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Neue Technologien in der Kunst
Pinsel, Dateien und Pixel

Ein Stück aus Radiance VR – Rindon Johnson, My Daughter Aaliyah, 2016, artistic VR experience
Ein Stück aus Radiance VR – Rindon Johnson, My Daughter Aaliyah, 2016, artistic VR experience | © Radiance VR; Pressematerial

Die Berliner Kuratorin und Kunstkritikerin Tina Sauerländer, die sich mit dem Einsatz neuer Technologien in der Kunst beschäftigt, spricht mit Anna Sańczuk darüber, wie die Kunst der Zukunft aussehen wird, welche Möglichkeiten die digitale Welt für Künstler und Rezipienten bietet und ob Kunstwerke „greifbar“ sein müssen, um eine Wirkung auf uns zu haben.

Tina Sauerländer, eine der aktivsten Akteurinnen der jungen Berliner (und nicht nur Berliner) Kunstszene, war im Oktober zu Besuch in der polnischen Hauptstadt, um an einer vom Goethe-Institut Warschau organisierten Podiumsdiskussion zum Thema Kunst und künstliche Intelligenz teilzunehmen – und sie hatte einiges zu diesem Thema beizutragen! 2010 gründete sie gemeinsam mit Maja Block die Ausstellungsplattform „peer to space“, die Künstler, Galerien und Kunstinteressierte miteinander vernetzen und offen für neue Technologien und neue künstlerische Ausdrucksformen sein sollte – ein Beleg hierfür sind nicht zuletzt die auf „peer to space“ realisierten Online-Ausstellungen, die ausschließlich im Internet zu sehen sind. Außerdem ist Tina Sauerländer Mitbegründerin der internationalen Online-Plattform „Radiance“ für die Recherche von künstlerischen Virtual-Reality-Erfahrungen. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt, wie sie selbst sagt, „auf dem Einfluss des Digitalen und des Internets auf individuelle Umfelder und Gesellschaft“.

Tina Sauerländer Tina Sauerländer | © Melina Volkmann Anna Sańczuk: Ist der Vormarsch digitaler Technologien und des Internets in der Kunst nicht mehr aufzuhalten? Bedeutet das Verschwinden materieller Kunstwerke, wie es Gemälde und Skulpturen jahrhundertelang waren, nicht auch den Verlust einer unmittelbaren und sinnlichen Erfahrung?

Tina Sauerländer: Schon als das Fernsehen aufkam, sagten viele voraus, die Menschen würden aufhören, Bücher zu lesen, ins Kino zu gehen und sich miteinander zu unterhalten, und doch ist dies nicht eingetreten. Unterschiedliche Kunstrichtungen, unterschiedliche Werkzeuge und Materialien – Pinsel und Farben, Dateien und Pixel – existieren nebeneinander und werden auch in Zukunft nebeneinander existieren. Und da uns digitale Technologien heutzutage auf Schritt und Tritt begleiten, wäre es sinnlos, so zu tun, als wäre dem nicht so. Neben den offensichtlichen Gefahren bringen sie auch neue, aufregende Möglichkeiten für das Leben und die Kunst mit sich. Ich habe mal eine Folge einer Science-Fiction-Serie gesehen, in der die Protagonisten mithilfe einer Fernbedienung die an ihren Wänden angezeigten Landschaftsbilder verändern konnten. Wäre so etwas nicht eine ausgezeichnete Idee, um Menschen mit Kunst in Berührung zu bringen? Man kann heutzutage bereits Teppiche aus Lichtleitfasern herstellen, die Filme abspielen können – daran wird bereits gearbeitet. Und solche experimentellen Technologien werden irgendwann günstiger und für jedermann verfügbar sein. Schließlich sind auch wir beide in einer Welt ohne Mobiltelefone groß geworden, und jetzt nimmst du unser Gespräch mit deinem Smartphone auf.

2010 hast du gemeinsam mit einer Freundin die Internetplattform „peer to space“ gegründet, die Künstler und ihre Werke, neue digitale Technologien und Kunstinteressierte miteinander verbindet. Was war euer Ziel?

Wir wollten zwischen eben diesen Welten vermitteln. Künstler beschäftigen sich stets mit dem ewig Menschlichen, doch sie suchen dabei oft nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen und betrachten dabei – als gesellschaftliche Wesen – die Gesellschaft mithilfe der Kunst als einen Organismus, den wir alle gemeinsam erschaffen. Meine Aufgabe ist es, dieses Spektrum zu erfassen und zu versuchen, das, was die Künstler mit ihren Werken ausdrücken wollen, für den Betrachter verständlich zu machen und ihm zu vermitteln, dass es uns alle und die Welt, in der wir leben, betrifft. Die Ausstellungen, die wir in „peer to space“ organisieren, haben immer etwas damit zu tun, wie wir leben und wie sich unser Alltag unter dem Einfluss digitaler Technologien verändert.

Aber was ist mit jenen Rezipienten, die sich in dieser technologischen, computerisierten Umgebung einfach nicht wohlfühlen? Nicht jeder Kunstbegeisterte ist schließlich ein „Digital Native“.

Das stimmt, ich bin zum Beispiel keiner. Aber das ist auch eine interessante Herausforderung für mich als Kuratorin und Kunstvermittlerin, möglichst viele unterschiedliche Gruppen von Rezipienten zu erreichen. Deshalb organisieren wir auf „peer to space“ vor allem Gruppenausstellungen mit Künstlern, die unterschiedliche Medien und unterschiedliche Werkzeuge verwenden. Wir präsentieren Virtual-Reality-Kunst und digitale Kunst, aber auch Gemälde, Fotografien und Skulpturen, damit möglichst jeder dort etwas findet, was ihm zusagt. Die Arbeiten haben lediglich ein gemeinsames Thema, und wenn dieses Thema das Interesse des Betrachters weckt, dann kann dies dazu beitragen, dass er durch den Besuch unserer Ausstellung einen Zugang zu digitaler Kunst und ein Verständnis für neue Ideen entwickelt.

Ihr organisiert nicht nur Ausstellungen in diversen Berliner Galerien, sondern seit einiger Zeit auch Online-Ausstellungen, die ausschließlich im Internet zu sehen sind. Woher kam diese Idee und wie bewährt sie sich in der Praxis?

Die Idee zu den Online-Ausstellungen kam aus der digitalen Kunstszene, von Carla Gannis, die eine Ausstellung mit digitalen Selbstporträts in der New Yorker Galerie Transfer in Brooklyn organisierte. Zum Abschluss der Ausstellung forderte Carla zahlreiche Künstler dazu auf, animierte „Selfie-Self Portraits“ zu erstellen. Als es darum ging, was mit dem auf diese Weise entstandenen „Material“ geschehen sollte, wandte sich Carla an mich, und so entstand im März 2016 „Nargifsus“, unsere erste Online-Ausstellung, die ausschließlich im Internet zu sehen war. Heute kann man sie sich leider nicht mehr ansehen, weil die Plattform, auf der wir die Werke ausgestellt haben, inzwischen geschlossen wurde. Damals jedoch konnten wir auf diese Weise eine Ausstellung mit Werken von fünfzig renommierten Künstlern aus aller Welt realisieren, die in einer wirklichen Galerie niemals hätten stattfinden können, weil es einfach zu kostspielig gewesen wäre. Außerdem konnte sich jeder diese Werke sieben Tage die Woche rund um die Uhr ansehen – die Veranstaltung hatte also einen wesentlich demokratischeren Charakter als eine klassische Ausstellung in einer Galerie!

Bisher habt ihr fünf Online-Ausstellungen organisiert, bei denen ihr überwiegend rein digitale Kunstwerke präsentiert habt. Eure letzte Ausstellung „Claiming Needles“ enthielt jedoch auch Werke, die durchaus „greifbar“ waren.

Wir wollten gerne eine Online-Ausstellung zu einem so „materiellen“ Thema wie der Stickereikunst organisieren. Wir luden sowohl Künstlerinnern und Künstler ein, die bereits Erfahrungen im Bereich digitaler Kunst gesammelt hatten, als auch solche, die bisher ausschließlich mit traditionellen Methoden gearbeitet hatten – und zu unserer großen Freude waren alle begeistert von unserer Idee. Die Ergebnisse kannst du dir auf unserer Seite ansehen, und diese Ausstellung wird hoffentlich nicht so schnell wieder von der Bildfläche verschwinden! Einige der Arbeiten sind ausschließlich als Fotografien zu sehen, doch daneben gibt es auch Werke von Künstlern, wie der großartigen Alma Alloro, die Stickereien erschafft und sie anschließend fotografiert und digital animiert.

Ist der Kunstmarkt bereit für digitale Kunstwerke, die ja ausschließlich als Dateien existieren? Wie sieht es in diesem Fall mit dem Urheberrecht aus?

Der traditionelle Kunstmarkt ist eher konservativ, er konzentriert sich hauptsächlich auf materielle Unikate und versucht, auch digitale Kunstwerke auf diese Weise zu handhaben, zum Beispiel durch eine Beschränkung der Anzahl von Kopien, wie es bei Fotografien der Fall ist. Doch in der digitalen Welt funktioniert das nicht, weil eine Datei unendlich oft verlustfrei kopiert werden kann. Man muss also andere Wege finden, damit Künstler auch mit digitalen Kunstwerken Geld verdienen können. Aus diesem Grund haben wir gemeinsam mit Künstlern das Projekt „Radiance“ ins Leben gerufen, eine Online-Plattform für die Recherche von künstlerischen Virtual-Reality-Erfahrungen. Wir haben bereits achtzig Mitglieder, und es kommen immer mehr hinzu. Unser Ziel ist es, dass „Radiance“ in Zukunft für Virtual-Reality-Kunst das sein wird, was Netflix für Filme oder iTunes für Musik ist. Diese „Industrien“ haben nämlich bereits Möglichkeiten entwickelt, wie man Video- und Musikdateien im Internet verfügbar machen und gleichzeitig Geld mit ihnen verdienen kann. Etwas Ähnliches wollen wir mit „Radiance“ auch für die Virtual-Reality-Kunst schaffen, weil wir davon überzeugt sind, dass diese Technologien irgendwann ein ganz selbstverständlicher Bestandteil unseres Alltags sein werden und immer mehr Menschen allmählich ein Bewusstsein dafür entwickeln, auf wie viele unterschiedliche Weisen sie das Internet nutzen können. Wir werden Virtual-Reality-Kunst zu Hause streamen, so wie wir es heute bereits mit Filmen tun. Das ist selbstverständlich noch Zukunftsmusik, aber irgendwann werden VR-Brillen und andere Virtual-Reality-Anwendungen sicherlich den Massenmarkt erobern. Obwohl sich viele Menschen zunächst nicht vorstellen konnten, irgendwann einmal für Contents im Internet zu bezahlen, und zum Beispiel massenweise Filme illegal herunterluden, ist es heute bereits ganz normal, dass wir für den Zugang zu Musik oder Fernsehserien Geld bezahlen. Wir haben uns einfach daran gewöhnt, und so sollte es auch in der Kunst sein. Zurzeit arbeiten wir gemeinsam an diesem Konzept.

Wie viele Besucher sehen sich eure Online-Ausstellungen an? Hat dieses Ausstellungsformat eine Zukunft?

Unsere erste Online-Ausstellung „Nargifsus“ hatte zwischen 3000 und 4000 Besucher, also ungefähr so viele, wie eine durchschnittliche kleine Ausstellung in einer wirklichen Galerie. Auch bei den nachfolgenden Ausstellungen gehen die Besucherzahlen bereits in die Tausende. Man spürt, dass das Bedürfnis nach Online-Kunst allmählich wächst – und die Besucherzahlen im Internet sind praktisch unbegrenzt. In Paris entsteht derzeit eine virtuelle Galerie mit digitalen Kunstwerken, auch die Züricher Galerie Rosenberg entwickelt eine eigene virtuelle Galerie, es passiert momentan einiges in diesem Bereich.

Mir gefällt sehr, wie du – sowohl auf „peer to space“ als auch auf „Radiance“ – versuchst, die Position von Frauen in der Kunst, auch in der Digitalkunst, zu stärken. Ihr setzt nicht nur auf neue Medien, sondern auch auf neue Sichtweisen zu politischen und genderbezogenen Themen, zu Minderheitenrechten und gesellschaftlichen Mustern. Lassen sich mithilfe von neuen Medien auch neue Inhalte leichter vermitteln?

Dies war in der Kunst schon öfter der Fall, zum Beispiel in den Sechzigerjahren, als viele Künstlerinnen, wie zum Beispiel Carola Schneemann oder Ulrike Rosenbach, zwei bekannte Performance-Künstlerinnen, die Videokunst für sich selbst als eine Möglichkeit des künstlerischen Ausdrucks entdeckten, die noch nicht von patriarchalischen Strukturen durchdrungen war. Heute sehe ich immer mehr Künstlerinnen, die digitale Technologien in ihrer Kunst verwenden, und diesen Trend wollen wir auch in unseren Ausstellungen dokumentieren, indem wir versuchen, ebenso viele weibliche wie männliche Künstler einzuladen. Auch auf „Radiance“ ist dieses Gleichgewicht gewahrt, während andere Virtual-Reality-Plattformen leider bereits von Männern dominiert sind.

Was fasziniert dich am meisten an digitaler Kunst?

Ich bin begeistert von den Möglichkeiten, die die Virtual-Reality-Kunst bietet. In der virtuellen Welt kannst du zum Beispiel die Größe von Objekten in Relation zum eigenen Körper erfahren, so wie in der physischen Welt. Wenn du dir einen gewöhnlichen Film, ein Gemälde oder eine Fotografie ansiehst, benötigst du irgendeinen Bezugspunkt, um die Proportionen erfassen zu können. Aber wenn du einem Elefanten in der virtuellen Welt begegnest, spürst du seine Größe – und obendrein kann es auch ein rosa Elefant sein, der tanzt. In dieser Welt kann alles real sein, sogar Meerjungfrauen und Einhörner, dies ist auch der Titel, den wir für eine unserer Online-Ausstellungen gewählt haben. Für eben solche Erfahrungen benötigen wir digitale Technologien in der Kunst!
 

Tina Sauerländer

ist Kunsthistorikerin, freie Kuratorin und Autorin. Sie ist Mitbegründerin und Leiterin der unabhängigen Ausstellungsplattform „peer to space“. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf dem Einfluss des Digitalen und des Internets auf individuelle Umfelder und Gesellschaft. Sie kuratierte unter anderem 2017 die internationale Ausstellung „Die ungerahmte Welt. Virtuelle Realität als Medium für das 21. Jahrhundert” im Haus der elektronischen Künste in Basel. Sie ist Mitbegründerin der internationalen Online-Plattform „Radiance“ für die Recherche von künstlerischen Virtual-Reality-Erfahrungen. Gegenwärtig arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit an der Kunstuniversität Linz im Department of Interface Cultures bei Professorin Christa Sommerer. Außerdem ist sie Vorstandsmitglied des Medienkunstvereins Berlin.

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