Spielfilm Trümmermädchen - Mittwochskino

Trümmermädchen Foto: Copyright - © Artkeim² / UCM.ONE GmbH

Mi, 16.10.2024

19:30 Uhr

Goethe-Institut Peru

Regie: Oliver Kracht, 2021, Farbe, 126 min

Trümmermädchen - Die Geschichte der Charlotte Schumann

Deutschland 1946: Fünf Mädchen lernen von einer ehemaligen Filmdiva nicht nur, wie sie zu provokanten Verführerinnen werden, sondern vor allem, wie das sexuelle Machtverhältnis zwischen Mann und Frau funktioniert. Sie dekonstruieren ihre Biografien samt entsprechenden Rollenbildern und werden anschließend radikal zur Emanzipation erzogen. Das zeigt Oliver Kracht visuell teils wild und plakativ, teils erzählt er realistisch von Liebe und von Sehnsucht nach Erfolg, getragen wird das Kammerspiel von fantastischen Schauspielerinnen.

Hier der Trailer zum Film!

MEHR ZUM FILM

Zu Beginn sieht man Archivmaterial über Deutschland, Stunde null. Der zweite Weltkrieg ist vorbei, letzte Zeugnisse der Nazis werden niedergerissen. Eine Stadt, Berlin vermutlich, liegt in Trümmern, die hungernde Bevölkerung wühlt im Dreck. Darüber erzählt die Stimme von Lotte Schumann, Hauptfigur des folgenden Films, in sachlichem Ton, dass sie schwanger sei von einem Soldaten, den sie liebt. Gegenliebe gibt es nicht, er möchte, dass sie das Kind abtreibt. Lotte besucht ein leerstehendes Theater, das „Proto“, dort will sie sich bei der Filmdiva Gloria Deven zu einem Kurs anmelden. Lotte ist verhärmt, Gloria gepflegt und herrisch in ihrem Auftreten. Von dem bösen Dialog zwischen beiden versteht man wenig, klar ist nur, dass Lotte lernen will, ihren Geliebten zurückzuerobern. Die Kamera ist nah auf beiden Gesichtern, man sieht die Verzweiflung Lottes und den Hochmut von Gloria, die, soviel versteht man allemal, die Liebe und die unterwürfige Rolle der Frauen darin verachtet. Es folgt eine wilde graphische Sequenz, in der man auf grellrotem Untergrund mit pornografischen Einsprengseln den Titel der ersten Kursstunde liest, „Der Ursprung jeglichen Übels“. Spätestens dann ist man von Oliver Krachts Film gefesselt.

Der Kurs ist montags im „Proto“, er ist geheim, fünf Mädchen nehmen daran teil. Gloria beginnt mit einer Exkursion über den Untergang des Matriarchats, herbeigeführt von Männern, die selbst an die Macht wollen. Schnell landet sie beim Sex als Mittel zur Unterwerfung, die schüchternen Mädchen sind überfordert, Gloria gibt nicht nach. Sie lässt eine von ihnen ihre Lebensgeschichte erzählen: Die wird von ihrem Vater missbraucht und ist stolz darauf, weil er sie der Mutter vorzieht. Nach dem äußerst schmerzhaften Geständnis setzt Gloria ihr den Kopf zurecht, sie zwingt sie, den Vater anzuzeigen. In den folgenden Stunden freunden sich die Mädchen an. Sie wissen, dass Gloria in Nazifilmen mitgespielt hat, jetzt will sie in Hollywood ein Star werden. Das wird schwierig mit dieser Vergangenheit, obwohl ein Regisseur aus USA ihr schon ein Drehbuch anbietet. Ihren Unterricht widmet Gloria den sexuellen Mechanismen und dem Machtverhältnis, das diese herstellen. Sie fordert eine sexuelle Revolution mit Hilfe von Verführung, Lust, Manipulation, Kontrolle, sie schafft Praxisnähe mit Dildos und expliziten Worten.

Jede der Kursstunden wird plakativ angekündigt, hat eine pathetische Überschrift und erzählt dann, neben dem steten Aufruf zur Selbstermächtigung, von den Biografien der Teilnehmerinnen. Schrecklich sind sie alle, ob es sich um Verschüttung im Bombenkrieg handelt oder um Vergewaltigung durch die Soldaten der Befreiungsarmeen. Auch die Geschichte zwischen Lotte und ihrem Kindsvater Ludwig geht weiter, um exemplarisch die Frage nach der Liebe zu beantworten. Lotte hat gelernt, sich Ludwig mit Sex hörig zu machen, allerdings werden seine Liebes- und Treueschwüre genau durch sein Begehren wieder unterlaufen: Lotte stimmt zu, dass eins der Mädchen ihm sexuelle Offerten macht. Sie glaubt fest, er werde ablehnen. Als er das nicht tut, ist klar, dass auf Männer niemals Verlass sein wird. Die Mädchen reagieren aggressiv auf diese Erkenntnis, und endlich tragen sie ihre Wut nach außen. Die Kriegsheimkehrer, alle übergriffig, werden brutal für jede sexuelle Belästigung bestraft. Allmählich verändern sich die Mädchen radikal. Lotte treibt ab, alle wollen einen Beruf lernen, selbständig sein, ihre Freiheit haben. Aber für ein Happy End ist Krachts Film nicht bereit. Erst wird Gloria noch mit ihrer finsteren Vergangenheit konfrontiert, mit einem gewalttätigen Ehemann, und letztlich wird sie dabei ertappt, dass sie die Mädchen verrät – sie imitiert deren Schreckensgeschichten, um in der Ami-Schnulze über Deutschland die Hauptrolle als „Trümmermädchen“ zu bekommen. Das fliegt auf, die Mädchen wenden sich von ihr ab. Nur Lotte will Rache, sie versucht, ihr die Rolle wegzuschnappen. Aber als das nach einem atemberaubenden Vorsprechen tatsächlich klappt, lehnt Lotte lachend ab. Sie will in ihrem Leben nicht die Marionette eines Mannes sein, Regisseur hin oder her.

Und das ist dann doch ein Happy End für diesen Film, egal ob man da eine Männer- oder eine Frauenfantasie gesehen hat. Doris Kuhn (01.04.2022)


Kritiken, Empfehlungen, Presseschau:

Oliver Kracht hat sein kluges Drehbuch TRÜMMERMÄDCHEN in einen theatralen, kraftvollen Film umgesetzt, der ein hochaktuelles Thema im historischen Kontext der Nachkriegszeit geradezu filetiert: Mit einem umwerfenden Frauen-Ensemble entblättert er das männliche und das weibliche Prinzip. (Bavaria Film) Wir sind dankbar, dass wir diesen Film weitgehend ohne redaktionelle Einflüsse herstellen konnten. Nur so war in jedem Department freies Arbeiten möglich, wollten wir schließlich einen Kinofilm produzieren, der radikal und kompromisslos hinterfragt, ob wir wirklich so viel weiter sind mit dem Patriarchat und/oder faschistischen Strukturen seit 1946. Dies ist gelungen, denke ich. TRÜMMERMÄDCHEN wird provozieren und polarisieren, und vor allem bestens unterhalten. (Oliver Kracht)

Das Narrativ der Trümmerfrauen mit einer Geschichte der weiblichen Emanzipation und der sexuellen Revolution zu verbinden, ist auf dem Papier eine grandiose Idee. Krieg wird auch als psychosoziale Disruption verstanden. Was wie ein Verführungskurs beginnt, wird zu einer feministischen Kämpfergruppe, die das weibliche Leid durchschreitet – das nicht erst der Krieg mit sich gebracht hat. (epd Film) Allein ob seiner formalen Wagnisse und seines sympathisch-provokanten Erzählens würde man TRÜMMERMÄDCHEN wünschen, dass das filmische Experiment gelingt. Doch zwischenzeitlich verliert Kracht den Fokus, führt mit Glorias Ehemann eine Figur ein, die vom Wesentlichen ablenkt, und vernachlässigt die eingangs sorgsam etablierte Erzählform. Die Vorschusslorbeeren, die der Film erhielt, sind dennoch gerechtfertigt. Schon wegen seiner genüsslich vorgebrachten Widerständigkeit – sei es nun gegen das Patriarchat oder die zeitweilige Behäbigkeit des deutschen Kinos. (Der Freitag)

Preise:
Berlinale 2019: Thomas Strittmatter Preis für das beste unverfilmte Drehbuch
Hofer Filmtage 2021: Bestes Kostümbild. Bestes Szenenbild.
Förderpreis Neues Deutsches Kino 2021: Lobende Erwähnung

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