Motoi Miura
Leiter der Theatergruppe CHITEN, Regisseur
Was versinnbildlicht für Sie die aktuelle Situation persönlich oder in Ihrem Land?
Ich lebe in Kyoto und unterhalte in der Nähe des “Ginkakuji” Tempels ein Theateratelier. Wegen des Coronavirus ist unser Atelier nun schon seit geraumer Zeit geschlossen. Auch die Geschäfte in unserer Umgebung mussten schließlich, nachdem die Regierung den Ausnahmezustand ausgerufen hatte, geschlossen werden. Unsere Gegend, in der man sonst viele Touristen und Ausländer antrifft, ist nun in Stille gehüllt. Wir befinden uns in einer Situation, in der das, was wir gestern noch geglaubt hatten, plötzlich nicht mehr gilt. Die Tage vergehen mit ständigem Bangen, was wohl am nächsten Tag sein mag. Wahrscheinlich sind derzeit die Gefühle der Menschen auf der ganzen Welt ähnlich. Mir geht oft durch den Kopf, was eigentlich der Unterschied ist zur Situation nach dem großen ostjapanischen Erdbeben im März 2011. Damals war die Wahrnehmung je nach Region sehr unterschiedlich. So groß die Katastrophe auch war, hatten doch die Menschen in Kyoto das Beben kaum gespürt und waren auch von keinen unmittelbaren Beeinträchtigungen betroffen. Ich meine, dass selbst von Tokyo aus gesehen, wo man das Beben direkt gespürt hatte, die Tohoku-Region als doch weit weg wahrgenommen wurde.
Wie wird die Pandemie die Welt verändern? Welche langfristigen Folgen der Krise sehen Sie?
Die Coronavirusinfektion hingegen sucht uns unabhängig davon, wie Entfernungen wahrgenommen werden, und unabhängig von regionalen Grenzen heim. Für mich ist es die erste Erfahrung mit einer Pandemie, dieses „wir sind alle gleichermaßen betroffen“. - Es klingt ironisch, aber mir kommt es so vor, als ob die Welt zum ersten Mal eins geworden sei. Oder anders ausgedrückt: Dieses Virus hat uns bewiesen, dass unsere globale Gesellschaft tatsächlich eine globale Gesellschaft ist. Das Coronavirus macht keine Unterschiede und bedroht die Menschen auf der ganzen Welt, doch wir Menschen – mich eingeschlossen – gestehen uns das nicht gerne ein, vielleicht weil wir glauben wollen, dass der Tod anderer und der eigene Tod Zweierlei sei. Wir halten an der Vorstellung fest, sicher zu sein, obwohl wir wissen, dass uns allen ohne Unterschied der Leib geraubt werden kann. In Japan macht sich diese Wahrnehmung etwa in Form von Hass bemerkbar, wenn Fahrzeuge mit Kennzeichen anderer Präfekturen in die eigene Gegend kommen, oder in Form von Aggression, wenn sich Geschäfte nicht an die empfohlenen Schließungen halten. Sprich: Dieses Virus, das sich eigentlich dadurch, dass es keine Unterschiede macht, auszeichnet, bewirkt in uns Menschen eine Wahrnehmung, die auf den Unterschieden besteht. Gerade hatte es noch geheißen, „wir sind alle gleichermaßen betroffen“. Plötzlich aber, scheint mir, tritt dieses Wesen des Menschen zutage, das behaupten will: “Ich bin anders als du.” Mir ist ehrlich gesagt noch nicht klar, wie unsere Welt diese Diskrepanz zwischen dem „Keine Unterschiede Machen“ und „Auf den Unterschieden Bestehen“ schließen soll.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Ich muss in diesem Zusammenhang an unsere Aufführungen von Dostojewskis “Schuld und Sühne” Mitte März in Yokohama und in Kyoto zurückdenken. Es war gerade die Zeit, als in Europa die Infektionen zunahmen und sich auch in Japan abzeichnete, dass womöglich der Ausnahmezustand verhängt würde. Die Aufführungen fanden in gut belüfteten Theatern statt, und die Leute trugen Mundschutz. In dem Stück gab es eine bewusst komisch inszenierte Szene, bei der ein Tuberkulosekranker sein Gegenüber mehrmals anhustet. Die Inszenierung stammt selbstverständlich aus einer Zeit, als Corona noch kein Thema gewesen war. Bei der Aufführung in Yokohama Ende Februar, als die Situation noch nicht so ernst war, konnte man aus den Publikumsreihen Gelächter hören, doch zwei Wochen später, als wir in Kyoto spielten, war die Reaktion auf diese Szene völlig anders – man merkte, wie im Publikum die Anspannung stieg. Niemandem war mehr nach Lachen zumute. Mir wurde bewusst, dass wir einen Moment erlebt hatten, in dem die Prämisse, dass das Publikum die Vorgänge auf der Bühne als Fiktion wahrnimmt, ihre Gültigkeit verloren hatte. Sprich: das Publikum machte sich Sorgen, ob sich die Schauspieler auf der Bühne nicht gegenseitig ansteckten. Wenn bisher auf der Bühne auch noch so viele Morde stattgefunden hatten, war es nicht Realität gewesen, sondern Teil einer Fiktion, doch das hatte sich mit einem Schlag geändert. Das Publikum erlebte in dieser Szene nun hautnah dieses „Wir sind alle betroffen”. Als Japaner hatte ich die Worte “Ich war Hamlet” am Anfang von Heiner Müllers “Hamletmaschine” unweigerlich immer als etwas sehr Fernes, empfunden, aber diese Mauer, die Bühne und Zuschauer trennt, ist nun, wenn auch gewaltsam, gefallen. Wenn wir mit dem Körper verstehen, dass du und ich gleich sind, zumal wir derselben Gefahr ausgesetzt sind, empfinden wir ein gewisses Gefühl von Solidarität. Wenn wir das auch noch mit dem Kopf verstehen, also die bisherige Fiktion an die Zeit anpassen und die Möglichkeit entsteht, auf der Bühne einer wichtigen Realität Ausdruck zu verleihen, erfüllt mich das mit einer gewissen Hoffnung.
Was ist Ihre persönliche Strategie, damit umzugehen?
Dieses Virus, das sich ausbreitet, ohne Unterschiede zu machen, gibt uns viele Dinge zu lernen und Aufgaben zu lösen auf. Aus aktueller Sicht geht es vermutlich nun darum, dieses Bestehen auf den Unterschieden, das sich unter uns breitmacht, diesen Abwehrinstinkt zu überwinden. Erst einmal müssen wir uns die Tragik der Situation eingestehen. Bisher waren die tragischen Helden auserwählte Persönlichkeiten gewesen. Dieses Virus hat uns jedoch alle ausgewählt. Wir müssen uns zuallererst darüber klar werden, dass wir alle zu tragischen Helden geworden sind. Bloß klappt, wie wir wissen, eine Tragödie nicht, wenn es lauter Helden gibt. Üblicherweise braucht sie immer auch ein oder zwei Opfer. Deshalb kann man, denke ich, nun erstmals sagen, dass die Tragödie eigentlich an ihrem Ende ist. Natürlich ist es schwierig, eine Krisensituation kontinuierlich als etwas Nahes wahrzunehmen. Der Mensch tendiert von Natur aus dazu, sich ausruhen zu wollen, und ich möchte mich da selbst nicht ausnehmen. Optimismus ist schließlich auch eine Art von Lebensweisheit. Doch die Welt erlaubt es uns nicht mehr, tatenlos zuzusehen. Wir sind bereits Teil dieser Welt, wenn wir, sooft wir außer Haus gehen, eine Maske tragen müssen. Dies bedeutet zweifellos auch eine Chance, nämlich den Widerspruch des „Bestehens auf den Unterschieden“ zu überwinden. Wir sollten langsam begreifen, das es uns nicht weiterhilft und geradezu unsinnig ist, immer Feinde finden zu wollen.