Sex (los)
Das Geschäft mit der Nähe
Vor Kurzem hatte ich die Gelegenheit eine amerikanische Schriftstellerin, die sich für die zeitgenössische Kultur Japans interessiert, durch Akihabara zu führen.
Akihabara zählt zu den bekanntesten Stadtteilen Tokyos. Es ist das Zentrum von Subkulturen wie Animes, Otakus und japanischen Idols. Touristen aus dem In- und Ausland reisen an, um diese „Otaku-Stadt“ zu sehen. Deshalb lud ich sie als Besucherin auch dazu ein, sich ein Bild dieses „für das heutige Japan typischen“ Stadtteils zu machen. Unser erster Halt war ein Buchladen direkt an der Hauptstraße, der vornehmlich Mangas verkauft, die junge Mädchen auf sexualisierte Art darstellen. So etwas sieht man sehr konzentriert in Akihabara, aber auch außerhalb begegnen einem solche Mangas in Japan sehr häufig. Ich begann gerade mit einer Erklärung, was man unter sog. „Moe“-Charakteren versteht, als ihr Gesicht, das mich eben noch angestrahlt hatte, vor Wut erstarrte und ihr Tränen in die Augen traten. „Ich halte es hier nicht aus!“, bekannte sie und rannte aus dem Laden – direkt in die Arme einer jungen Frau im Dienstmädchen-Kostüm, die lautstark für ein Maid-Café in der Nähe warb: „Möchten Sie ein Maid-Café besuchen?“ Nach einem flüchtigen Blick auf die schlampige Kleidung der „Maid“ und ihre unnatürlich hohe Stimme, mit der sie jeden Passanten ansprach, schüttelte sie energisch ihren Kopf: „No!“. Ohne ihre Wut und Verwirrung zu verbergen, rannte sie zur Hauptstraße und hielt das nächstbeste Taxi an.
Für mich war ihr Wutausbruch ein Schock. Nicht wegen ihres Verhaltens, sondern weil mich ihre Wut einfach vollkommen überraschte. Obwohl ich selbst als Feministin, für Darstellungen von Pädophilie und sexueller Gewalt sehr sensibilisiert bin, hatte ich ihren Wutausbruch nicht im Entferntesten vorausgesehen. Der Laden, den ich ausgewählt hatte, hatte nämlich eine so freundliche Atmosphäre, dass mich selbst Grundschüler dort nicht überrascht hätten. Auf den Bildern waren junge Mädchen zu sehen, die unschuldig kokettierten - ohne offene Zurschaustellung sexueller Handlungen oder von Gewalt. Illustrationen wie diese sind in Japan gang und gäbe. „Ein Wutausbruch deshalb? Und so heftig?“ wunderte ich mich. Ihre Reaktion führte mir vor Augen wie gewöhnt ich schon an derartige Bilder Art war.
Eigentlich ist man strikt dagegen, aber mit der Zeit stumpft man ab – durch ihren Ausbruch ist mir das wirklich bewusst geworden.
Minderjährige bevorzugt!
Dabei sind Mangas beileibe nicht das Einzige, was in Akihabara verkauft wird. In Sexshops gibt es dort Sexspielzeuge für Männer, die den Genitalien von jungen Mädchen nachempfunden sind. „Papa, gib's mir!“ oder „Jungfrau“ sind die Werbeslogans. Auch auf Pornofilmen finden sich Ankündigungen wie „Größe 149 cm, Gewicht 29 kg“ – Pornodarstellerinnen deren Maße an Kinder erinnern sind gefragt, und solange sie volljährig sind, ist Material dass diese Kindfrauen zeigt gänzlich legal.
Nachts sind die Straßen voll mit Mädchen in Schuluniformen, die Passanten in „Girls Bars“ einladen, oder das sogenannte „JK Rifure“ anpreisen – ein Service bei dem (minderjährige) Oberschülerinnen gegen Bezahlung ihre Gesellschaft anbieten. Nicht für sexuelle Handlungen, sondern für „harmlose“ Aktivitäten wie Fußreflexzonenmassage (daher „Rifure“, von „Reflex“), Ohren säubern, oder das schlafen nebeneinander. Läden, die solche Dienste anbieten sind für Passanten gut zu sehen und frei zugänglich. Und natürlich gibt es solche Etablissements bei weitem nicht nur in Akihabara. In den U-Bahnen werden Männermagazine mit Fotos von Models in Badeanzügen beworben. Die Convenience Stores an jeder Straßenecke bieten Sexmagazine offen zum Verkauf an: 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche. Erotische Darstellungen für Männer sind in Japan ein alltäglicher Anblick.
Die Amerikanerin, die sich in Akihabara so aufgeregt hatte, bat mich später, bei solchen Läden vorher vorbei zu gehen und sie zu warnen, was genau es dort zu sehen gäbe. Und obwohl ich ihr das gern versprach, fragte ich mich selbst: „Hat eine Frau, die in diesem Land wohnt, wirklich das Recht, vor solchen Dingen die Augen zu verschließen?“
Der männliche Eros als Maßstab
1996 habe ich den ersten feministischen Sexshop in Japan eröffnet und damit begonnen, Bücher über Gender und Sexualität zu veröffentlichen. Als jemand der also sowohl die Perspektive der Sexindustrie selbst, als auch den Blick auf die Sexindustrie kennt, kann ich sagen, dass die Objektivierung der Frau in diesem Land ganz klar einen Höhepunkt erreicht hat. Die gesamte Erotik-Industrie ist allein auf männliche Konsumenten ausgerichtet.
Schlagworte wie „Sexlosigkeit in der Ehe“ und das „Sexuelle Desinteresse junger Erwachsener“ kursieren schon seit Jahren in Japan. Doch sollte man sich im Klaren darüber sein, welche Rolle die expandierende Sexindustrie, die zunehmende Härte von 2D-Darstellungen von Sex dabei spielen und die Nonchalance mit denen wir ihnen im täglichen Leben begegnen – wie in Akihabara. Wobei Sex für Männer und Sex für Frauen nicht das Gleiche ist. Solange Sie dafür bezahlen, können Männer jederzeit leicht und bedenkenlos ihre Bedürfnisse befriedigen. Wenn das Objekt ihrer Begierde eine Frau ist, haben Sie das Recht ihre Lust ohne schlechtes Gewissen auszuleben. Die Gesellschaft ist so vereinnahmt vom männlichen Eros, dass die Vorstellung, dass Frauen von sich aus Spaß am Sex haben, eine reine Schimäre ist.
Es gibt unterschiedlichste Gründe für die Sexlosigkeit der Japaner, aber meiner Meinung nach ist der Hauptgrund die androzentrische Kultur Japans, die Frauen objektiviert und aus jeder Vorstellung von eigener Lust ausschließt.
Wem dient käuflicher Sex?
Die japanischen Rotlichtviertel nahmen ihren Anfang in der Edo-Zeit (17.-19. Jahrhundert). In den Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, im Zuge derer sich Japan westlichen Standards annähern wollte, blieb die Prostitution erhalten und wurde im 20. Jahrhundert - wie etwa mit den „Trostfrauen“ - von der Militärregierung sogar instrumentalisiert. Nach dem 2. WK schafften die Alliierten die staatlich kontrollierte Prostitution ab, allerdings gab es seitdem immer wieder Versuche, die Prostitution erneut zu legalisieren. Einem bekannten Gerücht zufolge, finanzierten viele Unternehmen ihren Angestellten zur Zeit des japanischen Wirtschaftswunders Sextourismus in Asien. „Der Kauf von Sex“ ist für Männer institutionell, kulturell, und gesellschaftlich so etabliert in Japan, dass niemand damit eine „Sünde“ verbindet. Die (japanische) Nation hat die Moderne erlebt mit dem verbreiten Glauben als gesellschaftlichem Fundament: „dass männliche Sexualität nun mal so sei“.
Trotzdem - bin ich hier immer etwas ratlos. Ist es wirklich notwendig, dass Männer Sex, wann und wie immer sie möchten, kaufen können? Macht Männer das wirklich glücklich? Und wer profitiert am meisten von der Aufrechterhaltung dieses Systems? Es besteht kein Zweifel, dass den Frauen, denen von der japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg sexuelle Gewalt angetan wurde, ein unsagbares Schicksal widerfahren ist. Doch auch den Männern, die damals in den Kriegsdienst eingezogen wurden, wurde durch den Staat etwas geraubt. Man ließ sie in der Vorstellung käuflicher Sex sei die einzig wirkliche Art des Vergnügens und dass sie einem jederzeit zur Verfügung stehe. In diesem Sinn wurden auch sie vom Staat ermordet.
Zum Schluss noch einmal einige Gedanken zum Problem des Prostitutionsgewerbes aus meiner Perspektive als japanische Feministin. Es ist ein klassisches Problem und im feministischen Diskurs viel diskutiert worden. Dennoch sollten wir uns fragen, auf welche Weise die japanische Gesellschaft die staatlich kontrollierte Prostitution fortgesetzt hat und wie man das System des käuflichen Sexes beenden kann. Momentan gilt die Prostitution selbst nicht als Problem. Unter japanischen Feministinnen wird vornehmlich die Zwangsprostitution problematisiert. Doch geht „Zwang“ weit über durch physische Gewalt erzwungene Handlungen hinaus. Sieht man den Handel mit Sex nur als ein Problem der Autonomie, so ignoriert man die strukturellen Probleme von sexueller Diskriminierung und Ausbeutung, auf denen die Sexindustrie aufgebaut ist. Gerade deshalb müssen wir uns mit diesem alten und zugleich neuen Problem als ein „Problem des heutigen Japans“ auseinandersetzen. Dabei denke ich an die Erwiderung, mit der die amerikanische Schriftstellerin ihrer Wut mitten auf der Straße in Akihabara Luft machte: „Nein!“
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