Regie: Ulrike Ottinger, 2011, Farbe, 108 min
In the Name of Scheherazade oder Der erste Biergarten in Teheran
In der japanischen Provinz Echigo herrscht tiefer Winter. So märchenhaft das Schneeland auch aussehen mag, so mühsam ist das Leben in der weißen Kälte für die Bewohner der Region. Ulrike Ottinger beobachtet das aktuelle Leben und schickt gleichzeitig zwei Darsteller auf eine Reise in die Vergangenheit der Gegend. UNTER SCHNEE ist kein realistischer Dokumentarfilm über eine Landschaft oder eine Erkundung ihrer Mythen es ist viel eher ein Essay, geschrieben mit den Mitteln die das Kino der Regisseurin zur Verfügung stellt.
Hier der Trailer zum Film!
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Takeo und Mako wollen das Neujahrsfest im Schneeland verbringen. Angereist mit Japans hochmodernem Schnellzug Shinkansen finden sie sich, auf dem Weg zu ihrer Herberge, in einem einsamen, tief verschneiten Winterwald wieder. Sie wollten an den Feier-Ritualen teilnehmen. Doch sie verlieren die Orientierung, örtlich und dann auch zeitlich, die Reise führt aus der Gegenwart in die Vergangenheit.
Zunächst zeigt Ulrike Ottinger noch die Bilder, die sich die beiden Reisenden vorgestellt hatten: Ein Bad in einer heißen Quelle, Gebete und Meditationen im Tempel, die Zubereitung der Festspeisen in einer modernen Küche, eine opulente Mahlzeit - doch an Stelle der beiden Wanderer sind es nun Frauen, die erleben, was sich die Reisenden ausgemalt hatten, während die beiden Männer orientierungslos in tiefer Nacht in einem einsamen Haus Unterschlupf finden. Eine ältere Frau serviert ihnen Sake und erklärt, sie dürften bleiben, aber auf keinen Fall ein bestimmtes Zimmer betreten.
Mit diesem uralten Märchen-Motiv führt der Film zielstrebig in die untergegangene Welt der Edo-Zeit, in ihre Mythen und Geheimnisse; insgeheim setzt die Regisseurin selbst den Weg der abhanden gekommenen Wanderer fort und beobachtet mit der Kamera, was aus der Vergangenheit in den überkommenen Ritualen der Gegenwart nachwirkt. Eine Füchsin, heißt es, habe den beiden Wanderern den Weg in das einsame Haus gewiesen; sie hat sich in Takeo verliebt und wird sich in eine wunderschöne Frau aus der Edo-Zeit verwandeln und mit dem ebenfalls in die Vergangenheit zurückversetzten Wanderer, nun beide als Kabuki-Darsteller auftretend, rastlos durch den tief verschneiten Winterwald ziehen und längst verstorbenen Menschen und ihren Lebensumständen begegnen.
Sichtbar wird dabei der enge Zusammenhang zwischen Religion, rituellem Brauchtum und den Anforderungen, die der harte Alltag einst an die Menschen im Schneeland stellte. Das reicht von den Opfergaben für Weg- und Berggötter bis zu den Liedern und Bräuchen, mit denen die Menschen heute an die Schwierigkeiten des Lebens von einst erinnern - zum Beispiel an den Kampf gegen Reis fressende Vögel. Ulrike Ottinger beobachtet die Kinder eines heutigen Abts beim Spiel, im Freien, im Haus und auch im Tempel. Sie beobachtet Frauen, die meterlange pastellfarbige Bahnen des von ihnen gewebten „Crêpe de Chine" im Schnee ausrollen. Was aussieht wie Landart, ist Teil der Arbeit: Der hochwertige Seidenstoff muss im Schnee gebleicht werden, bei höheren Temperaturen würde er brechen.
Immer wieder geht es aus der Gegenwart zurück in den Mythos: Der Film erzählt auch von einer Weberin, die von einem bösen Berggeist in den Wahnsinn getrieben wurde - und in diesen inszenierten Rückblenden taucht regelmäßig das verwandelte Kabuki-Paar auf; als Zeitzeugen der Vergangenheit begegnen sie auf ihrer winterlichen Odyssee den Ursprüngen der Mythen, die sich in den Bräuchen und Ritualen der Gegenwart erhalten haben. So pendelt der Film beharrlich zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Gegenwart und Tradition, Realismus und Magie, bis das erschöpfte Kabuki-Paar tot in den Schnee sinkt und drei blinde Wander-Musikerinnen nicht nur die Leichen, sondern einen Neugeborenen finden, der ein begnadeter Schauspieler wurde, ausgestattet mit enormen Fähigkeiten, da er einen „Menschenvater und eine Tiermutter" hatte.
Noch einmal setzt der Film die mythische Ebene fort, erzählt - auch am Beispiel einer Theateraufführung, eine Geschichte von Liebe und Tod, von Treue und Verrat. Der begnadete Schauspieler wurde vom Kaiser auf die Insel Sado verbannt, musste in einer Goldmine schuften, sah das Tageslicht nie wieder und wurde ein Dichter. Zurück in der Gegenwart besucht Ottinger die Insel; in der Mine erinnern heute zahlreiche, mechanisch bewegte Figuren an die Torturen der einstigen Bergarbeiter.
„Ausgelöst wurde mein Interesse durch ein japanisches Buch, das im letzten Jahrhundert Furore machte, und das die Lebensbedingungen der Menschen im Schneeland beschrieb, an denen sich bis heute kaum etwas verändert hatte. An der Sibirien zugewandten Gebirgsküste Japans schneit es sehr häufig, und alles liegt ein halbes Jahr unter einer meterhohen Schneedecke. Die Bewohner dieser Region mussten ganz neue Lebensweisen, auch Überlebensstrategien entwerfen. Dies ist ihnen auf oft verblüffende Weise gelungen, sogar ohne auf ihre Feste, Rituale und sonstige Annehmlichkeiten zu verzichten. Alle Aktivitäten sind über oder auch unter den Schnee verlegt, und selbst ein Kabuki-Theater mit dem Blumensteg zum Auftritt der Stars wird aus Schnee gebaut. Bei diesem Stoff ist es so, dass in ihm fast alle meine Interessen kulminieren, östliche Theaterformen wie Kabuki, No oder Bunraku, Musik, atemberaubende Landschaften, kreative Menschen, welche unter erschwerten Bedingungen ihren Alltag meistern und sich zusammenfinden, um gesellschaftlich und künstlerisch zu arbeiten."(Ulrike Ottinger)
„Das Materielle und das Mythische sind der Stoff, aus dem Ulrike Ottinger ihre Filme macht, sie bildet sie ab in ihrer Verschränkung, wie aus natürlichen Prozessen gesellschaftliche Rituale entstehen und wieder zurückwirken auf die Natur." (Süddeutsche Zeitung)
Der Film endet mit langen Totalen, die Kamera blickt hinaus auf das wogende Meer, auf Felsen, Wellen und Gischt, auf „die rasende See - nur die Milchstrasse führt noch hinüber!" Ein Bild der zeitlosen Unendlichkeit.
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