Erinnern in Deutschland
Was bedeutet eigentlich Erinnerung? – Aleida Assmann im Gespräch
Im Deutschen unterscheidet man zwischen Erinnerung und Gedächtnis. Während Ersteres im Hinblick auf Kultur und Geschichte das Nachdenken und den Austausch persönlicher Erfahrungen meint, die man durchaus mit anderen teilen kann, versteht man unter Letzterem ein Programm zur Selbstbindung größerer „Wir“-Gruppen, etwa die diversen Rituale, mit denen Nationen ihre Vergangenheit lebendig halten. Eine Begriffsbestimmung von Aleida Assmann.
Frau Professor Assmann, Sie haben sich einen Namen als Koryphäe für Erinnerungs- und Gedächtnisforschung gemacht. Wie sind Sie als Anglistin und Literaturwissenschaftlerin dazu gekommen?
Mein Interesse an der Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses ging ursprünglich von Fragen nach der Kultur und ihren Medien aus. In den 1980er-Jahren wurden wir Zeugen der Digitalisierung und damit einer tiefgreifenden Medienrevolution der Schrift. Wie verändert sich das Gedächtnis einer Kultur, wenn sie sich auf ein neues Medium umstellt? Zum selben Zeitpunkt endete in Deutschland die Phase des „kollektiven Beschweigens“. In einer dichten Folge von Jahrestagen und öffentlichen Debatten kehrten die NS-Vergangenheit und der Holocaust ins öffentliche Bewusstsein zurück.
Soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen, Verdrängen und Verschweigen, Selektieren und Zurechtbiegen – dies sind nur einige der Begriffe, mit denen Sie theoretisch jonglieren. Können Sie uns kurz aufklären, wie man als Individuum und Gesellschaft an all diesen Gedächtnisformen in der Praxis teilhat?
Der Übergang ins 21. Jahrhundert markierte Ihrer Meinung nach einen epochalen Wandel in Bezug auf die Erinnerungskultur. Können Sie rückblickend auf das vergangene Jahrzehnt erläutern, wo sich Veränderungen bemerkbar gemacht haben?
Eine wichtige Verschiebung in der Logik der Erinnerung ergab sich dadurch, dass nicht nur heroische Taten großgeschrieben wurden, sondern auch dem individuellen Leiden Raum gegeben und Verbrechen erinnert wurden, die man lieber vertuscht hätte. Die rückwirkende Anerkennung von Verbrechen und Traumata ist ein wichtiger Faktor geworden, der die Erinnerungslandschaft weltweit grundlegend verändert.
Nun gelten die Deutschen mit ihrem exzessiven Hang zur Bewältigung der NS-Vergangenheit ja vielen als „Weltmeister des Erinnerns“. Könnte die Welt am deutschen Wesen genesen, wenn sie sich diesbezüglich ein Beispiel an uns nehmen würde?
Erfahrungsgemäß lassen sich Staaten nicht von anderen vorschreiben, was und wie sie zu erinnern haben. Man kann in diesem Punkt weniger durch Vorschriften als vielmehr durch Beispiele und Vorbilder erreichen. Das deutsche Modell besteht darin, die selbsterhöhende Logik des Erinnerns auf den Kopf zu stellen und die eigene Schuld ins Zentrum des nationalen Gedächtnisses zu rücken. Das Bekenntnis zu nationaler Schuld bedeutet gerade nicht, wie viele befürchten, eine Befleckung des kollektiven Selbstbildes, sondern schafft die Möglichkeit einer Identitätswende, indem sich eine Nation ausdrücklich von den Verbrechen der eigenen Geschichte distanziert und zu zivilgesellschaftlichen Werten bekennt.
Was die DDR-Vergangenheit betrifft, herrscht dagegen eher „Ostalgie“ vor. Wie kommt es zu dieser merkwürdigen Diskrepanz?