möglicherweise weniger Menschen nach Deutschland gehen oder im Ausland studieren wollen. Dennoch gibt es so viele Dinge, die man nur versteht, wenn man vor Ort in ein bestimmtes Umfeld eintaucht. Das, was man vielleicht als Prämisse des Lebens der Menschen an einem Ort bezeichnen könnte, erschließt sich einem meiner Meinung nach Stück für Stück durch die täglichen Kontakte. Insbesondere für Japan würde ich mir wünschen, dass es mehr Menschen gäbe, die im Ausland oder an fremden Orten und in einem ganz anderen Umfeld arbeiten wollen.
Das was ich heute bin, verdanke ich dir, Yamaguchi-san, denn du hast mich immer unterstützt und angespornt. Trotzdem braucht es etwa zehn Jahre, bis so etwas Gestalt annimmt. Seit wir uns zum ersten Mal getroffen haben sind inzwischen 15 Jahre vergangen (lacht), in denen du mich (immer wieder) unterstützt hast. Es ist also nicht so, dass man sofort Ergebnisse sieht. Gerade deshalb zählt jede*r Einzelne, die/der andere fördert und jede*r Einzelne, die/der sich aus dem vertrauten Umfeld hinauswagt. Ich hoffe, dass auch ich irgendwann in einer Position sein werde, aus der heraus ich andere unterstützen und ermutigen kann. Denn das ist sehr wichtig.
MY: Ich finde, es ist anstrengend aber auch spannend, sich zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen zu bewegen. Im Fall von Deutschland habe ich das Gefühl, dass man dort gerne sämtliche Wort-Register zieht.
TH: Ja, das ist wirklich so. Ich habe tagtäglich den Eindruck, dass man damit beginnt, die Voraussetzungen zu erläutern, dann mehrere Meinungen prüft, um dann endlich zu dem zu kommen, was man eigentlich sagen will. Die Meinung anderer wird nicht von vornherein abgelehnt. Man knüpft daran an und selbst wenn man eine Meinung eigentlich ablehnt oder kritisch sieht, wählt man andere Formulierungen. Ich spüre ständig, dass diese Gesellschaft sich hinsichtlich der Menge und der Verwendung der Worte völlig von Japan unterscheidet. In Deutschland leben Migrant*innen, Geflüchtete und viele andere Menschen mit unterschiedlichsten Standpunkten, darum ist es notwendig, die Prämissen zu prüfen. Allerdings denke ich auch, dass es für Menschen, die nicht gerne oder nicht gut reden und von sich aus nicht die Stimme erheben können, in dieser Gesellschaft ziemlich hart ist.
Dagegen teilt man in Japan bereits viele gemeinsame Voraussetzungen (ob das wirklich so ist, bezweifele ich zwar…). Ich habe den Eindruck, dass in Japan über immer mehr Dinge nicht mehr nachgedacht wird und immer mehr Dinge nicht mehr auf den Grund gegangen werden. Fragen wie: Was ist ein öffentliches Theater? Warum werden Steuergelder für Kunst ausgegeben? Was hat Demokratie damit zu tun? usw. Weil die Fragen, die das Fundament der Gesellschaft bilden, nicht tagtäglich wieder von Grund auf in Frage gestellt werden, diskutiert man nur oberflächlich über das „hier und jetzt“. Das führt letztendlich dazu, dass die bestehenden sozialen Verhältnisse nicht erschüttert werden, die Meinung des Stärkeren sich durchsetzt und der Schwächere keine Chance hat.
Wir schaffen gemeinsam eine Gesellschaft und leben darin. Wenn wir nicht ständig essenzielle Fragen erneut auf den Prüfstand stellen, werden die Grundlagen vernachlässigt und eine empathielose Sprache und einseitiges Handeln werden sich sowohl unter den Politiker*innen als auch unter den Bürger*innen ausbreiten. Ich habe das Gefühl, dass das Fundament der Kommunikation fast zusammengebrochen ist. Theater und Kulturinstitutionen sollten sich an seinem Wiederaufbau beteiligen.
Neue Pläne in Okinawa
MY: Nach deiner Rückkehr nach Japan wirst du wieder nach Okinawa gehen.
TH: Ich plane, Ende 2021 nach Japan zurückzugehen und wieder in Okinawa zu arbeiten. Ich war 15 Jahre in Tokyo, danach bin ich nach Naha und von dort nach Frankfurt gezogen. Ich möchte im Kontext von Okinawa darüber nachdenken, was ich dort umsetzen kann, und was ich tun sollte. Welche Projekte sinnvoll und welche praktischen Ansätze wichtig sind – das mag zwar zu einem gewissen Grad verallgemeinerbar sein, aber ich denke, dass die Antwort je nach Geschichte und aktueller Situation der jeweiligen Stadt unterschiedlich ausfallen wird. Außerdem habe ich durch meine jetzige Arbeit in Deutschland erneut festgestellt, dass sich Politik, Wirtschaft und Kunst zu einem gewissen Teil in einem europäischen Kontext bewegen. Vielleicht gibt es Dinge, die ich in Okinawa aus einer asiatischen oder einer asiatisch-pazifischen Perspektive heraus angehen kann.
Kommunikation und neue Begegnungen in der Zukunft
MY: Wie siehst du Kommunikation und die Begegnung mit Fremden in der Zukunft?
TH: Schon vor Corona wurde über die Belastung der Umwelt durch die Mobilität der Menschen diskutiert. Meiner Ansicht nach hat die Einschränkung von extensiver Mobilität insgesamt gesehen auch positive Aspekte, aber man sollte nicht so weit gehen, auf die Mobilität zu verzichten. Sie ermöglicht es Menschen, Neues kennenzulernen und anderen Menschen zu begegnen, wie z.B. Studienaufenthalte im Ausland, Praktika oder Studienreisen. Wenn Corona ein Jahr früher ausgebrochen wäre, hätte ich selbst vielleicht auch mein Vorhaben aufgegeben, nach Deutschland überzusiedeln und dort zu arbeiten. Im Nachhinein betrachtet sind wir in letzter Minute umgezogen, und ich bin wirklich froh, dass ich so die Möglichkeit hatte, die deutsche Theaterszene und die Reaktionen von Politik und Kunst auf Corona von innen heraus zu betrachten.
Außerdem habe ich das Gefühl, dass jetzt, wo wir nicht reisen können, Informationsaustausch noch wichtiger geworden ist. Es wird oft auf die Gefahr hingewiesen, dass Informationen im Internet durch Fake News oder Verschwörungstheorien radikale Handlungen hervorrufen können. Gerade deshalb ist es umso wichtiger, Informationen in Umlauf zu bringen, die auf Werten wie Demokratie, Gleichheit, Diversität und Toleranz basieren.
Das Goethe-Institut Tokyo z.B. hat sehr früh damit begonnen, Online-Diskussionen u.ä. über Corona-Maßnahmen oder Kulturpolitik zu veranstalten und damit große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Auch was die Rolle von Wissenschaftler*innen mit speziellem Fachwissen und Fremdsprachenkenntnissen angeht, denke ich, dass es wichtiger geworden ist, dass sie – zusätzlich zu ihrer Rolle als Expert*innen des jeweiligen Fachgebiets – mit ihrer Expertise an der Gesellschaft zu partizipieren. In den Gebieten darstellender Künste oder der Geisteswissenschaften gibt es viele bedeutende Bücher, die noch nicht übersetzt wurden und neue Ansätze, die bisher noch nicht vorgestellt wurden. Gerade jetzt, wo es nicht möglich ist zu reisen und die Dinge vor Ort zu sehen, ergeben sich neue Möglichkeiten, dass Experten oder Institutionen Dinge vorstellen, woraus dann ein Dialog entsteht und die Diskussion vertieft wird. Ich habe vor, auch in Zukunft freiberuflich als Übersetzer zu arbeiten, und ich fände es auch gut, wenn noch mehr Mitarbeiter*innen von Institutionen wie öffentlichen Theatern oder dem Goethe-Institut außerhalb ihrer Arbeitszeit die Zeit nutzen würden, um privat Übersetzungen herauszugeben.
In Deutschland stehen Theater und Kunst in engem Zusammenhang zur aktuellen gesellschaftlichen Situation – seien es Antidiskriminierungsbewegungen, Umweltschutzaktivitäten, das Problem des Aufstiegs der Rechten oder die Barrierefreiheit. Unter dem Einfluss der Corona-Pandemie hat sich die gesellschaftliche Situation weiter verändert, und wir werden wohl nicht mehr zu den Werten vor Corona zurückkehren. Europa ist derzeit dabei, neue Werte auszuarbeiten - Werte wie grün, digital, resilient, usw. Europa wird auf Basis dieser Werte, ob zum Guten oder zum Schlechten, Begriffe und deren praktische Umsetzung in der Welt verbreiten. Was können wir daraus lernen? Welche Aspekte fehlen? Was für eine Beziehung können wir über die asiatische und die japanische Kunst dazu aufbauen? Während wir die hinter der europäischen Praxis stehenden Werte als einen Bezugspunkt heranziehen, sollten wir weiterhin einen kritischen Dialog miteinander führen, um voneinander zu lernen. Wir sollten gemeinsam darauf hinarbeiten, dass neue Ästhetiken und radikal kritische Projekte entstehen und wir eine bessere Gesellschaft und eine bessere Welt verwirklichen können.
Künstler*innen arbeiten über nationale Grenzen hinweg. Aber insbesondere im Hinblick auf die japanische Kunst und Kultur hat der Dialog zwischen Regierungen oder zwischen Institutionen so gut wie noch kaum begonnen. Ich denke, darin liegt eine große Herausforderung für die Zukunft.
MY: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Übersetzung: Ilka Hagiwara
Das Interview wurde am 26.10.2020 online geführt.
Tatsuki Hayashi ist Dramaturg am Künstlerhaus Mousonturm und Übersetzer u.a. von Elfriede Jelinek und Hans-Thies Lehmann. Seine Übersetzung von Jelineks Theatertexten wurde mit dem Yushi-Odashima-Theaterübersetzungspreis ausgezeichnet. Er ist mit Matthias Pees und Hans-Thies Lehmann Herausgeber von „Die Evakuierung des Theaters - Akira Takayamas Rettungsplan für die Rhein-Main-Region” (Alexander Verlag Berlin).