Sex (los)
Die Tabuisierung des Sexes
Von der lebensverlängernden Praxis zum gefährlichen Tabu – Sabine Frühstück beleuchtet den Einfluss europäischer Wissenschaftler und einer staatlich kontrollierten Aufklärung auf das Sexualverständnis in Japan.
Frühe japanische Schriften der Sexualkunde berichten, dass es noch am Anfang der Edo-Zeit (1603–1867) für Mann und Frau als falsch, ja geradezu unnatürlich galt, keinen Sex zu haben. Stellte doch die sexuelle Vereinigung eines Paares die Verbindung zwischen Himmel und Erde dar. Das Fehlen sexueller Vereinigung wäre so unnatürlich, wie in einem Jahr zwar Frühling und Sommer (yin), aber weder Herbst noch Winter (yang) zu erleben. Zudem führten die Versuche von Männer und Frauen, ihr sexuelles Verlangen zu unterdrücken, unweigerlich zur Neurasthenie, eine diffuse Art nervöser Erkrankungen, die man für eine Folge autoerotischer Praktiken hielt. Sex diene keineswegs nur der Reproduktion und dem Vergnügen, sondern trüge zur Verlängerung des Lebens bei. Diese und ähnliche Vorstellungen von der allumfassenden Bedeutung des (heterosexuellen) Geschlechtsverkehrs gingen auf die chinesische Medizin zurück und beherrschten die japanischen Schriften zu sexuellen Fragen bis ins neunzehnte Jahrhundert.
Mit dem Aufbruch in die Moderne im späten 19. Jahrhundert sollten sich die Vorstellungen vom gesunden Sex dramatisch ändern. Als beispielsweise der Gynäkologe Habuto Eiji im Jahr 1913 von einem längeren Aufenthalt in Deutschland zurückkehrte, äußerte er sich folgendermaßen zum dortigen Umgang mit sexuellen Fragen: In Deutschland beschäftige man sich hochwissenschaftlich mit dem Geschlechtstrieb. Als Folge davon gäbe es unter den über Zwanzigjährigen kaum einen, der onaniert. Habuto und viele andere selbsternannte Sexologen schrieben nun über Onanie, Fetischismus, allerlei „Perversionen,“ Fragen der Reproduktion, und viele andere mit sexueller Lust zusammenhängende Fragen. Sie bemühten sich, sexologische Texte aus dem Westen – von Sigmund Freud und Magnus Hirschfeld bis Richard von Krafft-Ebing und Havelock Ellis – ins Japanische zu übersetzen und begannen als Ärzte, Biologen, Psychologen und Vertreter anderer Wissensgebiete selbst empirische Forschung zu betreiben.
In der Zeit zwischen den beiden geschilderten Szenarien hat sich das Verständnis von Sex und Sexualität radikal verändert. Die Sexualwissenschaft vorwiegend europäischer Provenienz haben dabei eine wesentliche Rolle gespielt, weil sie sich im Schnittpunkt mehrerer Diskursachsen positionieren konnten: des Modernen, des Zivilisierten, des Westlichen, des Wissenschaftlichen und des Fortschrittlichen.
Sex als Politikum
Sex stand nun nicht mehr in erster Linie im Zeichen der Lebensdauer und Gesundheit, sondern zunehmend von Krankheit und Kriminalität. Als ein Hausmädchen namens Abe Sada im Mai 1936 ihren Liebhaber erwürgte, seine Genitalien abschnitt und für eine Weile damit in den Straßen Tokyos verschwand, rief ihr Fall gemeinsam mit der Sensationspresse auch eine Reihe wissenschaftlicher Experten auf den Plan, die von ihrer Behauptung, sie habe in sexueller Ekstase und aus Liebe gehandelt, fasziniert und geschockt waren. Die Rede vom Sex war nun überall. Junge Intellektuelle, die für die Gleichheit der Geschlechter eintraten, Proponenten der Sexualaufklärung und Sozialreformer sowie Literaten, die von ihren persönlichen sexuellen Erfahrungen schrieben gerieten mit einer zunehmend nationalistischen und militarisierten Gesellschaft in Konflikt. Zu Themen wie Prostitution, Geschlechtskrankheiten und Geburtenkontrolle entwickelten sich öffentlich ausgetragene Kontroversen. Die gebildete Öffentlichkeit wandte sich mit ihren sexuellen Ängsten in Briefen an die Herausgeber spezialisierter Zeitschriften, sandte ihre „Geständnisse“ an Tageszeitungen oder als Forschungsmaterial an medizinische Journale. Sex etablierte sich im öffentlichen Raum als Gegenstand von Wissenschaft und Erziehung.
[Bild 2 mit folgender Bildunterschrift hier einfügen: Titelblatt der sexologischen Zeitschrift Sei (Sex/Sexualität; Band 1, Nummer 5, 7. Januar 1920) zum Thema „weiblicher Sexualtrieb.“ Das Motto der Zeitschrift macht von Friedrich von Schillers und Johann Wolfgang von Goethes Poesie zu Lust und Opfer Gebrauch. Das Titelblatt zeigt eine adaptierte Darstellung von Mephisto aus Goethes Faust. Privatsammlung, Sabine Frühstück].
Die Reinheitsmetapher spielte in jedem Kreis dieser Öffentlichkeit, die mit sexologischen Fragen konfrontiert wurde, eine wesentliche rhetorische Rolle. Die „wissenschaftliche Öffentlichkeit“ sah die „Reinheit der Wissenschaft“ in Gefahr. Die Sexualwissenschaftler wandten sich gegen den „Schmutz der Straße“ und forderten eine „rein wissenschaftliche“ Sexualaufklärung. Die „politische Öffentlichkeit“ in Gestalt der Regierungspolitik fürchtete um die Moral und unterstellte den Sexualaufklärern „schmutzige Ziele“. Alle Produzenten der Diskurse um sexuelle Fragen verband jedoch eine Sorge: die Bedrohung der „Volksgesundheit“ durch die Geschlechtskrankheiten. Während die Sexualwissenschaftler auf die Aufklärung der Massen setzten und davon ausgingen, dass das „richtige Wissen“ auch zum „richtigen Handeln“ führen würde, behielten in der Bürokratie jene Gruppen die Oberhand, die eine staatlich kontrollierte und beschränkte Aufklärung forcierten, die den Zielen der Bevölkerungspolitik – die Steigerung der Geburtenrate angesichts Japans imperialistischen Ambitionen in Asien und schließlich des Zweiten Weltkrieges – dienlich war. Es ist dieser Krieg, der zum Schauplatz für unfassbare Gewalttaten auch sexueller Art wurde.
Verschwindet Sex wirklich?
Kein sexuelles Thema dominiert die heutigen japanischen Medien so sehr wie das Phänomen der „Sexlosigkeit“ der jungen Generation. Der Sex wird beinahe ausschließlich als heterosexuell imaginiert. Sein angebliches Verschwinden habe ein demographisches Problem mit weitreichenden Folgen kreiert: die japanische Geburtenrate gehört zu den niedrigsten der Welt und wenn sie sich so weiterentwickelt, sei das Aussterben der japanischen Bevölkerung gewiss. Doch besteht wirklich Grund zur Panik? Die relative (heterosexuelle) Sexlosigkeit ist ein internationales Phänomen: In den meisten Ländern der Welt haben junge und alte Menschen weniger oft Sex als ihre gleichaltrigen Vorgänger noch vor zwanzig Jahren, doch Japans Rate gehört zu den niedrigsten. Die Lust, die Smartphones und andere digitale Versuchungen verheißen oder sogar bescheren, scheint den Platz des Sexes eingenommen zu haben. Nirgendwo sonst scheint diese Vermutung so viel Wahrheit in sich zu bergen wie im hochtechnologisierten Japan.