Matthias Politycki
Schriftsteller
Solidarität in Zeiten der Pandemie
Hamburg, 31.5.2020
In den ersten Wochen der Corona-Pandemie feierte die deutsche Öffentlichkeit eine neue Solidarität im Alltagsleben. Die einen erledigten Einkäufe für Nachbarn, die sich nicht mehr selber auf die Straße trauten; die anderen traten allabendlich Punkt neun auf ihre Balkons, um ihren „Alltagshelden“ Applaus zu spenden. Selbst durch den wütenden Facebook-Post einer Berliner Krankenschwester, der durch die Medien ging – „Euren Applaus könnt ihr euch sonstwohin stecken“ –, ließen sie sich nicht abhalten.
Zumindest mit dieser über Wochen zelebrierten Geste wollten sie sich als verantwortungsbewußte Mitglieder der Gesellschaft präsentieren. Ich wohne in einem der Hamburger Viertel mit Applaus-Balkons; nichtsdestoweniger habe ich immer wieder Einladungen zum klandestinen Corona-Dinner erhalten. Meine Freunde und Bekannten, durchwegs Vertreter der engagiert-liberalen Bevölkerungsschicht, waren erstaunlich findig darin, die Ausgangsbeschränkungen zu unterlaufen. Natürlich stets unter der Versicherung, damit ja niemandem zu schaden.
Als die Temperaturen stiegen und ein sonniger Frühling einsetzte, wurde immer mutiger auch in der Öffentlichkeit gegen die Notverordnungen verstoßen. Der nun offen zutage tretende Individualismus wurde als Verteidigung der Freiheitsrechte mündiger Bürger gegen die Übergriffigkeit des Staates gerechtfertigt: gemeinschaftliches Grillen von Würsten in einer städtischen Grünanlage als subversiver Akt, um demokratische Grundrechte zu schützen.
In der Ablehnung der staatlich verordneten Corona-Schutzmaßnahmen bildeten sich bald die seltsamsten Allianzen von „aufrechten Linken“, Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern und strammen Rechten. Selbst unter den gemäßigt liberalen Intellektuellen gab es nicht wenige, die das Tragen von Gesichtsmasken als Unterwerfung unter eine gerade neu entstehende Diktatur in Deutschland verstanden. Einige Landesfürsten nützten die Stimmung für ihre eigenen Zwecke, indem sie gegen die Appelle der Bundesregierung mobilisieren; Bodo Ramelow, der Ministerpräsident von Thüringen, sprach angesichts des anhaltenden „Lockdowns“ sogar von der drohenden Etablierung eines „Polizeistaats“.
Ganz anders im Ausland, wo man das besonnene Krisenmanagement der deutschen Regierung weltweit als Vorbild lobte. Viele Deutsche haben offensichtlich ein Problem, ihren – berechtigten – Anspruch auf bürgerliche Freiheiten mit der Rücksichtnahme auf andere abzugleichen. Mittlerweile mißachten sie die Vorschriften des „Social Distancing“, als ob es Corona nicht mehr gäbe und auch keinen, der aufgrund gewisser Vorbelastungen oder auch einfach gewisser Ängste nur allzugern hätte, daß sich alle an die Vorgaben halten.
Die Monate, die ich in Japan verbrachte, haben mir ein anderes Gesellschaftsmodell gezeigt, um das ich die Japaner in dieser Krisenzeit beneide. Nirgendwo im fernen Osten, vielleicht sogar nirgendwo in ganz Asien, sieht man in der Freiheit des einzelnen den höchsten Wert, den ein Staat zu schützen habe, im Gegenteil: Seit Jahrhunderten gilt dort die Gemeinschaft als das höchste Gut, das friedliche Miteinander über Freundes- und Familienkreisgrenzen hinaus, dem sich der einzelne mit seinen Bedürfnissen unterzuordnen hat. Soweit ich es aufgrund meiner Reisen beurteilen kann, wird diese Einstellung am extremsten in Japan umgesetzt.
In Deutschland weckt allein schon das Wort „Gemeinschaft“ unangenehme Erinnerungen, zu schnell assoziieren wir die „Volksgemeinschaft“. Doch ich ziele auf etwas anderes, auf den Gemeinsinn, mit dem uns die Japaner schon so oft verblüfft haben. Nach der Tsunami-Katastrophe 2011 zum Beispiel, aber auch während der letzten und vorletzten Fußball-WM, wenn sie nach den Spielen ihrer Mannschaft freiwillig den Müll im Stadion einsammelten.
Was wir bestaunten, ist für sie völlig normal. Selten habe ich mich als Ausländer so wohl und geradezu behütet gefühlt wie in Japan. Dahinter stehen nicht staatliche Vorschriften, die für gegenseitige Rücksichtnahme sorgen, sondern die von jedem einzelnen verinnerlichte Überzeugung, daß er als Teil einer Gemeinschaft immer für die anderen mitzudenken und sich in seiner persönlichen Freiheitsentfaltung einzuschränken hat. Überall wird gelassen Schlange gestanden, selbst in der U-Bahn kommt niemand auf die Idee, mit dem Handy zu telephonieren, im Zug sowieso nicht, auch nach Mitternacht weicht man einander respektvoll auf den Straßen aus. Als während meiner Zeit als Writer-in-residence in Osaka einmal Taifun-Warnung gegeben wurde, waren alle Geschäfte schlagartig zu und blieben es auch, obwohl der Taifun für meinen Geschmack noch nicht mal ein richtiges Unwetter war.
All das wird nicht auf abstrakte Weise dekretiert und vom einzelnen da oder dort als „Respekt“ abverlangt, sondern von Generation an Generation weitergegeben. Das frühe Erlernen von Rücksichtnahme und die damit verbundene Erfahrung eigener Grenzen üben für den Ernstfall. Mag die japanische Regierung gerade in der Anfangsphase der Corona-Krise nicht unbedingt korrekt und aufrecht gehandelt haben, die japanische Gesellschaft hat während der Monate der Ausgangsbeschränkung der Welt ein erneutes Beispiel ihres bestaunenswerten Gemeinsinns gegeben. Ich vermute, sie mußte dazu gar nicht erst eine „neue Solidarität“ in ihrer Gesellschaft entdecken, sie verhielt sich ganz einfach solidarisch, weil sie es so gewohnt ist und für richtig empfindet.
Solidarität leben, ist eben doch etwas ganz anderes als Solidarität bekunden. Sicher, eine derart den gesamten Alltag prägende Solidardisziplin hat ihren Preis, die hohe Selbstmordrate in Japan belegt es. Niemand würde auf die Idee kommen, einen solch unbedingten Gemeinsinn von der deutschen Gesellschaft zu fordern. Auch ich schätze meine persönliche Freiheit über alles, sie ist ein hohes Gut, das nur in Notsituationen vom Staat eingeschränkt werden darf. Man sollte diese beiden Werte in den deutschen Debatten aber nicht immer nur gegeneinander ausspielen, sollte sich auch nicht immer wieder vollmundig für das Solidarprinzip erklären und trotzdem am Ende Eigeninteressen verfolgen. Es reicht ein Blick aufs japanische Modell des gesellschaftlichen Miteinanders, um ganz konkret zu sehen, daß wir in Deutschland keineswegs so solidarisch waren und sind, wie wir uns das gern einreden möchten.