Interview mit Petr Štědroň
Das Gespräch mit der Autorin und den Übersetzern eröffnet unbekannte Nuancen

Kick-Off-Meeting - Social Translating
Kick-Off-Meeting - Social Translating | Foto (Screenshot): © Goethe-Institut Korea

Am 1. Oktober 2021 kamen die Autorinnen Ronja Othmann und Judith Hermann sowie die Übersetzer*innen aus zehn verschiedenen Ländern und die Projektmitarbeiterinnen des Goethe-Instituts Korea zum Auftakt der dritten Auflage des Social Translating Projekts zusammen.

Das virtuelle Treffen bot die Gelegenheit, sich kennenzulernen, sich mit der Plattform Lectory, auf der der Diskurs stattfindet, vertraut zu machen und über die beiden Romane Die Sommer von Ronja Othmann und Daheim von Judith Hermann sowie Aspekte der bevorstehenden Arbeit des Übersetzens zu sprechen.
Petr Štědroň hat den Roman Daheim von Judith Hermann bereits ins Tschechische übersetzt. Während seiner Übersetzungsarbeit stand er in regem Austausch mit der Autorin, konnte offene Fragen zum Text diskutieren oder Bezüge klären, die im Roman mal deutlicher, mal weniger deutlich zu Tage treten. Nicht zuletzt bot der Titel des Werks Anlass für Diskussionen. In unserem Interview spricht der in Prag lebende Germanist, Theaterdirektor und Literaturübersetzer über seine Erfahrungen mit verschiedenen Formen des Diskurses während des Übersetzens und darüber, wie wichtig kollegialer Austausch, Wissen aus erster Hand und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Lektorat sind.

Petr, während des Auftakttreffens teilten die beteiligten Übersetzer*innen ihre bisherigen beruflichen Erfahrungen, und bei dieser Gelegenheit hast du die Bedeutung des Austauschs verschiedener Akteure im Rahmen eines Übersetzungsprojekts hervorgehoben. Unter anderem warst du als Übersetzer zahlreicher Theaterstücke namhafter deutschsprachiger Dramatiker, darunter Peter Handke, Roland Schimmelpfennig oder George Tabori, mehrfach Teilnehmer der Übersetzungswerkstätten im Rahmen der Mülheimer Theatertage. Du erwähntest unter anderem den Aspekt des „kollektiven Übersetzens“.

Petr Štědroň © Foto (Detail): © Petr Štědroň Petr Štědroň Foto (Detail): © Petr Štědroň
Petr Štědroň: Es ist schon sehr lange her, ich denke 15 Jahre, und im Rahmen der Mülheimer Theatertage habe ich mit anderen Übersetzern aus verschiedenen Ländern an einer Übersetzerwerkstatt teilgenommen, wo wir uns mit den Texten von Dea Loher beschäftigt haben. Wir haben in einer Gruppe von etwa fünf Leuten Dea Lohers „Unschuld“ übersetzt, einzelne Passagen in jeweils andere Sprachen, und in der Gruppe gemeinsam die problematischen Stellen besprochen und versucht zu lösen. Die Autorin war auch dabei – und es war wirklich sehr nutzbringend, über die Probleme und Lösungen sprechen zu dürfen, sie formuliert zu bekommen. Die gleichen und sehr positiven Erfahrungen hatte ich aus dem Übersetzeraustausch im Rahmen des LCB, des Literarischen Colloquiums Berlin. Trotz der unterschiedlichen Sprachen fühlt man den gleichen Gedankenstrang, stellt sich die gleichen Fragen und versucht sie diesmal gemeinsam zu beantworten.

Demgegenüber erstreckt sich der Diskurs des Social Translating über den gesamten Übersetzungsprozess, aber es fehlen ihm die persönlichen Begegnungen während der Arbeit. Welche Vorteile, aber auch welche Herausforderungen siehst du in dieser Form des Austauschs? Könnte zum Beispiel der Austausch auf der digitalen Plattform zu einem tieferen Verständnis eines Werkes führen und sich damit auch auf die Qualität einer Übersetzung auswirken?

Petr Štědroň: Der Austausch auf der digitalen Plattform kann sicher zu einem tieferen Verständnis des übersetzten Werkes führen. Man hat einfach als Übersetzer die Möglichkeit, in die Gedankenwelt des Autors sicherer zu schlüpfen, man kann Erkenntnisse, Gefühle und die Unbekannten mit anderen konsultieren und dann natürlich viel besser lösen. Und der andere Aspekt ist natürlich auch sozial – man lernt neue Leute, Kulturen, Vorgehensweisen kennen, für mich ist dabei immer auch erstaunlich, welche Literatur von wem und wo übersetzt wird – kurz gesagt, es ist wirklich sehr synergetisch und vielseitig bereichernd.
Produktionsteam des Prager Theaterfestivals deutscher Sprache.
Produktionsteam des Prager Theaterfestivals deutscher Sprache. | Foto (Detail): © Petr Štědroň
Neben dem kollegialen Austausch ist es von unschätzbarem Wert, wenn sich der/die Übersetzer/in mit dem Autor/der Autorin selbst austauschen kann oder mit jemandem, der/die das Werk kennt und es in Kontexte zu stellen weiß und Bezüge klar erkennt. Wie sind da deine Erfahrungen?

Petr Štědroň: Dazu habe ich eine sehr konkrete, neuerliche Erfahrung. Ich habe vor kurzem das Theaterstück „Zdeněk Adamec“ von Peter Handke übersetzt – es war während des Covid-Lockdowns und ich habe beim Übersetzen den fast täglichen telefonischen oder Netzkontakt mit dem Dramaturgen am Deutschen Theater (DT) Berlin Tilman Raabke genossen. Die haben nämlich zur gleichen Zeit den deutschen Text von Handke am DT in der Regie von Jossi Wieler inszeniert, und unsere Gespräche mit Tilman haben uns sicher gegenseitig bereichert. Es ging natürlich nicht um bloßes Verstehen des Textes von Handke, sondern um seine weitreichenden Bezüge und deren Entschlüsselung – ich denke, es war für uns beide wirklich sehr nützlich, über den Text intensiv sprechen zu dürfen.

Eine häufig unterschätzte Herausforderung stellt der Titel eines Werks dar. Judith Hermanns „Daheim“ ist eine solche Herausforderung. Während des Auftakttreffens sprach Judith Hermann selbst über Findung, Zweifel und Bedeutungsebenen des Titels. Welche Lösungen hast du mit ihr diskutieren können?

Petr Štědroň: Es ging um den Roman und dessen Titel „Daheim“, was eigentlich ein eher ungebräuchliches Wort ist, eher im süddeutschen Raum oder Österreich gebräuchlich, das Wort kommt übrigens und nicht ohne Grund im Buch kein einziges Mal vor, es ist halt ein „inneres Zuhause“, ein Ort, der nicht verortet ist, „Daheim“ ist in diesem Falle eben nicht gleich „Zuhause“. Im Tschechischen gibt es mehrere Möglichkeiten, wie man diese Tatsachen ausdrücken kann – unkonkret, aber wiederum auch konkret und richtungsweisend. Und wir haben gerade beim Social Translating, nicht nur ich, sondern auch andere Übersetzer aus völlig unterschiedlichem Kulturkontext, die gleiche Unsicherheit an Judith Hermann herangetragen, und sie hat uns dazu, und nicht nur dazu, ihren sehr erschöpfenden Kommentar gegeben. Man sagt zwar manchmal, das Werk sei klüger als der Autor selbst, das Gespräch mit der Autorin und den Übersetzern erklärt jedoch einfach mehrere und weitere Schichten des Werkes, eröffnet unbekannte Nuancen.
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