Aufgabe 5
Stimmen

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Ebling öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er wußte, daß jemand anderer sich nun sehr erregt hätte – aber so etwas lag ihm nicht, er war nicht begabt darin. Er drückte die Auflegetaste.
Sekunden später läutete es wieder. „Ralf?“ frage ein Mann.
„Nein.“
„Was?“
„Diese Nummer ist ... Sie wurde aus Versehen ... Sie haben sich verwählt.“
„Das ist Ralfs Nummer!“
Ebling legte auf und steckte das Telefon in die Jackentasche. Die S-Bahn war wieder überfüllt, auch heute mußte er stehen. Von der einen Seite preßte sich eine fette Frau an ihn, von der anderen starrte ein schnurrbärtiger Mann ihn an wie einen verschworenen Feind. Es gab viel, das Ebling an seinem Leben nicht mochte.
Es störte ihn, daß seine Frau so geistesabwesend war, daß sie so dumme Bücher las und daß sie so erbärmlich schlecht kochte. Es störte ihn, daß er keinen intelligenten Sohn hatte und daß seine Tochter ihm so fremd vorkam. Es störte ihn, daß er durch die zu dünnen Wände immer den Nachbarn schnarchen hörte. Besonders aber störten ihn die Bahnfahrten zur Stoßzeit. Immer so eng, immer voll, und gut gerochen hatte es noch nie.
Seine Arbeit aber mochte er. Er und Dutzende Kollegen saßen unter sehr hellen Lampen und untersuchten defekte Computer, die von Händlern aus dem ganzen Land eingeschickt wurden. Er wußte, wie fragil die kleinen denkenden Scheibchen waren, wie kompliziert und rätselhaft.
Niemand durchschaute sie ganz; niemand konnte wirklich sagen, warum sie mit einemmal ausfielen oder sonderbare Dinge taten. Man suchte schon lange nicht mehr nach Ursachen, man tauschte einfach so lange Teile aus, bis das ganze Gebilde wieder funktionierte.
Oft stellte er sich vor, wieviel in der Welt von diesen Apparaten abhing, von denen er doch wußte, daß es immer eine Ausnahme war und ein halbes Wunder, wenn sie genau das taten, was sie sollten. Abends im Halbschlaf beunruhigte ihn diese Vorstellung – all die Flugzeuge, die elektronisch gesteuerten Waffen, die Rechner in den Banken – manchmal so sehr, daß er Herzklopfen bekam. Dann fragte Elke ihn ärgerlich, warum er nicht ruhig liege, da könnte man sein Bett ja ebensogut mit einer Betonmischmaschine teilen, und er entschuldigte sich und dachte daran, daß schon seine Mutter ihm gesagt hatte, er sei zu empfindsam.
Als er aus der Bahn stieg, läutete das Telefon. Es war Elke, die ihm sagte, er solle noch Gurken kaufen, heute abend auf dem Heimweg. Im Supermarkt in ihrer Straße gebe es die jetzt besonders billig.
Ebling versprach es und verabschiedete sich schnell. Das Telefon läutete wieder, und eine Frau fragte ihn, ob er sich das gut überlegt habe, auf so eine wie sie verzichte man nur, wenn man ein Idiot sei. Oder sehe er das anders?
Nein, sagte er, ohne nachzudenken, er sehe das genauso.
„Ralf!“ Sie lachte.
Eblings Herz klopfte, sein Hals war trocken. Er legte auf.
Den ganzen Weg bis zur Firma war er verwirrt und nervös. Offensichtlich hatte der ursprüngliche Besitzer der Nummer eine ähnliche Stimme wie er. Wieder rief er beim Kundendienst an.
Nein, sagte eine Frau, man könne ihm nicht einfach eine andere Nummer geben, es sei denn, er bezahle dafür.
„Aber diese Nummer gehört jemand anderem!“
Unmöglich, antwortete sie. Da gebe es – „Sicherungen, ich weiß! Aber ich bekomme ständig Anrufe für ... Wissen Sie, ich bin Techniker. Ich weiß, daß sich bei Ihnen dauernd Leute melden, die von nichts eine Ahnung haben. Aber ich bin vom Fach. Ich weiß, wie man -“
Sie könne gar nichts tun, sagte sie. Sie werde sein Anliegen weiterleiten.
„Und dann? Was passiert dann?“
Dann, sagte sie, werde man weitersehen. Aber dafür sei sie nicht zuständig.
An diesem Vormittag konnte er sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Seine Hände waren zittrig, und in der Mittagspause hatte er keinen Hunger, obwohl es Wiener Schnitzel gab. Die Kantine hatte nicht oft Wiener Schnitzel, und normalerweise freute er sich schon am Tag vorher darauf. Diesmal jedoch stellte er sein Tablett mit dem halbvollen Teller in die Stellage zurück, ging in eine stille Ecke des Eßsaals und schaltete sein Telefon ein.
Drei Nachrichten. Seine Tochter, die vom Ballettuntericht abgeholt werden wollte. Das überraschte ihn, er hatte gar nicht gewußt, daß sie tanzte. Ein Mann, der um Rückruf bat. Nichts an seiner Nachricht verriet, wem sie galt: ihm oder dem anderen. Und dann eine Frau, die ihn fragte, warum er sich so rar machte. Ihre Stimme, tief und schnurrend, hatte er noch nie gehört. Gerade als er ausschalten wollte, läutete es wieder.
Die Nummer auf dem Bildschirm begann mit einem Pluszeichen und einer zweiundzwanzig. Ebling wußte nicht, welches Land das war. Er kannte fast niemanden im Ausland, nur seinen Cousin in Schweden und eine dicke alte Frau in Minneapolis, die jedes Jahr zu Weihnachten ein Foto schickte, auf dem sie grinsend ihr Glas hob. Auf die lieben Eblings stand auf der Rückseite, und weder er noch Elke wußte, wer von ihnen eigentlich mit ihr verwandt war. Er hob ab.
„Sehen wir uns nächsten Monat?“ rief ein Mann. „Du bist doch auf dem Locarno-Festival? Die werden das nicht ohne dich durchziehen, nicht unter diesen Umständen, Ralf, oder?“
„Bin wohl dort“, sagte Ebling.
„Dieser Lohmann. War ja zu erwarten. Hast du mit den Leuten von Degetel gesprochen?“
„Noch nicht.“
„Wird aber Zeit! Locarno kann uns sehr helfen, wie Venedig vor drei Jahren.“ Der Mann lachte. „Und sonst? Clara?“
„Jaja“, sagte Ebling.
„Du altes Schwein“, sagte der Mann. „Ist ja unglaublich.“
„Finde ich auch“, sagte Ebling.
„Bist du erkältet“ Du klingst komisch.“
„Ich muß jetzt ... was anderes machen. Ich rufe zurück.“
„Schon gut. Änderst dich nie, was?“

Der Mann legte auf. Ebling lehnte sich an die Wand und rieb seine Stirn. Er brauchte einen Moment, bis er sich wieder zurechtfand: Dies war die Kantine, rings um ihn aßen die Kollegen Schnitzel.


Wir erfahren einiges über Ebling und auch über Ralf.
 

Welche Aussagen passen zu Ebling, welche passen zu Ralf?

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