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In den zweieinhalb Kilo geballter Literatur geht es um vieles, was über dem eigenen Tellerrand oder der vertrauten Küstenlinie liegt, darum, was jenseits der Sommerfrischeromantik und Handelsruten zu entdecken ist. Die Anthologie stellt eine verblüffende Vielfalt der Stimmen dar: unter den 106 Autorinnen und Autoren sind nicht nur mehrere Literatur-Nobelpreisträger oder prägende Denker und Romanciers aus der Zeit, da noch keine Literaturpreise verliehen wurden, sondern auch weniger bekannte Autoren, Dichter, die eher als lokale Größen gelten, mittelalterliche Reiseberichte und norddeutsche Sagas, Stimmen der Moderne und der Nachkriegszeit. Es sind die neuen zeitlichen, örtlichen oder thematischen Querverbindungen zwischen bekannten und unbekannten Namen, wodurch die Anthologie viel mehr ist als eine bloße Ansammlung von Texten. Dieser Mehrwert ist bereits beim wonnigen Blättern in dem schön gestalteten Band deutlich spürbar.
Zu der Entdeckerfreude kommt auch eine weitere hinzu, darüber, dass solche Herzensprojekte heutzutage doch noch möglich sind. Die spannende Art und Weise des mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers und Übersetzers Klaus-Jürgen Liedtke, Autoren und Werke zu ordnen, geht eindeutig mit Herzensblut einher: In sieben Kapiteln geht es um Ankunft und Aufbruch, wahre und erfundene Reisen, das Element Wasser, Städte am Meer, Provinzen, Inseln und Peripherien. So wird die Ostsee nicht bloß auf die Küste reduziert und viel mehr Facetten der jeweiligen Literatur können zum Vorschein kommen, es wird abwechslungsreich von Menschen und Städten erzählt, sich Schlachten und Schicksalen gewidmet, indem der Leser in Kiel, Danzig, Tallinn, Riga, St. Petersburg, Helsinki, Stockholm und Kopenhagen, auf Gotland, Rügen, Usedom und der Kurischen Nehrung, in Bornholm, am Ladogasee, in Gotska Sandön und vielen anderen Orten verweilt.
Zurück an der „eigenen“ Küste wird man sich wohl mit zweierlei Bedauern auseinandersetzen müssen. Zum einen darüber, wie wenig des Relevanten und Vorzeigbaren ins Deutsche übersetzt wurde. Zum anderen, dass so ein großes und edel gestaltetes, ja luxuriöses (wohl dank der für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich vielen Förderer) Standardwerk kaum eine Chance hat, übersetzt in Ländern mit kleinem Markt zu erscheinen. Dennoch: Wer Deutsch lesen kann, ist klar im Vorteil, auch dann, wenn es ums Entdecken von Nachbarn und ihren Geschichten geht.
Klaus-Jürgen Liedtke (Hrsg.)
Die Ostsee
Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren
Galiani-Berlin, 2018
ISBN 978-3-86971-175-1
656 Seiten