Interview: Oliver Geyer
„Wir brauchen eine neue ökologische Lebenskunst“
Für den Philosophen Andreas Weber haben Tiere, Bäume und sogar Berge ein Bewusstsein. Mit ihnen will er in einer gleichberechtigten Gemeinschaft leben – und so auch das Klima retten.
Andreas Weber: Ganz zentral ist das Prinzip der Gegenseitigkeit, verstanden als Beziehungsfähigkeit des Menschen in einem weit gesteckten Sinne: nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit den anderen Lebewesen und Organismen der Erde. Ich möchte, dass wir uns wieder als Teil der Weltlebewesengemeinschaft verstehen und in eine Ökologie der Gegenseitigkeit eintreten, die die Bedürfnisse aller achtet.
Klingt erst mal ziemlich utopisch.
Ihr Satz suggeriert, dass es sich um den schönen Traum von etwas Unmöglichem handelt. Nein, es geht um eine Vision für eine andere Form des Zusammenlebens! Klar ist das eine Utopie. Sie ist aus der Erfahrung geboren, dass wir ein Leitbild brauchen, um etwas zu verändern, das auf schreckliche Weise nicht funktioniert.
Was funktioniert denn Ihrer Meinung nach nicht?
Der Mensch hat sich über alle anderen Organismen der Weltlebewesengemeinschaft gestellt. Er missachtet ihre Bedürfnisse und beutet sie im großen Stil aus. Gegenseitigkeit ist es, was unserer Welt heute in allen Bereichen wohl am meisten fehlt. In der abendländischen Kultur sind wir darauf gepolt, vor allem unseren Eigennutz zu verfolgen und die anderen zu überflügeln, wobei wir sehr fixiert auf unsere eigene Wirkung sind. Viele indigene Kulturen dagegen leben so, dass die ökologische Gegenseitigkeit erhalten bleibt. Deshalb nenne ich das „Indigenialität“: Was wir brauchen, ist eine neue ökologische Lebenskunst, die sich daran orientiert.
„Ich möchte, dass wir unsere emotionale Wahrnehmung der anderen Wesen wieder ernst nehmen“
Viele indigene Menschen haben auch animistische Vorstellungen: Sie treten zu anderen Lebewesen in Kontakt, als wären es Personen, und sie kommunizieren mit Bäumen und Bergen. Sollen wir das auch übernehmen?
Wir im sogenannten Westen neigen dazu, wegen der naturnahen Lebensweise von Indigenen zu übersehen, dass diese Menschen beachtliche intellektuelle Leistungen hervorgebracht haben. Ich denke da etwa an die komplexen oralen Traditionen vieler pazifischer Volksgruppen oder wie dort tagelang ohne technische Hilfsmittel über das offene Meer navigiert wurde. Der Animismus ist nur ein Teil dieser Kulturen. Und tatsächlich denke ich, dass wir Menschen, die in modernen industrialisierten Nationen leben, eine neue Form von Animismus brauchen, der grundsätzlich anerkennt, dass die anderen Lebewesen eine Art von Bewusstsein haben – meines Erachtens nicht nur die Tiere, sondern auch Pflanzen und sogar Berge. Das basiert auf der einfachen Erkenntnis, dass wir im Grunde nicht anders beschaffen sein können als die uns umgebende Welt. Wir müssen diese Anderen wieder als Subjekte anerkennen und ihnen Gleichberechtigung gewähren.
Einfach nur zurück zu dieser naturverbundenen Lebensweise möchte ich gewiss nicht. Man stellt oft fest, dass es früher doch nicht so toll war, wie man gedacht hat. Ich möchte aber, dass wir unsere emotionale Wahrnehmung der anderen Wesen wieder ernst nehmen. Ich gebe mal ein einfaches Beispiel: Wenn ich mir eine als „biologisch“ gelabelte, aber immer noch industrielle Hühnerhaltung ansehe, die darauf aus ist, Hühner als Produkt massenweise zu vermehren und zu verkaufen, dann weiß ich sofort, dass es diesen Lebewesen damit nicht gut geht. Wir brauchen diese Wahrnehmung, um den gemeinsam bewohnten Kosmos fruchtbar zu erhalten.
Wenn Sie sich die Umweltbewegung ansehen oder Fridays for Future und neue Modelle für nachhaltige Kreislaufwirtschaft – geht das für Sie schon in die richtige Richtung?
Nur zum Teil. Meines Erachtens stecken diese Bewegungen noch in dem alten Paradigma fest, das Mensch und Nichtmensch, also „die Natur“, voneinander trennt. Paradoxerweise mangelt es gerade dem Nachhaltigkeitsdenken an einer tiefergehenden Wahrnehmung dafür, dass wir in einer einzigen, von allen Lebewesen geteilten Welt leben. Das Wort Nachhaltigkeit kommt ja aus der Forstwirtschaft und bezeichnet die ökonomische Nutzung des Waldes, sodass diese unbegrenzt weiter fortschreiten kann. Dieses Nachhaltigkeitskonzept ist also im Grunde ein Effizienzkonzept und damit lediglich eine gutmeinende Variante ökonomischen Denkens. Gleichzeitig hat gerade Fridays for Future diese Energie der Echtheit, die jungen Menschen zu eigen ist. Aber es herrscht dort eben noch die Sichtweise vor, die Natur sei ein großes Objekt, das wir retten müssen.
„Solange wir Menschen uns im Gegensatz zur Natur sehen, können wir keine wirkliche Gegenseitigkeit und auch keine Solidarität in politischen Belangen aufbauen“
Was ist daran falsch? Muss die Natur Ihrer Ansicht nach nicht gerettet werden?
Dass wir überhaupt von „der Natur“ sprechen, ist für mich Teil des Problems. In Wahrheit ist die sogenannte Natur das lebendige, sich in Gegenseitigkeit entfaltende Ganze, in dem wir ohnehin enthalten sind. Das müssen wir wieder anerkennen. Solange wir Menschen uns im Gegensatz zur Natur sehen, können wir keine wirkliche Gegenseitigkeit und auch keine Solidarität in politischen Belangen aufbauen. Wir bleiben in dem gleichen Dualismus Mensch-Natur verhaftet, der die Natur zu einem Ding macht – einer Sache, die man nutzen, ausbeuten und missbrauchen kann. Übrigens ist wirklich auffällig, dass kein mir bekanntes indigenes Volk je von „der Natur“ spricht.
Ich bin selbst studierter Biologe und möchte das auf keinen Fall abschaffen. Der Naturwissenschaft geht es, richtig verstanden, immer darum, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wie wichtig das ist, sieht man in Corona-Zeiten besonders deutlich. Nur hat sich der naturwissenschaftliche Zugang zur Welt – nämlich durch Messen, Zählen und Beobachten – vollständig kapern lassen von der Ideologie, dass alles, was wir beobachten, Dinge sind. Und ja, sicher hat die Wissenschaft diese Ideologie auch stark mit vorangetrieben. Aber wir betreiben doch Wissenschaft ursprünglich deswegen, weil uns zum Beispiel Tiere anziehen und wir sie als Subjekte wahrgenommen haben. Es war ein großer konzeptueller Fehler der Naturwissenschaft, das völlig auszuklammern. So zeichnet sie das verzerrte Bild einer rein dinglichen Welt.
Die soll man auch unbedingt ernst nehmen, aber man muss den Blick weiten. Der enge Fokus auf Messdaten wie Temperaturanstieg und CO2-Konzentration ist eine Verkürzung und Verkennung des Gegenseitigkeitsaspekts. Dabei ist die Atmosphäre als Raum unseres geteilten Atems der Raum von Gegenseitigkeit schlechthin. Die Klimakrise ist von der ökologischen Krise als ganzer nicht zu trennen. Wenn wir über das Klima reden, müssen wir auch über die Frösche im Regenwald reden. Mit einem stärkeren Bewusstsein für das lebendige Ganze und einem neuen Animismus hätte die Klimabewegung eine noch viel größere Hebelwirkung.
Was sagen Sie zu der Kritik, ein romantisches Bild von naturverbundenen Lebensweisen zu zeichnen? Immerhin gehören ja auch Jäger dazu, die Tiere töten.
Ja, aber gleichzeitig geht es darum, ein sehr behutsames Verhältnis zu anderen Wesen einzurichten und sich um die Fruchtbarkeit des Ganzen zu sorgen – auch in den Mythologien und Riten von Stämmen sieht man, dass sie sich mit ihren Jagdtieren in ein harmonisches Verhältnis setzen wollen, sie sogar um Entschuldigung bitten. Ich romantisiere da nichts. Bei Begriffen wie „romantisch“ oder „Naturromantik“ ist ohnehin Vorsicht geboten. Damit wird im deutschsprachigen Raum die Tatsache, dass es auch einen emotionalen Zugang zur Wahrheit und zur Welt braucht, gerne als sentimental abqualifiziert, sodass alle wieder ungestört zur ökonomischen Verwertungslogik zurückkehren können.
„Würden wir die Erde in ihrer Gesamtheit wahrnehmen, wären wir weniger geneigt, nur an einzelnen Symptomen herumzudoktern“
Wie könnte dieser „neue Animismus“ im Zusammenhang mit dem globalen Thema Klima aussehen?
Von dem amerikanischen Biophysiker James Lovelock stammt die sogenannte Gaia-Hypothese. Demnach kann man die Erde selbst als eine Art großes Lebewesen betrachten, das aus vielen einzelnen selbstorganisierenden Organismen besteht – ein dynamisches System, das sich als Gesamtbiosphäre stabilisiert. Würden wir den Planeten in dieser Gesamtheit wahrnehmen und eine Empathie dafür entwickeln, wären wir weniger geneigt, an einzelnen Symptomen wie dem CO2-Gehalt und dem Temperaturanstieg herumzudoktern. Wir würden das komplexe Krankheitsbild deutlicher erkennen und eine bessere Kooperation mit dem gesamten Leben anstreben.
Jeder kann bei sich selber anfangen. Der europäische Mensch hat mit seinem Imperialismus nicht nur viele Länder und Völker kolonialisiert, in denen der Animismus oft noch lebendiger war. Er hat auch unser Innenleben einer bestimmten dominanten Weltsicht unterworfen. In dieser inneren Kolonialisierung wurde ein zentrales seelisches Vermögen für unmöglich erklärt und bekämpft – nämlich die Fähigkeit, emotional in Kontakt zur Realität zu treten und so zu erfahren, was die Gemeinschaft alles Lebendigen wirklich braucht. Das hat man für wahlweise absurd, utopisch, unsachlich oder sentimental erklärt. Trotzdem gibt es noch Anknüpfungsmöglichkeiten: Die Tierliebe der Menschen ist partiell noch sehr lebendig – sozusagen als animistischer Realbestand, bei dem wir uns das noch erlauben. Auch wenn wir in den Wald gehen, betreten wir diesen Gegenseitigkeitszusammenhang und fühlen uns davon angezogen. Das zeigt, dass der Homo sapiens eigentlich ein Homo biophilos ist, ein das Leben liebender Mensch. Jeder kann diese Intuition bei sich wieder mehr zu Wort kommen zu lassen.
So schmackhaft Sie Ihren Lesern das mit einem Begriff wie „ökologische Lebenskunst“ machen wollen – müssten wir nicht auf viele Annehmlichkeiten verzichten?
Gegenseitigkeit heißt, den anderen und ihren Bedürfnissen mehr Raum zu lassen und uns nicht als Menschen unbegrenzt auf diesem Planeten breitzumachen. Natürlich müssen wir dafür abgeben. Aber es ist doch so: Wenn wir immer weitermachen wie bisher, verlieren wir langfristig noch viel mehr. Und ob der Verzicht so schlimm ist, bezweifle ich. Die meisten Berichte von Kulturen mit Selbstversorgerwirtschaft zeichnen diese als ziemlich zufriedene Menschen. Ihr Leben ist zwar vergleichsweise streng reguliert, aber ihr Glück spricht dafür, dass der Mensch im Grunde auf Kooperation und Rücksichtnahme angelegt ist. Unsere Abweichung davon halte ich für einen kulturellen Irrweg. Zu dieser indigenen Lebenszufriedenheit gehört meines Erachtens auch, dass diese Menschen nicht wie wir vor der Tatsache des Todes und des Leidens davonlaufen, sondern ihren Frieden damit haben. Infolge der Corona-Pandemie sind wir nun ohnehin dazu verdammt, zumindest schon mal gegenüber unseren Artgenossen das Gebot der Gegenseitigkeit mehr zu beachten. Wenn man dem etwas Positives abgewinnen möchte, könnte man sagen: eine gute Übung für einen Wandel, den wir sowieso dringend nötig haben.