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Gespräch
Steh auf, Odessa und Charkiw werden bombardiert

Lada Nakoneczna
© Dwutygodnik, Foto (Ausschnitt): Ksenya Kovtanyuk

„Ich hatte nur eine Rolle mit Zeichnungen, einen kleinen Rucksack mit meinen Papieren und meinem Laptop und meinen zweijährigen Sohn dabei“, erzählt die ukrainische Künstlerin, die aus Kiew nach Warschau floh.

Von Lada Nakoneczna

Karol Sienkiewicz: Vor wenigen Tagen bist du gemeinsam mit deinem Sohn Darii aus der Ukraine geflohen. Du bleibst eine Zeit lang in Polen und fährst dann weiter nach Leipzig, wo schon seit Langem eine Ausstellung von dir geplant war.

Lada Nakoneczna: Seit einem Jahr. Ich erhielt ein Stipendium des Museums der bildenden Künste (MdbK) in Leipzig. Ich wollte mir die Sammlung des Museums aus der Perspektive des Sozrealismus, sowohl der DDR als auch der Sowjetunion, ansehen. Leipzig und Kiew sind seit 60 Jahren Partnerstädte. Meine letzte Ausstellung im Nationalen Kunstmuseum der Ukraine (NAMU) in Kiew konzentrierte sich auf sozrealistische Landschaftsbilder. Ich interessiere mich für Landschaftsbilder, weil sie weniger kontrovers erscheinen. Wenn Museen Werke des Sozrealismus aussortieren, weil sie nicht wissen, wie sie sie ausstellen sollen, bleiben die Landschaftsbilder für gewöhnlich übrig, weil sie lediglich als eine Gattung der Malerei und nicht als eine politische Kategorie empfunden werden. Ich wollte meine Studien zu diesem Thema in Leipzig fortsetzen. Außerdem war eine Ausstellung von mir in der Leipziger Galerie Eigen + Art geplant, die mich seit fast zehn Jahren repräsentiert. Ursprünglich wollte ich schon im Dezember fahren, doch dann kam Covid dazwischen, und wir verschoben unsere Abreise auf März.
 

Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass Kiew bombardiert werden könnte. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, meine Abreise nach Deutschland zu beschleunigen.

Lada Nakoneczna



Eigentlich wollte ich gemeinsam mit meinem Mann und meinem Sohn nach Leipzig fahren, wir hatten bereits gepackt und uns um die notwendigen Versicherungen gekümmert. Als Russland seine Truppen an der Grenze zur Ukraine verstärkte, rieten uns einige unserer Freunde dazu, so schnell wie möglich aufzubrechen, doch ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es zu einer Invasion kommen könnte. Ich hielt das Ganze eher für einen Medienkrieg, in dem Putin Angst säte und sein wahres Gesicht zeigte. Als Russland die Unabhängigkeit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk anerkannte, hielt ich das für gut, denn jetzt würden alle sehen, dass die Russen schon seit Langem dort sind. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass Kiew bombardiert werden könnte. Ich war der Meinung, dass Putin seine Truppen, lediglich in den Donbass schicken würde. So wie ich dachten damals viele Ukrainer. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, meine Abreise nach Deutschland zu beschleunigen.


Doch dann begann sich die Situation zu verschlechtern.

Als Präsident Selenskyj den Ausnahmezustand ausrief, bekamen wir Angst, dass die Grenzen geschlossen werden und wir unseren Verpflichtungen in Leipzig nicht nachkommen könnten. Also beschlossen wir, einige Tage früher zu fahren. Doch am Donnerstag rief mich früh am Morgen meine Schwester an und sagte: „Steh auf, Odessa und Charkiw werden bombardiert.“ Also luden wir unser Gepäck in den Kofferraum und machten uns auf den Weg. Sämtliche Straßen in Kiew waren verstopft, es war fast unmöglich zu tanken, so lange Schlangen hatten sich vor den Tankstellen gebildet. Wir brauchten fünf Stunden, um aus Kiew herauszukommen, und dann stellte sich heraus, dass auch die Straße nach Lwiw völlig verstopft war. Wir erreichten Lwiw erst um fünf Uhr morgens am nächsten Tag. Inzwischen war das Kriegsrecht ausgerufen worden, und mein Mann durfte nicht mehr ausreisen.

Wir diskutierten immer noch darüber, was wir tun sollten – ob es nicht besser wäre, in Kiew zu bleiben oder einfach in den Westen der Ukraine zu fahren. Wir kamen zu dem Schluss, dass es in keiner ukrainischen Stadt mehr sicher sei. Dennoch erschien uns Lwiw weniger gefährdet, außerdem liegt es nahe der polnischen Grenze. Ich hatte ständig Sorge um meinen zweijährigen Sohn. Mein Mann und ich dachten darüber nach, gemeinsam in Lwiw zu bleiben, denn wenn ich gemeinsam mit Darii das Land verlassen würde, könnte es sein, dass wir uns nie mehr wiedersehen. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, mich gemeinsam mit meinem Sohn in irgendeinem Schutzraum zu verstecken. Er ist noch so klein, ich brachte es einfach nicht übers Herz.

Das waren schwierige Entscheidungen.

Ich entschloss mich schließlich dazu, die Ukraine zu verlassen. Aber wie sollte ich die Grenze überqueren? Wir hatten zwar ein Auto, aber da mein Mann in der Ukraine zurückblieb, war klar, dass er das Auto dringender benötigte. Das bedeutete, dass Darii und ich die Grenze zu Fuß überqueren mussten. Damals dachten wir noch nicht an den Zug. Der einzige Grenzübergang für Fußgänger befand sich in Medyka. Ich beschloss, mich zunächst allein davon zu überzeugen, wie es dort aussah. Ich musste 25 Kilometer laufen, entlang einer Autoschlange, die sich keinen Meter bewegte. Neben mir gingen Frauen mit Kindern und schwerem Gepäck. Wir wussten nicht, wie weit es noch bis zum Grenzübergang war. Ich brauchte vier Stunden. Am Grenzübergang sahen wir eine große Menge völlig verzweifelter Frauen. Es gab keine Schlange mehr vor dem Grenzübergang, sondern nur noch ein großes Menschenmeer. Ich beschloss, zu meinem Mann zurückzukehren, der am Ende der Autoschlange auf mich wartete. Ich ging gemeinsam mit einer anderen Frau, einer Ukrainerin, die in Deutschland arbeitete und gekommen war, um ihre Tochter abzuholen, die in einem der in der Schlange stehenden Autos auf sie wartete. Wir hatten Glück, dass uns ein Mann in seinem Auto mitnahm, der uns bei dieser Gelegenheit erzählte, dass es ihm selbst gerade gelungen war, seine Frau und seine Tochter in den Zug nach Przemyśl zu setzen. So wie er es erzählte, klang dieser Weg sicher und geradezu komfortabel, also begannen mein Mann und ich, sobald wir am Abend nach Lwiw zurückgekehrt waren, über eine Ausreise mit dem Zug nachzudenken.

Am nächsten Morgen fuhren wir zum Bahnhof, um uns nach Zügen in Richtung Przemyśl zu erkundigen. Wir erfuhren dort lediglich, dass es keine Fahrkarten mehr gab. Es stellte sich jedoch schließlich heraus, dass man überhaupt keine Fahrkarten mehr brauchte – wer es in den Zug schaffte, fuhr einfach mit. Die Bahnsteige waren völlig überfüllt, doch es schien, als ob eine Ausreise auf diesem Weg möglich wäre. In diesem Moment beschloss ich, den Handwagen zurückzulassen. Ich hatte bereits in der Nacht alle meine Sachen umgepackt, um weniger Gepäck zu haben. Als schließlich durchgegeben wurde, dass der Zug nach Przemyśl von einem anderen Bahnsteig abfuhr, liefen die Menschen einfach quer über die Schienen. Doch der Zug, der dort einfuhr, war kein Fernzug, sondern nur ein gewöhnlicher Nahverkehrszug. Alle waren sich unsicher, ob dies der richtige Zug war, vor allem weil auf der anderen Seite des Bahnsteigs noch ein weiterer Zug hielt. Und zwischen diesen beiden Zügen drängten sich Frauen mit Kindern – und Männer, die versuchten, ihnen zu helfen und sich von ihnen zu verabschieden. Schließlich wurde durchgegeben, dass es der Nahverkehrszug war, der in Richtung Przemyśl fuhr. Es war ein relativ kurzer Zug, also stürmten alle in die Waggons und das Gedränge wurde immer schlimmer.
 

Wir brauchten fünf Stunden, um aus Kiew herauszukommen, und erreichten Lwiw erst am nächsten Morgen. Inzwischen war das Kriegsrecht ausgerufen worden, und mein Mann durfte nicht mehr ausreisen.

Lada Nakoneczna




Dein Mann war mit dir auf dem Bahnsteig?

Ja. Wir beschlossen, einen Großteil des Gepäcks zurückzulassen. Zum Glück standen wir in der Nähe der Waggontür, denn im allgemeinen Chaos stolperten alle übereinander, und die, die bereits eingestiegen waren, warfen überflüssiges Gepäck aus dem Zug, um mehr Platz zu schaffen. Ein Polizist nahm meinen Sohn auf den Arm und half mir beim Einsteigen. Ich dachte, ich wäre die Letzte, doch hinter mir zwängte sich noch eine weitere Frau in den Zug, dann schlossen sich die Waggontüren.

Was hattest du bei dir?

Eine Rolle mit Zeichnungen, einen kleinen Rucksack mit meinen Papieren und meinem Laptop und meinen Sohn. Der Zug war so voll, dass man sich nicht bewegen konnte, außerdem waren wir alle in derselben Situation: Frauen mit Kindern. Die ersten zwei Stunden stand ich im Gang und hielt meinen Sohn auf dem Arm. Dann hielt der Zug plötzlich auf freiem Feld, und es ertönte eine Durchsage, dass wir in ungefähr zwei Stunden weiterfahren würden, also gingen wir nach draußen. Ich setzte mich auf die Schienen und wartete. Der Zug stand vier Stunden dort. Darii war auf meinem Arm eingeschlafen, und jemand bot mir einen Sitzplatz an. Und so erreichten wir schließlich die Grenze, wo der Zug wieder ein paar Stunden hielt, weil die ukrainischen Grenzbeamten so lange brauchten, um unsere Pässe zu kontrollieren. Das Schlimmste war, dass wir nicht wussten, wann wir endlich ankommen würden. Insgesamt dauerte die Fahrt von Lwiw nach Przemyśl 22 Stunden. Die meisten von uns hatten nicht genügend zu essen und zu trinken dabei. Ich musste in die Kabine des Lokführers gehen, um meinem Sohn die Windel zu wechseln. Den einen war es zu kalt, den anderen zu warm, viele der Kinder waren erst wenige Wochen alt. Doch es gab auch ein Gefühl der Solidarität. Als sich herausstellte, dass es einer der Frauen nicht gelungen war, nach einem Aufenthalt rechtzeitig wieder einzusteigen, hielten wir einfach den Zug an.

In Przemyśl wurde ich von Freunden empfangen, die davon ausgegangen waren, dass die Fahrt, wie im Fahrplan vorgesehen, drei Stunden dauern würde. Jetzt erhole ich mich ein paar Tage in Polen, und dann fahre ich weiter nach Leipzig. Dort habe ich für einen Monat eine Unterkunft.

Das ist keine lange Perspektive.

Das stimmt.
 

Im allgemeinen Chaos stolperten alle übereinander, und die, die bereits eingestiegen waren, warfen überflüssiges Gepäck aus dem Zug, um mehr Platz zu schaffen.

Lada Nakoneczna



Viele Menschen außerhalb der Ukraine haben sich nicht bewusst gemacht, dass im Osten des Landes weiterhin Krieg herrschte. Doch in deinen Werken war dieser Krieg immer präsent.

Ja, all das, was in den letzten acht Jahren geschehen ist, alles, was Putin getan hat. Doch die Welt ist jedes Mal schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen. Putin ist immer wieder damit durchgekommen. Vor dem Krieg im Donbass waren russische Truppen bereits in Georgien einmarschiert, doch die Welt hatte sich nicht darum gekümmert. Ich habe in vielen meiner Ausstellungen und in vielen meiner Werke über den Krieg erzählt. Vor zwei Jahren zeigte ich im Rahmen der Ausstellung „Images from Abroad“ in der Galerie Eigen + Art in Berlin Landschaftsbilder mit versteckten Hinweisen auf die Invasion, den Krieg, auf Soldaten. Ich wollte überprüfen, was man eigentlich sieht, wenn man mit einem Bild konfrontiert wird. Normalerweise siehst du nur eine schöne Landschaft, doch du weißt nicht, was sich hinter ihr verbirgt, du weißt nicht, was wirklich dort geschieht. Du siehst nur die Oberfläche und schaust nicht tiefer, du weißt zum Beispiel nicht, was sich hinter diesem oder jenem Baum verbirgt. Im Rahmen der Ausstellung hatte ich auch die Gelegenheit, mit vielen Menschen über den Krieg zu sprechen. Viele zweifelten daran, dass es wirklich ein Krieg war. Sie wussten nicht einmal, dass im Donbass immer wieder Menschen ums Leben kamen. Jetzt hat es die Ukraine zurück auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft, und den ukrainischen Künstlern wird erneut vorgeworfen, dass sie diese Situation für sich ausnutzen. Dabei haben wir in den vergangenen acht Jahren den Krieg immer wieder thematisiert.

Die Ukraine wurde alle paar Jahre zu einem heißen Thema, und in diesen Momenten rückten auch die ukrainischen Künstler ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Du hast das selbst als Mitglied der Künstlergruppe R.E.P. erlebt. Ihr wart während der Orangen Revolution im Winter 2004/2005 aktiv, aber auch während des Euromaidans 2014. Auch jetzt werden wahrscheinlich viele Galerien in Europa wieder auf euch aufmerksam. Eure Stimme wird gehört werden.

Ja, aber diese Aufmerksamkeit endete für gewöhnlich in populistischen Ausstellungen, insbesondere nach dem zweiten Maidan. Während des ersten Maidans im Jahr 2004 waren wir noch sehr jung, und es war noch nicht so gefährlich wie 2014. Der erste Maidan war kürzer und vom Enthusiasmus der Bevölkerung getragen – vom Gefühl, dass die Menschen die Kraft hatten, etwas zu bewegen. Unmittelbar nach der Orangen Revolution begannen wir, Projekte zu realisieren, in denen wir die Sprache des öffentlichen Raums entlarvten.
 

Die Ukraine hat es zurück auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft, und den ukrainischen Künstlern wird erneut vorgeworfen, dass sie diese Situation für sich ausnutzen. Dabei haben wir in den vergangenen acht Jahren den Krieg immer wieder thematisiert.

Lada Nakoneczna



Ich hatte den Eindruck, dass sich darin der Geist der Reform äußerte. Wenn die Künstlergruppe R.E.P. sich mit etwas beschäftigte, dann geschah es, um etwas zu verändern. Zum Beispiel, als ihr euch mit der Akademie der Bildenden Künste beschäftigt habt. Ihr wolltet mit dieser Aktion den Charakter von Kunstakademien verändern.

Ja, einfach durch die Entlarvung der Bildsprache und sogar der Körpersprache der Professoren. In einem anderen Projekt haben wir untersucht, wie politische Parteien Farben verwenden. Wir interessierten uns für die öffentliche Symbolsprache. Der zweite Maidan dauerte länger, wir waren weniger damit beschäftigt, Kunst zu produzieren, sondern waren in erster Linie Bürger. Wir blieben zwar Künstler, doch die Kunst war damals nicht das Wichtigste. Wir fühlten uns eher als Beobachter, als Zeugen. Auch unsere Werke waren andere als noch zehn Jahre zuvor, wir versuchten in erster Linie, zu dokumentieren, was um uns herum geschah. Während des zweiten Maidans wurden viele Künstler plötzlich „politisch“ – sie reagierten auf die Bedürfnisse des Westens und schufen oberflächliche, populistische Werke. Sie wurden im Westen bekannt und schon bald wieder vergessen. Die Ukraine wurde ausschließlich durch das Prisma jener großen Ereignisse wahrgenommen. Man konzentrierte sich darauf, zu repräsentieren, anstatt die Prozesse abzubilden, die damals in der Ukraine abliefen. Aus der Perspektive des Westens erschien die ukrainische Kultur fragmentarisch und oberflächlich, und nicht als ein komplexes Gebilde. Das hat dazu geführt, dass Putin heute sagen kann, die Ukraine sei ein Nazi-Staat und die Menschen im Westen überhaupt nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollen. Denn sie wissen nichts über die Ukraine, sondern kennen nur die wenigen revolutionären Momente unserer neuesten Geschichte. Die Kultur verschwindet hinter den Medienbotschaften.

Damit verbindet sich ein gewisser Paternalismus, auch bei uns in Polen: Wir haben die Transformation bereits hinter uns, wir wissen, wie das läuft.

Die Welt betrachtete die Revolutionen in der Ukraine als eine Art Avantgarde-Prozess, wir waren Träger von Veränderungen. Doch gleichzeitig schien in den Medien immer wieder das Verhältnis durch, das du gerade angesprochen hast: Wir kennen das schon alles. Sind wir jetzt also die Avantgarde, oder kennt ihr diese Avantgarde schon längst?
Ich glaube nicht, dass irgendjemand unter den gegenwärtigen Umständen daran denkt, Kunst zu machen. Die Menschen in der Ukraine sterben, wir stehen alle unter Schock. Das ist für uns eine neue, unbekannte Situation. Wir wussten, dass dies irgendwann geschehen kann, doch keiner von uns hat wirklich daran geglaubt. Doch wir haben den Westen immer gewarnt. Und ist dieser paternalistische, allwissende Westen jetzt bereit für einen Krieg in seinem eigenen Haus?
 

Wir haben den Westen immer gewarnt. Und ist dieser paternalistische, allwissende Westen jetzt bereit für einen Krieg in seinem eigenen Haus?

Lada Nakoneczna



Wie geht es den mit dir befreundeten Künstlerinnen und Künstlern?

Die meisten sind in der Ukraine geblieben, einige auch in Kiew. Lesia Khomenko ist mit ihrer Tochter in Iwano-Frankiwsk, Schanna Kadyrowa ist in Kiew, ebenso wie Nikita Kadan, der sich im Keller seiner Galerie versteckt hält und dort eine Ausstellung mit Werken aus seinen Beständen präsentiert. Vova Vorotniov ist in Luzk und hilft beim Transport von Hilfsgütern in die Ukraine.

Auch für die Menschen außerhalb der Ukraine hat sich die Situation im Verlauf der letzten Woche grundlegend verändert, insbesondere hinsichtlich der Beziehungen zu Russland. Das betrifft auch die Kunstszene, die sich plötzlich bewusst wird, welche große Rolle russische Oligarchen mit direkten Beziehungen zu Putin jahrelang auf dem Kunstmarkt gespielt haben. Die ukrainischen Künstler waren schon seit Jahren für diese Beziehungen sensibilisiert. Ihr habt zahlreiche Ausstellungen boykottiert.

Vor acht Jahren, als die russische Duma gerade die Annexion der Krim beschloss, sollte ich zu einer Ausstellung nach Moskau fahren, die vom Garage Museum organisiert wurde – einer gemeinsamen Ausstellung mit Nikita Kadan und Mykola Ridnyi. Als ich in den Nachrichten von diesem Beschluss erfuhr, rief ich sofort die Kuratoren in Moskau an und sagte meine Teilnahme an der Ausstellung ab. Nikita und Mykola taten es ebenso. Die Kuratoren konnten überhaupt nicht verstehen, wie jemand eine Ausstellung in ihrem Museum boykottieren konnte. Wir flogen also nach Moskau, um stattdessen an einer Diskussion teilzunehmen. Wir versuchten, unsere Entscheidung offen und öffentlich zu erklären, doch sie verstanden uns einfach nicht. Dann gab es die Manifesta in Sankt Petersburg, die von vielen Künstlern boykottiert wurde. Wir haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Veranstaltungen boykottiert. Zum Beispiel die Ausstellung „Diversity United“, die im vergangenen Jahr in der Tretjakow-Galerie eröffnet wurde und jetzt in der Kunsthalle Berlin im Flughafen Tempelhof präsentiert wird. Anschließend sollte die Ausstellung auch in Paris gezeigt werden. Auch ich und einige meiner Kolleginnen und Kollegen waren eingeladen worden, an dieser Ausstellung teilzunehmen. Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt von Russland, Deutschland und Frankreich unter der Schirmherrschaft der Präsidenten Putin, Steinmeier und Macron. Wir wussten, dass wir für unseren Boykott der Ausstellung keinen Beifall erhalten würden. Doch die Ausstellung hatte eine politische Dimension, sie sollte Russland als einen normalen Staat zeigen, der offen für Vielfalt ist und in dem niemand verfolgt wird. Doch wie wir alle wissen, hat Russland mit der titelgebenden Vielfalt nur so viel am Hut wie die Tageszeitung Prawda mit der Wahrheit. Die Ausstellung war ein Instrument, das ein bestimmtes Bild von Russland zeichnen sollte: Es sollte einen Staat zeigen, der sich kaum von Deutschland oder Frankreich unterschied. Deshalb lag den Organisatoren auch so sehr daran, ukrainische Künstler zur Teilnahme an der Ausstellung zu bewegen – mit sehr lukrativen Angeboten. Viele bekannte ukrainische Künstler beschlossen dennoch, die Ausstellung zu boykottieren. Und es ist nicht leicht für einen Künstler, eine Einladung zur Teilnahme an einer Ausstellung in so renommierten Institutionen im europäischen Ausland auszuschlagen.
 

Als die russische Duma die Annexion der Krim beschloss, rief ich sofort die Kuratoren in Moskau an. Die Kuratoren konnten überhaupt nicht verstehen, wie jemand eine Ausstellung in ihrem Museum boykottieren konnte.

Lada Nakoneczna



Die Geschehnisse der vergangenen Woche haben die Situation völlig verändert.

Russland hat ständig versucht, in einer Sphäre des Unausgesprochenen zu agieren, um die Menschen über die wirklichen Geschehnisse in Donezk und Luhansk im Unklaren zu lassen. Viele Menschen, die die Situation in der Ukraine nicht kannten, wurden zum Opfer dieser Desinformationskampagne. Jetzt kann niemand mehr Zweifel haben.

Man glaubte lange Zeit, die Kunst werde immer rein, sicher und unabhängig von den politischen Umständen sein. Dass man etwas in Russland verändern könnte, indem man dort ausstellte. Dies waren auch die Argumente der Manifesta-Organisatoren: Dass man durch die Durchführung der Manifesta in Sankt Petersburg – unabhängig von der Annexion der Krim – das Denken der einfachen Menschen in Russland verändern könnte.

Man sagt, dass Künstler mehr sehen, dass sie in der Lage sind, die komplexe Natur der Dinge zu offenbaren, in dem sie unterschiedliche Perspektiven miteinander verbinden. Doch die ukrainischen Künstler haben schon seit Langem erzählt, was wirklich in der Ukraine geschieht. Will man uns also vertrauen oder nicht? Will man uns zuhören oder nicht? Gleichzeitig gibt es Stimmen, die behaupten, dass die Kunst in der Lage ist, einen unmittelbaren Einfluss auf das Denken der Menschen auszuüben. Dass, wenn ich an einer Ausstellung in Russland teilnehme, Russland dadurch zu einem offeneren, toleranteren Land wird. Wahrscheinlich ist es übertrieben zu glauben, dass die Kunst in der Lage ist, die Welt zu verändern. Grundsätzlich kann sie es, jedoch nicht unter diesen Bedingungen – außerdem ist es ein langer und komplizierter Prozess. Im Augenblick ist der Kontext stärker als die Kunst.

Sanktionen sind stärker als die Kunst.
Ja.

Wie kann man die ukrainischen Künstler in der gegenwärtigen Situation am besten unterstützen?

Wir sollten uns auf langfristige Projekte konzentrieren und Blockbuster-Ausstellungen über den Krieg in der Ukraine vermeiden. Wir sollten unser Augenmerk auf den Kontext richten, auf die Umstände, die zu diesem Krieg geführt haben. Man sollte das Geld lieber in Forschungsprojekte und langfristige Maßnahmen investieren, anstatt einfach nur Ausstellungen zu finanzieren.

Aber die Künstler benötigen doch sicherlich auch unmittelbare Unterstützung, direkte Hilfe.

Wir wissen nicht, wie lange dieser Krieg dauern wird. Im Augenblick wissen wir nicht einmal, wer diese Hilfe dringender benötigt – jene, die in der Ukraine geblieben sind, oder jene, die das Land verlassen haben. Ich habe das Gefühl, dass es die ersteren sein werden. Auf sie sollten wir uns konzentrieren, ihnen konkrete Hilfe anbieten und im besten Fall ein System schaffen, das in der Lage ist, unmittelbar auf die sich wandelnden Bedürfnisse zu reagieren. Am Wichtigsten ist es, diesen Krieg und diese humanitäre Katastrophe schnellstmöglich zu beenden, solange es noch Menschen gibt, die Hilfe benötigen, und Menschen, die versuchen, ihnen zu helfen – auch sie könnten schon bald selbst auf Hilfe angewiesen sein.
 

Redaktionelle Kooperation

Das Interview ist im Rahmen der Abteilung UKRAINE des Magazins dwutygodnik.com entstanden. 

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