Fluter-Gespräch mit Ronya Othmann
„Viele hatten noch nie von den Jesiden gehört“
Ronya Othmann erzählt im Roman „Die Sommer” von der Vernichtung eines jesidischen Dorfes. Was hat das mit ihr und Deutschland zu tun?
In ihrem Debütroman „Die Sommer“ erzählt die Autorin und „taz“-Kolumnistin Ronya Othmann, 27, von einer jungen Frau namens Leyla, die – genau wie Othmann – in der Nähe von München aufwächst, die Sommerferien aber bei der Familie ihres kurdisch-jesidischen Vaters in einem Dorf in Nordsyrien verbringt. Das idyllische Dorfleben mit der Großmutter als Dreh- und Angelpunkt endet plötzlich, als 2014 der sogenannte Islamische Staat (IS) in das Gebiet einfällt. Die Terrororganisation hält Jesiden für gottlose Teufelsanbeter, Tausende werden ermordet, vergewaltigt oder verschleppt. Leyla, die von Deutschland aus nur Nachrichten schauen kann, kommt sich zunehmend machtlos vor – und will etwas tun. Wir haben mit Othmann darüber gesprochen, was die Figur Leyla mit ihr selbst zu tun hat und ob sie eine Chance sieht, dass die Jesiden irgendwann wieder in Frieden in ihrer angestammten Region leben können.
fluter.de: Ein markanter Satz in deinem Buch stammt von Leylas Vater, der angesichts der Nachrichten zum Genozid an den Jesiden 2014 sagt: „Es ist seltsam, aber zum ersten Mal wissen die Deutschen, wer wir sind.“ Hast du das Gefühl, dass das stimmt?
Ronya Othmann: Sie wissen nun zumindest, dass wir existieren. Vor dem Genozid hatten viele noch nie von den Jesiden gehört. Heute können sich viele an die Bilder von 2014 erinnern, als der IS in Shingal im Irak Massaker anrichtete. Es ist sozusagen eine traurige Berühmtheit. Das heißt aber nicht unbedingt, dass jetzt jeder weiß, wer oder was Jesiden sind – viele denken weiterhin, es handele sich dabei um eine christliche oder islamische Sekte, was beides nicht stimmt. Dabei gibt es in Deutschland die größte jesidische Diaspora-Community.
In deinem Text „Vierundsiebzig“, der 2019 mit dem Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet wurde, hattest du dich dem Thema schon mal angenähert – aus einer nonfiktionalen Ich-Perspektive. In „Die Sommer“ hast du dich mit Leyla für eine fiktionale Protagonistin entschieden – wobei sich eure Biografien in groben Zügen decken. Warum diese Entscheidung?
Ronya Othmann: In „Vierundsiebzig“ habe ich von eigenen Eindrücken berichtet, die ich bei einer Reise in den Irak und die Camps gesammelt habe, in denen viele Jesiden heute leben. Das war sehr heftig, sehr nah, das konnte ich gar nicht fiktionalisieren. Das Buch hatte ich bereits vorher geschrieben, es handelt viel von Erinnerungen an die jesidischen Dörfer, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Hier wollte ich eher eine beobachtende Figur, die den anderen Figuren Luft lässt, ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Als Leyla in Deutschland vom Genozid an den Jesiden hört, fühlt sie sich machtlos und auch schuldig, weil sie dem Ganzen nur zusehen kann. Wie bist du selbst damals mit dieser Ohnmacht umgegangen?
Ronya Othmann: Es ging mir durchaus ähnlich. Alle waren geschockt von den Bildern, gleichzeitig empfanden viele in der Diaspora natürlich auch eine Form von Scham, weil wir uns das alles sozusagen aus der sicheren Distanz angesehen haben. Und klar, man konnte auch in Deutschland demonstrieren gehen, auf den Genozid aufmerksam machen oder Geld sammeln – aber wirklich etwas ändern konnte man einfach nicht. Ich habe mich dann hauptsächlich darauf konzentriert, all die Meldungen und Details zu sammeln, um mir und anderen ein Bild der Lage vor Ort machen zu können.
„Männer sind gestorben, Frauen wurden vergewaltigt, Friedhöfe zerstört. Wer konnte, ist geflohen. Es gibt kein jesidisches Leben mehr in diesem Dorf“
Der Vater rät Leyla im Buch schon vorher, niemandem genau zu erzählen, wo sie hinfährt, wenn sie ihre Großeltern besucht. Hat man als Jeside oder Kurde in Deutschland Grund, sich zu fürchten oder seine Identität geheim zu halten?
Ronya Othmann: Der Rat des Vaters bezieht sich eigentlich auf die Reise selbst, also dass sie in der Türkei und Syrien lieber niemandem erzählen solle, wohin sie fährt, eben weil Jesiden und Kurden in der Region eher auf Ablehnung stoßen. Aber natürlich ist das auch in Deutschland ein Problem. Salafisten und IS-Sympathisanten haben Jesiden hier bereits 2014 angegriffen, die Angriffe der türkischen rechtsextremen Grauen Wölfe sind nichts Neues. Was nun dazukommt, sind die IS-Rückkehrer: Mittlerweile befinden sich ja nicht nur viele Opfer, sondern auch viele Täter in Deutschland.
Die große Katastrophe in deinem Buch ist der Genozid im Jahr 2014. Durch ihn scheint das kleine Dorf, in dem Leyla jeden Sommer verbracht hat, für immer verschwunden. Die Entwicklung in der Region ging aber weiter: Der IS ist – zumindest in seiner damaligen Form – Geschichte, und große Teile Nordsyriens standen danach unter kurdischer Verwaltung. Wie findet man den Ausstieg, wenn man ein Buch schreibt?
Ronya Othmann: Natürlich hätte ich auch die Entwicklung bis zum heutigen Tag einbringen können, die Jahre seit 2014 haben ja noch einmal sehr viele Veränderungen in Nordsyrien gebracht. Dennoch kann man festhalten, dass die Geschichte dieses jesidischen Dorfes – das es ja wirklich gibt, in dem ich selbst Teile meiner Sommerferien verbracht habe – zu Ende ist. Nicht nur dieses Dorfes, sondern der gesamten Region. Viele Männer sind gestorben, Frauen wurden vergewaltigt, Friedhöfe zerstört. Wer konnte, ist geflohen. Es gibt dort also schlicht kein jesidisches Leben mehr. Die Dorfnormalität, die ich im Buch beschreibe, wird in absehbarer Zeit nicht zurückkehren. Genau die wollte ich noch einmal aufgeschrieben haben.
Worin besteht gerade die Perspektive für die Menschen vor Ort? Und inwiefern kann ein Land wie Deutschland helfen, dort wieder etwas aufzubauen?
Ronya Othmann: Zum einen braucht es Stabilität. Im irakischen Shingal, wo sich der Genozid hauptsächlich abgespielt hat, gibt es derzeit türkische Luftangriffe. Es fehlt noch immer an grundlegender Infrastruktur: Bei seinem Rückzug hat der IS viele Minen hinterlassen, dorthin kann also momentan niemand auf sichere Art zurückkehren. Tausende leben seit Jahren in improvisierten Zeltstädten. In Syrien ist es ähnlich, auch dort wird es wohl vorerst keinen Frieden geben – der ist meiner Meinung nach nicht möglich, solange Präsident Assad noch im Amt ist. Aus deutscher Perspektive gesprochen finde ich es wichtig, dass man diesen Zustand nicht als Normalität akzeptiert oder gar ignoriert. Was in Deutschland außerdem wichtig ist: die Prozesse, die gerade beginnen, sowohl gegen Folterer des Assad-Regimes als auch gegen IS-Täter. Der Anfang ist gemacht. Aber es muss viele weitere Prozesse geben, damit es irgendeine Form von Gerechtigkeit für die Jesiden gibt.