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Künstlerischer Aktivismus
„Das wichtigste ist das Recht, für sich selbst zu sprechen“

Zwei Frauen knieen auf einem auf dem Boden liegenden bunten Wandteppich und bearbeiten ihn
Mit ihren textilen Kunstwerken gestaltet die Roma-Künstlerin Małgorzata Mirga-Tas den polnischen Pavillon auf der Biennale 2022. | Foto (Detail): Daniel Rumiancew

Die polnische Roma-Künstlerin Małgorzata Mirga-Tas über künstlerischen Aktivismus, die Identität der europäischen Roma-Community, würdevolle Protagonistinnen und den Kampf um Gleichberechtigung.
 

Małgorzata Mirga-Tas ist die erste Roma-Künstlerin in der Geschichte der Biennale Venedig und gestaltete den polnischen Pavillon. Mit ihrer Arbeit „Re-enchanting the World” („Die Welt wieder verzaubernd”) schenkt sie den Roma-Gemeinschaften in ganz Europa einen eigenen Kulturpalast mit großformatigen Stofffresken. Mitte September 2022, fünf Monate nach Eröffnung des Pavillons in Venedig findet Małgorzata Mirga-Tas spät am Abend Zeit für ein Interview. Sie ist dabei, nach Berlin umzuziehen, wo sie Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD sein wird, und war gerade noch einmal drei Tage in Czarna Góra in den südpolnischen Sudeten, unweit der tschechischen Grenze.

Liebe Małgorzata Mirga-Tas, Czarna Góra, der Schwarze Berg – schon der Name klingt zauberhaft. Was ist das für ein Ort, was bedeutet er für Sie?

Das ist vor allem mein Zuhause. Wenn man über die Brücke nach Czarna Góra kommt, ist man gleich in der Roma-Siedlung. Wir leben hier schon über 400 Jahre. Mitten im Wald, in der Natur, in der Nähe der Berge. Früher war das ein kleines, ruhiges Dorf, mittlerweile kommen immer mehr Touristen zum Skifahren. Manchmal ist es richtig überlaufen. Ich lebe hier, habe hier meine ganze Familie. Jetzt ziehe ich zwar nach Berlin, aber ich hoffe, ich komme wieder. Immer, wenn ich hier bin, will ich gar nicht mehr weg.

Im Zusammenhang mit der Beschreibung Ihrer Kunst im Biennale-Pavillon und in der Presse werden Sie als Roma-Künstlerin und -Aktivistin bezeichnet. Sehen Sie sich selbst auch so?

Früher habe ich mich nicht als Aktivistin gesehen. Ich habe pädagogische Kunstprojekte für Kinder in der Siedlung angeboten. Ich wollte etwas Wahrhaftiges machen, meiner Gemeinschaft helfen, das Bild der Roma zu verbessern.
 

Ich will mit meiner Kunst mehr Wertschätzung für Roma aufbauen.

Und ich will auch innerhalb der Community erreichen, dass wir unsere Kultur und Geschichte kennen und uns wertvoll fühlen. Später gab es so einen Boom, plötzlich nannte mich jemand in einem Artikel „Aktivistin”. Und ich dachte: Ja, gut, dann ist das Aktivismus, der wichtig ist für uns. Ich bin Romni, ich lebe in der Roma-Siedlung, ich habe eine Roma-Familie. Ich engagiere mich in der Gesellschaft. Und ich liebe das, was ich mache!

Ihre Protagonist*innen sind reale Personen. Was suchen Sie in den Menschen, die Sie porträtieren?

Ich suche sie nicht direkt, sondern finde die Personen meist zufällig in meiner Umgebung oder in der Geschichte. Ich will sie verewigen, damit sie nicht vergessen werden. Darunter sind nicht nur Figuren, die weithin bekannt sind. Manche von ihnen kennen nur einige unserer Familien in Czarna Góra und den umliegenden Dörfern. Manche Frauen hier tragen so eine besondere Würde in sich. Meiner Meinung nach haben sie ein Recht darauf, dass man sich an sie erinnert.

Im Biennale-Pavillon zeige ich Künstlerinnen, Dichterinnen, Sängerinnen, aber auch zwei meiner Onkel − einer war der erste Roma-Student in Polen und ist heute Dichter, der andere der erste Roma-Geograf Polens. Wir sind überall und kennen uns alle, ob alt oder jung. In jedem Land finden wir solche Persönlichkeiten. Da sind auch meine Freundinnen abgebildet, meine Söhne, mein Mann, meine Oma, meine Schwestern, sogar meine Kuratorin. Denn zu einer Arbeit über uns Roma gehören auch unsere Verbündeten.

Als im Februar Russland die Ukraine überfiel, hielt ich inne. Ich war fast fertig mit der Arbeit am Pavillon. Ein Porträt von einer Auschwitz-Überlebenden aus Czarny Dunajec (ein Dorf ein Dorf in der Nähe von Czarna Góra) konnte ich noch anfertigen. Das war für mich sehr bedeutsam. Danach kamen nur noch Landschaftsbilder. Angesichts der brutalen Bilder aus dem Krieg konnte ich keine Menschen mehr abbilden.
  • Ein bunter Wandteppich mit Menschen und Tierfiguren Foto: Daniel Rumiancew
    Die Protagonist*innen auf den Kunstwerken sind sowohl Figuren, die in der Roma-Gemeinschaft weithin bekannt sind, als auch Menschen aus Mirga-Tas’ engstem Bekanntenkreis.
  • Drei Menschen, die die Wandgemälde im Museum Palazzo Schifanoia betrachten . Foto (Detail): Daniel Rumiancew
    In ihren Bildern greift Mirga-Tas die Kultur und Geschichte der Roma auf.
  • Eine Frau näht bunte Stoffe zusammen Foto (Detail): Daniel Rumiancew
    Das Material stammt von Second-Hand-Kleidungsstücken ihrer Freund*innen und Verwandten.


Welche Rolle spielen die Second-Hand-Stoffe in Ihren Darstellungen?

Das Material in meinen Bildern stammt von Kleidungsstücken meiner Freund*innen und Verwandten. Die Stoffe geben den Bildern eine zusätzliche emotionale Ebene, sie bringen neue Energie mit. Gerade weil sie schon einen Nutzen, ein Leben vor dem Bild hatten. Außerdem ist das ökologisch nachhaltiger. Wir brauchen keine neuen Materialien mehr.

​​​​​​​Der Nähprozess ist eine sinnvolle, handwerkliche, kollektive Arbeit, bei der wir Frauen zusammen sind, viel sprechen und uns austauschen.


Immer, wenn ich in der Roma-Gemeinschaft kreative Näh-Werkstätten veranstalte, entsteht ein wichtiger Raum vor allem für Frauen. Dort können sie sich gegenseitig unterstützen.

Im Pavillon-Katalog sind nicht nur Ihre Arbeiten zu sehen, sondern Gedichte zu lesen. Sie stammen von einem Onkel und einer Sängerin aus Czarna Góra. Welche Rolle spielen für Sie die Sprachen?

Meine erste Muttersprache ist Romani, in ihr träume ich. Ich bin natürlich auch polnische Staatsbürgerin, fühle mich als Romni und Polin. Aber Polnisch ist erst meine zweite Sprache.

Die Gedichte verleihen dem Pavillon noch mehr Magie und Spiritualität. Die Titel meiner Bilder sind auch immer auf Romani. Ich will dieses Erbe erhalten. Außerdem ist es eine wunderschöne Sprache. Und in Romani kann ich mich fast überall unterhalten, in allen Ländern. Es gibt zwar Dialekte, aber verstehen tun wir uns alle.

Sie haben der Roma-Community mit dem Biennale-Pavillon einen eigenen „Fresken-Palast” geschenkt. Die Roma sind die größte ethnische Minderheit Europas. Doch in den meisten europäischen Ländern werden sie marginalisiert bis diskriminiert. Was kann Kunst gegen die Ausgrenzung von Minderheiten tun?

Die Kunst kann verbinden statt zu teilen. Sie fördert Dialog. Sie kann auch andere beeinflussen. Dass eine Romni einen nationalen Biennale-Pavillon gestaltet, zeigt, dass es auch andere Roma-Künstler*innen schaffen können.

Als das Europäische Roma-Institut für Kunst und Kultur 2017 in Berlin öffnete, haben wir erstmals eine Basis bekommen, in der wir Unterstützung finden und uns weiterentwickeln können. Bis dahin spielte sich unsere Kunst nur außerhalb des Diskurses ab, jenseits des Mainstreams. Viele Freundinnen aus anderen ethnischen Minderheiten haben sich mit mir über den Pavillon gefreut. Sie sahen in ihm auch eine Chance für sich selbst.

Der zweite Aspekt ist: Dieser Pavillon ist für meine Gemeinschaft ein wichtiger Schritt dahin, dass wir endlich mit einer eigenen Stimme sprechen. Immer wird für und über uns gesprochen, meistens ohne uns. Es kommt auch vor, dass Nicht-Roma-Künstler unsere Gemeinschaft aus ihrer eigenen Perspektive zeigen, ohne zu erkennen, dass sie uns wieder stigmatisieren. Obwohl sie denken, dass sie uns unterstützen.Jetzt aber zeigen wir unsere eigene Erzählung. Das ist das Wichtigste: das Recht, für sich selbst zu sprechen.

Ihre Kurator*innen betonen in der Online-Führung durch den Pavillon: „Die Roma-Community verbindet Europa.” Was bedeutet das?

Ja, wir Roma leben in jedem Land Europas, aber bräuchten die Staaten nicht unbedingt. Historisch gesehen, sind wir ein sehr pazifistisches Volk. Immer wenn es Krieg gab, gingen wir, um nicht kämpfen zu müssen. Manchmal wurden wir auch gezwungen, zum Beispiel in Rumänien. Mit unserem Pazifismus sind wir ein Beispiel, wie wir friedlich in Europa zusammen leben können.

Uns verbindet zudem, dass wir über Staatsgrenzen hinweg für unsere Rechte und Sichtbarkeit zu kämpfen verstehen.

Auch in Polen gibt es viele Roma-Organisationen. Traurig ist nur, dass trotzdem Diskriminierung und Hass existieren. Ich beobachte das vor allem im Internet.

Zuletzt wurde über Roma-Gruppen berichtet, die aus der Ukraine flohen, als Russland seinen Angriffskrieg gegen das Land begann, aber in den westlichen Nachbarstaaten nicht so offen empfangen wurden wie andere Ukrainer*innen.

Dies ist ein wirklich schwieriges Thema. Niemand will den Roma aus der Ukraine helfen, sie sind Flüchtlinge zweiter Klasse. Roma-Aktivist*innen und Helfende mussten sich schnell organisieren, da die staatlichen Strukturen damit überfordert waren. Auch die Kulturszene war hier beteiligt. Hier sehe ich wieder diese Verbindung zwischen Kunst und Aktivismus: Ich hoffe, dass meine Kunst etwas an dieser schlechten Wahrnehmung und ungerechten Behandlung ändern kann.

Wir alle wollen uns doch als würdevolle Menschen fühlen!

Das Gespräch führte Peggy Lohse.

 

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