Kulturerbe
Ein Besuch in der Museumscloud
Wenn Naturkatastrophen oder Kriege Kulturerbe zerstört haben, war diese Zerstörung bisher endgültig. Doch das muss nicht so bleiben: Wie digitale Technologien Kulturerbe für die Nachwelt bewahren können.
Von Petra Schönhöfer
Was haben die Geburtskirche Jesu Christi in Bethlehem, die Altstadt von Wien und die Handschriftensammlung der Badischen Landesbibliothek gemeinsam? Sie alle sind von Zerfall oder Zerstörung bedrohtes Kulturerbe. Umwelteinflüsse, Kriege und Naturkatastrophen, aber auch illegaler Handel gefährden weltweit einzigartige Kunst- oder Bauwerke und andere bedeutende Zeugnisse menschlicher Kultur. Sie könnten von jetzt auf gleich unwiederbringlich verschwinden.
Bisher wurden in Europa 30 bis 50 Prozent der Kulturerbe-Sammlungen digitalisiert. Bei Landschaften oder Sehenswürdigkeiten wie Altstädten oder Ausgrabungen ist dieser Anteil noch niedriger. Digitalisierung von Kulturgütern – das bedeutet, Kunstwerke in die virtuelle Welt zu übertragen, um sie dort zu erhalten oder zu erforschen. Die digitalen Tools reichen von Wissensspeichern und Datenbanken bis hin zu VR-Simulationen ganzer Ausstellungen oder dreidimensionalen Darstellungen von Bauwerken. Wird ein Kunstwerk zerstört, kann es so virtuell weiterleben.
Digitale Museums-Zwillinge
Die Digitalisierung dient noch weiteren Zwecken. So können Kunstwerke durch technologische Anwendungen zugänglicher gemacht werden. Bei der Vermittlung von Kulturerbe wird deshalb in Deutschland vermehrt auf digitale Konzepte gesetzt, auch wenn das die Museen teils vor erhebliche personelle und technische Herausforderungen stellt. Im Verbundprojekt Museum4punkt0 widmen sich seit 2017 deutschlandweit inzwischen knapp 30 Museen der digitalen Kulturvermittlung: Sie erarbeiten, testen und evaluieren Einsatzmöglichkeiten digitaler Anwendungen, um die Digitalisierung in die Alltagswelt der Museen zu integrieren. So bietet etwa ein digital twin, ein digitaler Zwilling, die Möglichkeit, die Ausstellungsinhalte von Museen online erlebbar zu machen.
Am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, dem größten kulturgeschichtlichen Museum im deutschsprachigen Raum, wurde beispielsweise zusammen mit der Tübinger Firma Acameo eine virtuelle Tour durch sechs Dauerausstellungsbereiche konzipiert: „Musikinstrumente“, „Kleidung ab 1700“, „Möbel und ländlicher Hausrat“, „Bauernstuben“, „bürgerliche Kunst und Kultur aus dem 19. Jahrhundert“ sowie „Gewerbemuseum und Design“. Der Gebäudeteil, der diese Schausammlungen beherbergt, wird demnächst für eine mehrjährige Sanierung geschlossen, die bisherigen Ausstellungen abgebaut und anschließend mit einem neuen Konzept wiedereröffnet. Über die virtuelle Tour bleiben die ursprünglichen Dauerausstellungen auch dann noch online zugänglich und erlebbar, wenn sie nicht mehr als reale Museumsräume existieren.
Der Kunsthistoriker und Geschäftsführer von Acameo, Frank Dürr, erläutert: „Mit einem digitalen Zwilling haben zukunftsorientierte Museen grundlegend einfache und anspruchsvolle Möglichkeiten, virtuelle Erlebnisse ihrer Institution und interessanter Orte in 3D-Web, Virtual Reality und Augmented Reality zu realisieren. Basierend auf Lidar-Scans, Schnittstellen und Medien wird ein spektakulärer Grundstein für kustodiale Sammlungsarbeiten, kuratierte Erlebniswelten und öffentlichkeitswirksame Extended-Reality-Erweiterungen gelegt.“
Mit Otto Lilienthal abheben
Auch vom Deutschen Museum in München, einem der größten Wissenschafts- und Technikmuseen der Welt, existiert ein digitaler Zwilling. „Mit einem Scanner haben wir das Deutsche Museum dreidimensional mittels Lasertechnik vermessen und gleichzeitig durch mehrere 360°-Kameras aufgenommen. Im Anschluss wurden die Daten am Computer zusammengefügt, um ein zentimetergenaues, virtuelles 3D-Modell des Deutschen Museums zu erstellen“, erklärt Maximilian Reimann, Wissenschaftshistoriker im Team von Deutsches Museum Digital. „Abbilder des historischen Deutschen Museums vor der Modernisierung inklusive Highlights wie das Bergwerk sind noch zu sehen, während große Teile des Museums geschlossen sind.“
Im VR-Lab des Deutschen Museums können Besuchende nun mit Hilfe von VR-Brillen Objekte aus dem Deutschen Museum in der virtuellen Realität erleben. „Wie funktioniert die Präzisions-Ventil-Dampfmaschine der Gebrüder Sulzer? Wie startete Otto Lilienthal mit dem Lilienthalgleiter vom Fliegeberg? Sie können Berta Benz beim Zusammenbauen des Patent-Motorwagens helfen oder auf unserem Fahrsimulator die Mondoberfläche mit dem Mondauto erkunden“, beschreibt Reimann.
Ein weiterer wichtiger Zweck der Digitalisierung von Kulturerbe ist, Daten besser verfügbar zu machen. Auf der Website Deutsches Museum Digital werden Bestände aus Objektsammlung, Archiv und Bibliothek vernetzt, um die vielfältigen Beziehungen untereinander sichtbar zu machen. Zudem werden die Bestände des Deutschen Museums für die Forschung und die interessierte Öffentlichkeit weltweit online verfügbar gemacht.
Reimann sieht einen klaren Vorteil darin, dass man so auch Personen erreiche, die das Museum nicht besuchen können. „Internationale Besucher*innen sehen es auf Englisch, und die neue Oberfläche ist barrierearm und für Smartphones optimiert. Bilder und Metadaten stehen zum größten Teil unter einer offenen Lizenz und können unter diesen Bedingungen unkompliziert weiterverwendet werden. Durch offene Standards können Daten gefunden, vernetzt und ausgetauscht werden. So stehen sie der Öffentlichkeit und Forschung weltweit zur Verfügung.“
Museen in der Cloud
Sowohl die Projekte des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg als auch die des Deutschen Museums in München sind Beispiele dafür, wie bei der Digitalisierung von Kulturerbe mehrere Zwecke gleichzeitig verfolgt werden können: Kulturvermittlung, Datenanalyse, Wissenschaftsaustausch – um nur einige zu nennen. „Total Experience“ nennt man solche Strategien, die alle Beteiligten in einem gemeinsamen digitalen Erlebnis zusammenbringen. Für Frank Dürr von Acameo ist dies der Weg der Zukunft, seine Forderungen sind deutlich: „Nun ist endgültig Zeit, Digitalprojekte nur noch mit einer „Total-Experience“-Strategie umzusetzen. So wird gesichert, dass das Budget für nachhaltige und vernetzte Lösungen eingesetzt wird. Diese Perspektive sorgt für eine kollaborative, wissenschaftliche Nutzung der Daten, automatisierte Generierung von Einnahmen, gesteigerte Erlebnisse und den Abbau von Barrieren.“
Eine Strategie mit mehreren Zwecken verfolgt auch die Europäische Union (EU): Sie arbeitet zurzeit an der Errichtung einer digitalen Museumscloud, der European Collaborative Cloud for Cultural Heritage (ECCCH). Diese soll ermöglichen, dass Kulturerbe-Fachleute aus der gesamten EU transdisziplinär zusammenarbeiten und moderne digitale Tools nutzen können. Doch nicht nur Forschung und Archivierung sind das Ziel: Die Cloud soll auch helfen, den illegalen Handel mit gefährdetem Kulturerbe zu bekämpfen, den Zugang zum Kulturerbe zu erleichtern und den Kulturtourismus zu fördern.
„Diese europäische Initiative wird die Zusammenarbeit zwischen Forscher*innen, Kurator*innen und Fachleuten aus Museen erleichtern, um unser kulturelles Erbe zu schützen, einen einfachen Zugang zu kulturellen Inhalten zu ermöglichen und künftigen Generationen die Möglichkeit zu geben, sich an ihnen zu erfreuen“, so die Verantwortliche Mariya Gabriel, EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend. So könne die Cloud auch kleineren Museen und Kultureinrichtungen neue Möglichkeiten bieten, die Digitalisierung voranzutreiben und an gemeinsamen Projekten in einem sicheren und professionellen Umfeld zu arbeiten.
Peter Plaßmeyer, Direktor des Mathematisch-Physikalischen Salons in Dresden, ist einer der Sachverständigen der ECCCH. Er würdigt Europas reichhaltige Kultur, die in Museen, Galerien, Bibliotheken und Archiven bewahrt, studiert und ausgestellt wird: „Diese Institutionen sind nicht nur die eigentlichen Träger der europäischen Identität, sondern auch die Zeugnisse der Widerstandsfähigkeit und der Anpassungsfähigkeit der europäischen Kultur, die den Europäer*innen durch viele qualvolle Zeiten geholfen haben.“ Diese dürften erst recht nicht in einer Zeit zweitrangig werden, die von Kriegen, Pandemien und Naturkatastrophen bestimmt wird.