Stadtplanung: Die neue Blüte der Urbanisierung
Der Hamburger Bunker, zwischen 1942-1944 im Krieg errichtet, wird nun Naturrefugium. Weiter östlich, in Berlin, sollen ab 2024 alle Flachdächer vollständig begrünt sein. Auch Polen hat spannende Projekte zu nachhaltiger, grüner Architektur. Das ist auch richtig so, „denn wenn wir nicht wären, würde an der Stelle des Gebäudes eine Wiese oder ein Wald wachsen“, sagt Bolesław Stelmach, Architekt und Direktor des Polnischen Nationalen Instituts für Architektur und Städtebau.
Von Magda Roszkowska
Eine Frau sitzt gegen Mittag unter einem Teppich im Warschauer Stadtviertel Sady Żoliborskie. Die Luft, die sie einatmet, ist 20 Prozent sauberer als die auf der anderen Seite der Ulica Broniewskiego. Der Teppich über ihrem Kopf filtert den Feinstaub aus der Luft. An heißen Tagen senkt er die Umgebungstemperatur um bis zu fünf Grad Celsius, und wenn es regnet, speichert er bis zu 150 Liter Wasser. Anstatt die Warschauer Kanalisation zu belasten, belebt der Regen den Teppich, bis er schließlich verdunstet und auf diese Weise die Luftfeuchtigkeit verbessert. 26 Haltestellen in Warschau sind bereits mit solchen Teppichen ausgestattet. Jeder von ihnen besteht aus einer mehrere Zentimeter dicken Substratschicht und ist mit unterschiedlichen Arten von Mauerpfeffer bepflanzt. Ein solcher Pflanzenteppich wird auch als extensive Dachbegrünung bezeichnet. Man muss ihn nicht gießen, schneiden oder düngen, denn Mauerpfeffer ist eine Felspflanze, die auch lang anhaltende Trockenheit und starken Frost überlebt. Im Frühling und Sommer bietet er Lebensraum für Insekten und verbessert so die städtische Biodiversität. Währenddessen fährt die Straßenbahn 22 ein, und unter dem Teppich wird es für kurze Zeit menschenleer.
DAS WASSER IN DEN STÄDTEN SPEICHERN
„2018 untersuchte das polnische Klima- und Umweltministerium mithilfe einer Umfrage[1], welche Wetterphänomene die Polen für die gefährlichsten halten. An erster Stelle nannten die Befragten Stürme, doch bereits an zweiter und dritter Stelle rangierten Überschwemmungen (63%) und Dürreperioden (41%). Diese beiden Phänomene werden infolge des Klimawandels in den kommenden Jahren deutlich zunehmen. Dabei speichert selbst die einfachste extensive Dachbegrünung im Jahresdurchschnitt etwa die Hälfte des Regenwassers. Wenn es heiß wird, gibt sie das gespeicherte Wasser wieder ab und senkt so die Umgebungstemperatur. Auf diese Weise wirkt sie der Entstehung von Hitzeinseln entgegen“, erklärt die Landschaftsarchitektin Izabela Małachowska-Coqui, die für eines der ersten Dachbegrünungsprojekte in Warschau – auf dem Dach des Wissenschaftszentrum Kopernik – verantwortlich zeichnet.
Seit 20 Jahren ist Małachowska-Coqui Mitinhaberin eines Architekturbüros in Berlin, wo sie auch die meisten ihrer Projekte realisiert. Seit fast einem Jahrzehnt stattet sie fast alle ihre Entwürfe mit Gründächern aus, denn Dachbegrünungen sind, wie sie selbst sagt, nicht nur ein ästhetischer Luxus, sondert auch eine hervorragende Möglichkeit, um den städtischen Wasserhaushalt zu verbessern.“
Auch öffentliche Gebäude werden zunehmend begrünt: „Sämtliche neu gebauten Schulen, rund 350 Objekte, werden mit Gründächern ausgestattet“, versichert Dr. Hanna Bornholdt, die Projektleiterin der Hamburger Gründachstrategie. Sie betont, dass in Hamburg jedes Jahr rund 10 000 neue Wohnungen entstehen – und dass in manchen Stadtteilen einfach kein Platz mehr für dringend benötigte Grünflächen ist. Gründächer können eine Lösung für dieses Problem darstellen, indem sie durchschnittlich 60 Prozent des Regenwassers zurückhalten.
In den vergangenen acht Jahren entwickelte sich die Hansestadt zunehmend zu einem grünen Labor, in dem Landschaftsarchitekten, Wissenschaftler und Gesetzgeber gemeinsam Lösungen entwickeln.
„Derzeit werden auf drei Gebäuden der HafenCity Universität Hamburg unterschiedliche Retentionsgründächer getestet, die das Regenwasser nahezu komplett auf der Dachfläche zurückhalten. Außerdem fördert die Stadt auch die Begrünung von Fassaden“, erklärt Bornholdt.
Auch eine Forschungshalle des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY soll im Rahmen eines Pilotprojekts komplett begrünt werden. Dazu wurden an sämtlichen Außenwänden des Gebäudes Rankhilfen angebracht. Insgesamt wurde die Fassaden- und Flachdachfläche der Halle mit rund 25 000 Gräsern, Stauden und Klettergehölzen bepflanzt. In drei Jahren soll das Gebäude vollständig hinter einem grünen Vorhang verschwinden. Die Wissenschaftler werden den Einfluss der Begrünung auf die Wärmeisolierung des Gebäudes, die Wasserrückhaltung und die Biodiversität untersuchen.
„Wir haben bereits mehr als 235 Käferarten auf Hamburger Gründächern gefunden, darunter auch mehrere, die vom Aussterben bedroht sind. Wir untersuchen ständig, wie wir ihnen am besten helfen können“ erklärt Bornholdt.
Ein wichtiger Bestandteil der Hamburger Gründachstrategie ist der Preis für Grüne Bauten der alljährlich von der Hansestadt vergeben wird. Ausgezeichnet wurde in diesem Jahr unter anderem der Stadtgarten Rothenburgsort, der auf einem Parkdeck angelegt wurde. Das Projekt wird von einer gemeinnützigen GmbH zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Menschen in den Arbeitsmarkt betrieben und unter anderem vom JobCenter Hamburg gefördert. Die im Stadtgarten angebauten Salate, Kräuter und Jungpflanzen werden den Anwohnern zum Verkauf angeboten.
Inzwischen ist die Hamburger Gründachstrategie bereits fast neun Jahre alt. Auf die Frage, ob der Senat eine Gründachpflicht für Neubauten durchsetzen sollte, antwortet Hanna Bornholdt ohne zu zögern: „Ja, schauen Sie nur nach München!“
„Wir dürfen uns nicht länger auf die Eigenverantwortung der Menschen verlassen. Der Kampf gegen die Folgen des Klimawandels erfordert nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch einen Wandel im Denken. Wir müssen unsere Lebensweise verändern“, fügt Felix Holzapfel-Herziger hinzu.
Etwa die Hälfte der Dächer in Hamburg sind Flachdächer, nur 5 Prozent von ihnen, also insgesamt rund 205 Hektar, sind begrünt.
HAMBURG IN POLEN
„Unser Planet hat nur begrenzte Ressourcen. Wenn wir ihm nicht zurückgeben, was wir ihm genommen haben, wird das Leben zukünftiger Generationen gefährdet sein“, argumentiert Bolesław Stelmach vom Nationalen Institut für Architektur und Städtebau in Warschau. „Mit jedem Gebäude, das wir errichten, nehmen wir unserem Planeten etwas weg. Und mit jedem Gründach geben wir ihm etwas zurück. Schließlich gäbe es ohne uns dort, wo ein Gebäude entsteht, eine Wiese oder einen Wald“, fügt er hinzu.
Stelmach macht keine leeren Worte. Während in Hamburg an den Entwürfen für die Begrünung des Feldstraßenbunkers gearbeitet wurde, legte er ein 30 Hektar großes intensives Gründach auf einem Einkaufszentrum in Lublin an. Die Dachfläche ist eine genaue Nachbildung des Ökosystems der Czechówka, an deren Stelle das Einkaufszentrum errichtet wurde – der Lubliner Stadtrat hatte diese Maßnahme zur Auflage gemacht. Die Baukosten wurden dadurch wesentlich erhöht: Die auf dem Dach des Einkaufszentrums aufgebrachte Substratschicht ist einen halben Meter hoch, einige der umgepflanzten Bäume waren bereits über zehn Jahre alt und verfügten über ein ausgedehntes Wurzelsystem. Um diese enorme Last zu tragen, wurde eine spezielle Dachkonstruktion aus Stahlbeton errichtet.
Ungefähr zur selben Zeit realisierte die Stadt ein weiteres Projekt des Architekten: das Zentrum der Begegnung der Kulturen. Das Gründach des Gebäudes hatte Stelmach bereits 2004 entworfen. Es verfügt über drei Ebenen: Auf einer Höhe von 15 Metern wurden Obstbäume und Sträucher gepflanzt, auf einer Höhe von 30 Metern befindet sich eine bienenfreundliche Staudenwiese, die von Birnen-, Apfel- und Kirschbäumen gesäumt wird, und auf einer Höhe von 50 Metern wächst Mauerpfeffer.
„Der Klimawandel ist das eine, das andere ist die menschliche Sehnsucht nach grünen Berghängen. Dazu kommt noch der rasante technologische Fortschritt auf dem Gebiet der Dachisolierung, ohne den solche Projekte gar nicht möglich gewesen wären“, erklärt Stelmach.
Lublin ist eine von acht polnischen Städten, die die Hamburger Gründachstrategie zum Vorbild für eigene Projekte genommen haben. Gegenwärtig entsteht in Lublin ein Metropolbahnhof, der ebenfalls mit einem Gründach ausgestattet wird.
Auch in Gdynia bewegt sich etwas: Der Parkplatz vor dem Gebäude der Stadtverwaltung wird derzeit aufgerissen und unter die Erde verlegt. Das Dach der neuen Tiefgarage soll begrünt und an den neu geschaffenen Zentralpark angeschlossen werden. Außerdem wurden bereits vier Schuldächer begrünt, weitere sollen folgen.
„Im vergangenen Jahr haben wir sechs Bewirtschaftungspläne dahingehend ergänzt, dass neu errichtete Gebäude zumindest teilweise mit Gründächern ausgestattet werden müssen. Wir werden diesen Trend fortsetzen“, versichert Katarzyna Gruszecka-Spychała, die Vize-Bürgermeisterin der Stadt, die gemeinsam mit einem Team eine Gründachstrategie für Gdynia formuliert hat. „Wir planen auch eine finanzielle Förderung von Gründächern, aber in der gegenwärtigen Situation können wir uns dies nicht leisten“, fügt sie hinzu.
In Bielsko-Biała gibt es bereits seit Anfang 2022 ein solches Förderprogramm: Intensive Gründächer werden mit bis zu 10 000 Złoty bezuschusst, extensive Gründächer mit 5 000 Złoty. Bisher wurde jedoch erst ein entsprechender Antrag gestellt, der vom Antragsteller schließlich wieder zurückgezogen wurde.
In Kalisz beschloss die Stadtverwaltung, Grundstücksbesitzer, die ihre Gebäude mit Gründächern oder Grünfassaden ausstatten, von der Grundsteuer zu befreien. Bisher nahmen 22 Personen diese Befreiung in Anspruch. Keine von ihnen wohnt in einem Haus mit einem Gründach.
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Angeblich fahren die Sicherheitsmitarbeiter mit dem Aufzug in den siebten Stock, um sich Schnittlauch für ihre belegten Brote und Minze für ihren Tee zu holen. Im Sommer wachsen hier auch Tomaten, Basilikum und sogar Walderdbeeren. Der Stadtgarten befindet sich auf einem Dach des Bürokomplexes Forest in Warschau. Zwischen den Gebäuden wurde eine Tiefgarage angelegt, auf deren Dach über 200 Bäume gepflanzt wurden.
Rund 50 Hektar Dachfläche in Warschau sind begrünt. Der Warschauer Stadtrat erklärt, dass er Anreize zur Dachbegrünung schaffen will, er wisse jedoch noch nicht genau, wie.
[1] Weitere Informationen zu den jährlichen Umfragen des Ministeriums gibt es hier.
Oto Niemcy (DAS ist deutschland)
Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.