Essay
Der Kinderkreuzzug von Hofheim

Werner Thal
© Sylvia Kekulé

Im Frühjahr 68 stand ich mitten im Abitur und war an unserer Schule Vorsitzender des AUSS (Aktionszentrum unabhängiger sozialistischer Schüler) der Schülerorganisation des SDS. Wir engagierten uns nicht nur gegen den Vietnamkrieg, den Militärputsch in Griechenland und die Notstandsgesetzgebung, wir verlangten auch umfassende Schulreformen und hatten an unserer Schule tatsächlich durchgesetzt, dass wir ab achtzehn selbst entscheiden durften, ob wir am Unterricht teilnehmen oder uns Wichtigerem zuwenden.

Von Werner Thal

Wir Genossen vom revolutionären Kampf trafen uns an zwei Abenden die Woche mit Genossen von außerhalb der Schule in einem anarchistischen Zirkel. Meine Sympathie für den Anarchismus begründete sich darin, dass ich wenig Lust verspürte 20 Bände Das Kapital zu lesen, und deshalb die überschaubaren Werke Bakunins, Stirners und Kropotkins dem Werk von Marx und Engels vorzog.
Statt dem Unterricht beizuwohnen, lungerten wir in Frankfurt im Büro des SDS rum oder besuchten Adorno-Vorlesungen und kamen uns ziemlich bedeutend vor, auch wenn wir wenig verstanden. Als es dann ins schriftliche Abitur ging, musste ich mir eingestehen, das letzte halbe Jahr Mathe komplett versäumt zu haben. Spicken oder Abschreiben war nicht möglich, so dass meine Note zwischen Fünf und Sechs gelegen haben dürfte.
Durchfallen durfte ich nicht, denn mir drohte Ärger mit der Bundeswehr, weil ich schon zum zweiten Mal mit Captagon- und Alkoholvergiftung zur Musterung erschienen war. Nichts wäre in meiner Situation also dringlicher gewesen, als sich aufs mündliche Abitur vorzubereiten.  Aber dann überschlugen sich in jenem April und Mai 68 die Ereignisse und trieben uns von der Schulbank weg auf die Straße.

Kampf dem System 

Bis dahin hatten wir friedlich demonstriert, gegen den Krieg der US Armee in Vietnam, sogar als am 13. Feb. ein Deserteur in Frankfurt auf offener Straße von US Militärpolizisten angeschossen wurde.  Auch Sympathisanten der griechischen Militärdiktatur waren wir weitgehend friedlich entgegen getreten, obwohl sie vor den Augen deutscher Polizisten mit Zaunlatten auf uns eindroschen, und die Demonstration nach der Ermordung Martin Luther Kings am 4. April verlief friedlich, wohl auch, weil am Vortag in Frankfurt zwei Kaufhäuser angezündet worden waren, was unter uns sehr kontrovers diskutiert wurde.
 
Aber mit dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April sollte sich das ändern. In ohnmächtiger Wut nahm ich den nächsten Zug nach Frankfurt. Schon am Bahnhof rotteten sich Demonstranten zusammen, weil der Weg in die Innenstadt durch  Polizeiketten und Gitter versperrt war. Als mich ein junger Polizist als ungewaschenen Penner bezeichnete, gab ich ihm eine schallende Ohrfeige. Demonstranten versuchten nun, den Sperrzaun zu überwinden, und mein rechter Arm wurde zwischen zwei Gitterteilen eingeklemmt. Nur mit Hilfe der jungen Polizisten, die sich gegen den Druck der Demonstranten stemmten, konnte ich meinen Arm befreien und kam mit Quetschungen und Schwellungen davon.

Der Zorn der Studenten richtete sich gegen den Springerverlag. Tagelang konnten wir durch Blockaden die Auslieferung der Bildzeitung verhindern, die mit systematischer Hetze den Brandsatz für das Attentat gelegt hatte, und mussten uns gegen berittene Polizisten und Wasserwerfer behaupten.
 

„Diese Betonköpfe zu entlarven und zu verhöhnen, machten wir uns in unserem Hofheimer Anarchoclub zur Aufgabe.“

Auch von Gewerkschaftsseite gab es Solidaritätsbekundungen und Boykottaufrufe gegen den Springerverlag. Bildzeitungskästen dienten als Urinale, Bildzeitungsredakteure sahen sich an den Pranger gestellt und schrieben das Ende der Pressefreiheit herbei, ohne von ihren Hetztiraden gegen unsere kleine radikale Minderheit abzurücken. Aber es war keineswegs nur die Bildzeitung, es waren brave Bürger und Politiker (Strauß bezeichnete uns als Ratten und Geschmeiß) bis tief in die Reihen der SPD, die mit Schaum vorm Mund verbal auf uns eindroschen. Diese Betonköpfe zu entlarven und zu verhöhnen, machten wir uns in unserem Hofheimer Anarchoclub zur Aufgabe. Wir begleiteten über Monate meinen Lieblingsgegner, den aus meinem Heimatort stammenden Herrmann Schmitt Vockenhausen, SPD, einen  glühenden Streiter für eine Notstandsgesetzgebung, bei seinen Auftritten in Orts- und Kreisverbänden. Schmitt war von Natur aus Choleriker.

Als 15-Jähriger durfte ich als Fahnenträger des örtlichen Turnvereins einer Beerdigung beiwohnen, bei der Schmitt die Grabrede hielt und kein Ende fand. Da mir die Zeit zu lang und die Fahne zu schwer wurde, begann ich dem Genossen mit den Fransen der Fahne übers lichte Haupthaar zu streicheln und konnte sehen, wie ihm die Zornesröte den Nacken hoch bis unter die Haarwurzeln stieg. Damals behielt er die Contenance, da ich meinen Job mit angemessenem Ernst verrichtete, so dass keiner mir böse Absicht unterstellen konnte.

Bei den Heimsuchungen seiner Veranstaltungen gelang es uns regelmäßig, ihn zu unkontrollierten Wutausbrüchen zu provozieren, wobei wir die Lacher häufig auf unserer Seite hatten, da wir zwar freche Fragen stellten, aber dabei höflich blieben. Beispiel: „Genosse Schmitt, glaubst du wirklich, dass du im Ernstfall einen Platz im Regierungsbunker sicher hast?“ „Was soll die Frage!?“ „Da geht’s mit Hurra und Gesang in den Weltuntergang. Da brauchen die keine Spaßbremsen.“ Unser Ziel war, Schmitt um sein Direktmandat zu bringen. Dass dies ein gutes Jahr später zu einem parteininternen Konflikt führte, im Zuge dessen Schmitt mehrfach der Lüge überführt wurde, habe ich erst jetzt, 50 Jahre danach erfahren oder ich hatte es vergessen.
 

Streik und Revolte 

 
  • Sternmarsch nach Bonn © BPD

  • Sternmarsch nach Bonn © BPD

  • Sternmarsch nach Bonn ©BPD


Am 11. Mai fuhren die Hofheimer Anarchisten und AUSS Mitglieder im Autokonvoi zum Sternmarsch nach Bonn, wo gefühlte sechzigtausend Friedensbewegte, Linksradikale, Intellektuelle und Gewerkschafter zusammen kamen, um sich das „Du-bist-nicht-allein-Gefühl“ zu vermitteln und sich per abschließender Großdemo auf das gemeinsame Scheitern einzustimmen, denn es zeichnete sich schon ab, dass die Gewerkschaften einen Kompromiss bezüglich der zu erwartenden Verabschiedung der Notstandsgesetze anstrebten. Heinrich Böll richtete sich mit dem Appell an unsere radikale Minderheit, die Entscheidung in guter demokratischer Manier anzunehmen. Die Bonner Bürger waren aufgefordert worden, in ihren Häusern zu bleiben. Dabei benahmen sich die Demonstranten vorbildlich:
 

„Die Mitglieder des Empfangskomitees hatten sich nach ehrwürdiger deutscher Revolutionstradition brav Bahnsteigkarten gekauft, und nicht ohne Rührung beobachtete man, wie ein Trupp an einer Kreuzung abrupt stoppte, als die Ampel auf Rot sprang, und sich bei Grün „Ho-ho-ho-Tschi-Minh“ skandierend, wieder in Trab setzte.  (Rolf Zundel Die Zeit Nr 20/1968).

Am 27. Mai veranstaltete der DGB auf dem Frankfurter Römer eine abschließende Großkundgebung. Zwar stand noch immer die Drohung eines Generalstreiks im Raum, aber die Einheitsfront begann zu erodieren. Im Zuge der Veranstaltung erklomm ich die Justitia und steckte ihr eine rote Fahne in die Hand, die das Schwert hält. Mein Deutschlehrer Kühnlenz, der mit unserem Schuldirektor an der Kundgebung teilgenommen hatte, beglückwünschte mich am nächsten Tag zu dieser Aktion.
 
Am 30. Mai sollten die Notstandsgesetze im Paket von der damaligen Großen Koalition unter dem Altnazi Kurt Georg Kiesinger durchgewunken werden.  Zwar hatte die DGB-Spitze sich gegen einen Generalstreik entschieden, aber einzelne Belegschaften waren entschlossen, die Arbeit niederzulegen.

Wir vom AUSS beschlossen einstimmig, uns dem Streik anzuschließen. In der Pause bauten wir eine Verstärkeranlage im Schulhof auf. Ein Mitschüler war Sohn des Bürgermeisters einer Nachbargemeinde und obwohl nicht eindeutig Sympathisant, hatte er doch ein Megaphon aus dem Gemeindehaus entliehen. Wir verkündeten, dass der Unterricht beendet sei und forderten unsere Mitschüler auf, sich unserer Demonstration anzuschließen.  Einige Lehrer versuchten, ihre Klasse daran zu hindern, unserem Aufruf Folge zu leisten, indem sie sich in der Tür der Klasse aufbauten. Sie wurden von einem eilig zusammengestellten Rollkommando sanft zur Seite gedrängt und mit mildem Spott bedacht. Und so schlossen sich nahezu sämtliche Mitschüler vom Sextaner bis zum Primaner unserem Demonstrationszug an. Und zu unserer Verwunderung liefen auch Kühnlenz und ein weiterer Lehrer mit, was spätere Disziplinarverfahren nach sich zog. Unter dem Geleit zweier Polizeifahrzeuge – es waren nur wenige Beamte der Hofheimer Polizei, die wir teilweise persönlich kannten, und die zu keiner Zeit glaubten, Verstärkung anfordern zu müssen – setzte sich unser Demonstrationszug in Gang: „Bürger lasst das Glotzen sein, kommt heraus und reit euch ein,“ skandierten wir immer wieder, während wir durchs Megaphon gegen die Beschneidung unserer demokratischen Grundrechte mittels einer Notverordnung agitierten.
 
Planung der Revolution © Sylvia Kekulé

Pünktlich zur zweiten großen Pause erreichten wir die Berufsschule und forderten Lehrer und Auszubildende auf, sich uns anzuschließen. Einige taten dies aus Neugierde oder um früher nachhause zu kommen, die Lehrer verhielten sich weitgehend passiv, manche belächelten  z.T. wohlwollend oder belustigt unseren Kinderkreuzzug. Ganz anders lief es an der örtlichen Mittelschule (heute Realschule). Dort stellte sich uns der Hausmeister in den Weg. Mein damals 15-jähriger großgewachsener Cousin und einige seiner Klassenkameraden bildeten Arm in Arm eine Kette und drängten den armen Mann, der sich nicht entscheiden konnte, wen er zuerst schlagen sollte, ins Gebäudeinnere. Am Rektorat versuchte uns der schmächtige Direktor und seine stark gebaute Sekretärin daran zu hindern, das Sekretariat zu betreten und die Sprechanlage zu benutzen. Sie wurden durch die Schülertruppe eingekreist, die lachend die Schläge der empörten Sekretärin wegsteckten, ohne selbst tätlich zu werden. Der Rektor regte sich über unser Eindringen derart auf, dass er einem Schwächanfall nahe war. Per Durchsage erklärte ich den Unterricht für vorzeitig beendet und forderte Lehrer und Schüler auf, sich unserem Protestmarsch anzuschließen. Eskortiert von der örtlichen Polizei zogen so etwa tausend Schüler zwischen zehn und achtzehn durch die Hofheimer Altstadt. Inzwischen machte die Kunde von der Verabschiedung der Notstandsgesetze die Runde. „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten. Wer hat Recht? Karl Liebknecht,“ skandierte unser dünnstimmiger Chor. Ein Gutteil der Schüler hatte den Stimmbruch noch vor sich und vor allem keine Ahnung, wer dieser Karl Liebknecht war. Aber uns Initiatoren des Protest kam während der ganzen Demo auch nie der Gedanke, dass es sich hierbei um ein Art von Verführung Minderjähriger handeln könnte.
 

„Und so scheiterte die Revolution in der hessischen Provinz nicht nur an der SPD und der mangelnden Solidarität der Gewerkschaften, sondern, wie so oft in der deutschen Geschichte, am Fahrplan von Bussen und Bahn.“


 
Wir erreichten die örtliche Elisabethschule, wo uns die dort unterrichtenden Nonnen mit abwehrbereit ausgebreiteten Armen in den Fenstern stehend erwarteten. Dies amüsierte nicht nur uns, sondern auch die uns begleitenden Polizisten, und wir kamen überein, von einer Besetzung der Schule Abstand zu nehmen, was einige der Schwesternschülerinnen sehr zu bedauern schienen. Aber die Schule sollte eh schon bald aus sein, viele der Demonstranten waren Fahrschüler aus umliegenden Gemeinden, die mussten ihren Bus bekommen. Und so scheiterte die Revolution in der hessischen Provinz nicht nur an der SPD und der mangelnden Solidarität der Gewerkschaften, sondern, wie so oft in der deutschen Geschichte, am Fahrplan von Bussen und Bahn. Und nur der harte Kern von weniger als hundert Mitstreitern folgte unserem Aufruf zu einem abschließenden Teach-in in die Aula unseres Gymnasiums. An der Schlussveranstaltung nahmen auch der Direktor und ein Teil der Lehrerschaft teil. Es gab allerdings auch Lehrer, die uns mit strafrechtlichen Konsequenzen drohten und dem Teach-in demonstrativ fernblieben.
 
Ich habe mich nie sehr wohl gefühlt bei Demos, nicht nur wegen der Wasserwerfer und dem Tränengas, es lag mir nicht, im Konvoi zu marschieren und Parolen zu skandieren. Ich war alles andere als ein begnadeter Redner, aber an diesem Tag hatte ich den Aufruf zum Streik, die gesamte Demo und jetzt die Schlussveranstaltung in freier Rede bestritten, zusammen mit zwei, drei weiteren Rädelsführern. Für den Augenblick fühlte sich das gut an, auch wenn unser Resümee sehr ernüchternd und selbstkritisch ausfiel. Wir spürten alle, wir hatten nicht nur eine Schlacht verloren, wir hatten die Gewerkschaften und die Bevölkerung nicht gewinnen können, die APO sollte in der Folge in Splittergruppen zerfallen, manch einen trieb es in den Untergrund.

Wider den Konventionen

Unser Abend endete mit einer außerordentlich einberufenen Elternbeiratsversammlung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, mich und den Sohn der Elternbeiratsvorsitzenden von der Schule zu verweisen. Der Bürgermeister der Nachbargemeinde, der keine Ahnung hatte, dass er uns sein Megaphon geliehen hatte, empfing uns mit unflätigen Beschimpfungen, („Ihr dumme Bube, lernt erstemol was“) denen wir ruhig und höflich entgegneten. Unser Direktor schlug vor, uns einen ausführlichen Report anzulasten, in dem wir unsere Motive und Beweggründe erläutern sollten. Dem komme ich hiermit mit 50-jähriger Verspätung nach.
 
Der Rektor der Mittelschule verstarb wenige Tage nach der Besetzung seiner Schule – vermutlich war es die Aufregung, die ihm das Leben kostete.  Ein Privatkläger stellte Strafanzeige, die aber fallengelassen wurde. Frei von Schuld konnte man sich dennoch nicht fühlen.
 
Die Woche darauf durfte ich mehr oder weniger unvorbereitet ins mündliche Abitur. Noch Jahre später verfolgte mich die Vorstellung im Traum gänzlich ahnungslos und unvorbereitet quasi nackt vor einer Prüfungskommission zu stehen. In Mathe versagte ich kläglich und meine Mitschüler, die dem Trauerspiel beiwohnen durften, rauften sich die Haare. Ich schaffte das Abi trotzdem, schon weil mich der Schulbetrieb kein weiteres Jahr ausgehalten hätte, wie mir der Direktor bei der Zeugnisübergabe scherzhaft zuflüsterte.
 
Die Zeugnisübergabe endete mit einem abschließenden Eklat. Den Schulchor hatten wir ausgeladen, die angekündigte Jazzband kam nicht. In der ersten Reihe saß Schmitt Vockenhausen mit eingegipstem Arm und musste sich fragen lassen, ob er auf ner Demo war. Es herrschte eine brütende Hitze im Saal und die drei Abiturienten vom AUSS erschienen in Jeans und T-Shirt um sich den Wisch abzuholen, während die Eltern im Anzug schwitzend buhten. Meine Eltern hatten versucht, meinen Auftritt zu verhindern und das Zeugnis an meiner Stelle entgegenzunehmen, und waren dann bei meinem Auftauchen vorzeitig gegangen. Schmitt Vockenhausen schrieb am nächsten Tag einen Leserbrief in der FAZ oder der Rundschau und sprach sich dafür aus, uns das Abitur abzuerkennen, worauf ihm unser Direktor entgegnete, er erachte es nicht als seinen Lehrauftrag, uns das Anzugtragen beizubringen.

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